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Mitgliederschwund der Kirchen - Das ist die Quittung

Kisslers Konter: Immer weniger Menschen in Deutschland gehören den christlichen Kirchen an. Bei den Protestanten ist der Absturz besonders stark. Das ist kein Wunder, denn eine Kirche, die nachbetet, was alle sagen, braucht kein Mensch

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Selbstabschaffung des Protestantismus schreitet voran. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland um 410.000. Der Abschwung, der ein Exodus ist und eine Implosion, verschärft sich stetig. Ein Innehalten ist nicht in Sicht. Wird am Ende jemand da sein, der das Licht ausmacht, wenn alle Messen gelesen sind? Es wäre ein Wunder, derart sprachlos geben sich Luthers traurige Erben. Vor der Gegenwart haben sie kapituliert, die Vergangenheit in Bann gestellt. Doch wer keine Sprache hat, der hat keine Überzeugungen, und wer keine Überzeugungen hat, kann niemanden überzeugen. Die evangelische Kirche dreht sich um sich selbst, im kleiner werdenden Kreis.

Natürlich ist die sprachlose Kirche keine stumme Kirche. Waren Protestanten je wortseliger, plappersüchtiger? Um Brecht zu zitieren: Was einmal Berg war an ihnen, haben sie geschleift, ihr Tal schütteten sie zu und kennen nur bequeme Wege, die hinaus führen über sie. Zum Beispiel den „Pilgerweg für Klimagerechtigkeit“. Er zeigt an, wie es klingt, wenn Kirchen ihre eigene Sprache verloren haben und nachzubeten gezwungen sind, was der Zeitgeist hergibt. Vom 13. September an, erklärt der Bischof im Sprengel Schleswig und Holstein der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, sollen in Vorbereitung der Pariser Weltklimakonferenz „Kraftorte“ und „Schmerzpunkte“ abgewandert werden, beginnend in Flensburg. Die Evangelische Kirche im Rheinland ergänzt das Motto um die moralische Weisung „Klimaschutz ist möglich!“.

Kein Kompass, sondern Echo
 

Und woran erkennt man eine evangelische Kindertagesstätte, einen evangelischen Kindergarten? Klarer Fall: An den „vielen kleinen Klebepunkten an Lichtschaltern, am Drucker und allen elektrischen Geräten, die aufmerksam machen sollen, dass hier Stromverbrauch durch richtiges Verhalten gemindert werden kann“. Und an den vielen kleinen Steppkes, die als „Energiesheriffs“ den „Energiesparkids“ befehlen, „wenn die Heizung an ist, müssen die Fenster und Türen geschlossen sein“. So berichtet es die „Klimaschutzmanagerin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg“. Schließlich soll der CO2-Ausstoß evangelischer Einrichtungen bis 2020 um 25 Prozent gegenüber dem Niveau von 2008 gesenkt werden. Da sind fünfjährige Kommandogeber, die ihre Eltern zu Hause mit Energiesparpässen schurigeln, unbedingt zu begrüßen.

Kraftorte des Umweltschutzes, Schmerzpunkte fossiler Brennstoffe, Energiesheriffs und Energiesparkids: kann man alles machen. Doch weder im Denken noch im Benennen entfernen die Evangelischen sich hier um einen Zentimeter von der Losung der gegenwärtigen Tage. Politiker reden so, Lobbyisten und Werbefachleute und Menschen in Stiftungen und Vereinen und Unternehmen. Wenn auch die Kirchen so reden, liefern sie der Welt nicht, was die Welt nicht zu geben vermag, sondern nur, was die Welt schon ist. Kirchen sind dann keine Verkünder mehr, sondern verstärken das allgemeine weltanschauliche Grundrauschen. Kein Kompass sind sie, sondern Echo, immer nur Echo.

Fasten, um „Ja“ zu sich zu sagen
 

Oder gar auf dem Weg zum spirituellen Reiseunternehmer mit der Lizenz zur Matratzenschonung? Die Häufigkeit, mit der sie ihre eigene Religion für eine Horizonterweiterung halten – so der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg – und dabei die „Menschen in ihren Bezügen“ – so der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe – ernst nehmen wollen, spricht fast dafür. Doch was bedeutet Horizonterweiterung? Dass man mehr sieht. Sollte ein Mensch, der seinen Glauben ernst nimmt, aber nicht das, was er sieht, anders sehen, neu sehen, tiefer sehen? Sein Blick sollte sich schärfen, nicht der Horizont sich bloß erweitern. Menschen, die in Bezügen leben, denken vermutlich auch, Beziehungen seien Leidenschaften.

Wenn Sprachlosigkeit auf eine in Jahrhunderten gebrannte Sprachform trifft, wie sie der Begriff des Fastens darstellt, kann es nur komisch werden: Die evangelische Fastenaktion des Jahres 2015 stand unter dem Motto „Du bist schön! Sieben Wochen ohne Runtermachen“. Die evangelischen Christinnen sollen zur Vorbereitung auf Leiden, Tod und Auferstehung Christi „innehalten, wenn Sie am eigenen Körper mal wieder Abweichungen von der Traumfigur feststellen“. Der Sinn des Fastens, sich eines Genusses zu enthalten, auf eine leibliche Bequemlichkeit zu verzichten, wurde aus Sprachlosigkeit in sein Gegenteil umgemünzt. Nun lautet die Anweisung, sich wohl zu fühlen, Ja zu sich zu sagen, eine gute Zeit im eigenen Körper zu haben: Exakt dasselbe sagen uns die zahllosen Lebensratgeber und Glücksfibeln ganz diesseitiger Provenienz: Wozu dann noch Kirche?

Und wozu eine Kirche, die ausweislich der 31 Themenfelder auf der Einstiegsseite der Evangelischen Kirche in Baden zu wirklich allem eine Meinung, aber zu wenigem eine Überzeugung anzubieten hat? Der badische Landesbischof scheint bereit, in die Bresche zu springen, und benannte unlängst die „eigentlichen Herausforderungen“. Worum könnte es sich handeln? Um die Verdunstung des Glaubens, die Unfähigkeit wachsender Teile der Bevölkerung, zwischen Koran und Bibel, Reformation und Halloween, Ostern und Hogwarts zu unterschieden? Also sprach der badische Landesbischof: Die eigentlichen Herausforderungen seien der „Klimawandel, die ungerechte Verteilung von Reichtum, Bildung und Gesundheit, Menschenrechte“. Derselbe Bischof wendet sich gegen die „Logik des Marktes“ und erklärt in seinem Grußwort zum Ramadan, die „Willkommenskultur“ müsse verstärkt werden: So reden alle, kapitalismuskritisch, sozialtherapeutisch, internationalistisch, così fan tutte. Abermals: Wozu dann noch Kirche?

Ja, sagen die Kirchen in exkulpatorischer Manier, der Kollaps der Mitgliederzahl liege am neuen Verfahren zum Einzug der Kirchensteuer auf Kapitalerträge. Umso schlimmer! Denn das heißt nichts anderes, als dass sie es weder schaffen, die Usancen des Kirchensteuerabzugs ihren Mitgliedern zu erklären, noch den Eindruck zu vermitteln, es sei mit der Kirchenmitgliedschaft irgendein geistiger oder geistlicher Mehrwert verbunden. Dieser ist tatsächlich nur mit der Lupe zu finden, wenn beispielsweise die theologisch anspruchsvolle Frage, ob Eheschließung und gleichgeschlechtliche Verpartnerung kultisch gleichzustellen sind, vom Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland mit der Sprachschablone beantwortet wird, „wenn Werte wie Liebe, Treue und Verantwortung, die für die Ehe prägend sind, in anderen Lebensformen in Serie gehen, begrüßen wir das“. Das Referenzmodell der Ehe in evangelischer Perspektive ist das Fließband.

Gütiges Lächeln bindet nicht
 

Um die Katholiken, die in ökumenischem Gehorsam ebenfalls zum Pilgerweg für Klimagerechtigkeit einladen, steht es kaum besser. Dort sind im Jahr 2014 insgesamt 218.000 Menschen ausgetreten. In welchem Maß es sich bei dem Verlust der 410.000 Protestanten um Austritte handelt, ist einstweilen offen, doch, so die EKD, „klar ist, dass die evangelische Kirche im Jahr 2014 deutlich mehr Mitglieder verloren hat als in den Jahren zuvor“. Da aber hat sie schon konstant mehr Gläubige verabschiedet als die Katholiken, bei denen wiederum 2014 deutlich mehr Menschen die Flucht vor der Kirchensteuerpflicht ergriffen haben als unter dem gescholtenen Benedikt XVI., deutlich mehr als zum Höhepunkt der Missbrauchskrise. Es gibt keinen „Franziskus-Effekt“ in Deutschland, mag ihn der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Reinhard Marx – das M steht mittlerweile für Mainstream – noch so oft beschwören. Gütiges Lächeln bindet nicht. Und es gibt letztlich auch keinen wirklichen Kirchenaustritt, nur den Abschied von der Kirchensteuer. Jeder Getaufte bleibt Christ ein Leben lang. Die Mutter aller Gnadenlosigkeiten wäre eine Kirche, die den Empfang der Sakramente an einen Steuerbescheid knüpfte.

Natürlich, liebe Protestanten, liebe Katholiken da draußen, gibt es immer auch das Gegenteil, Denkende statt Plappernde, Sprache statt Echo, Glaube statt Weltverdopplung. Den katholischen wie evangelischen Ton aber geben jene Frauen und Männer an, die nach dem Motto verfahren: Wenn alle dasselbe gesagt haben, das Eiapopeia von der Gegenwartstauglichkeit, sage ich es gerne noch einmal. Kirchen binden nur mehr ab. Doch Glaube ist kein Mondamin. Solange er als solches daher kommt, sind Abschiede von der Kirchensteuergemeinschaft die verdiente Quittung.

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Norbert Smolka | So., 31. Juli 2016 - 20:20

Sehr geehrter Herr Kissler! Vielen Dank für Ihre erhellenden Worte! Ich bin zwar evangelisch ausgebildeter Kirchenmusiker, doch zieht es mich seit langem in den katholischen Dienst. Zur Zeit befinde ich mich auf entprechender Stellensuche. Ich kann Ihnen nur beipflichten. Die evangelische Kirche wirkt heute ausgebrannt. Die Gottesdienste sind formelhaft erstarrt, der Kirchenbesuch lässt sehr zu wünschen übrig. Irgendwie habe ich das Gefühl, diese Kirche wird einfach nie erwachsen. Sie bleibt in Kinderschuhen stecken. Eine richtige Religion ist sie, jedenfalls aus meiner Sicht, höchstens auf dem Papier, dem Buchstaben nach, ja von mir aus auch im Geist, aber niemals in der Praxis! Da sind die Katholiken klar in der besseren Position. Und hier sehe ich auch eine Ursache für den Mitgliederschwund. Die Protestanten waren immer nur im Abschaffen vieler Bräuche wirklich gut. Es ist ihnen jedoch nie gelungen, etwas Gleichwertiges dagegen zu setzen. Sie langweilen heute nur noch. Schade.

Holger Fischer | Mo., 24. April 2017 - 17:51

Ich kann nachfühlen, was Herr Smolka schreibt. Ich begann 1966 meinen Dienst in einer Evangelischen Landeskirche und brachte Jahrzehnte an Dienst hinter mich. Aber ich bin von meiner eigenen Kirche wegen jener inneren Leere sehr enttäuscht, die aus nahezu jedem Gottesdienst herausschaut. Meine Kollegen beziehen ein wahrhaft ordentliches Gehalt, treten jedoch praktisch-theologisch nicht nur auf der Stelle, sondern bewegen sich rückwärts, wie mir scheint. Was offenbar leider-leider weit verbreitet und beliebt ist, ist das formelhafte Reden,das jedes Gefühl für die Heiligkeit Gottes zerstört. Es nützt auch nicht viel, wenn Kasualien manchmal angemessen gehalten werden (Beerdigungen z.B.). Dies bringt die Menschen nicht wirklich zur Kirche zurück, die sich selbst zu zerstören scheint.