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Regisseur Gondry - „Ich habe das Recht, die Welt anders zu sehen“

Michel Gondry gilt als moderner Surrealist des europäischen Autorenkinos. Sein neuer Film „Der Schaum der Tage“ erzählt in phantastischen Bildern Boris Vians Geschichte über den Tod einer Liebe. Ein Gespräch über Traum und Wirklichkeit

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

So erreichen Sie Sarah Maria Deckert:

Herr Gondry, Sie haben einmal gesagt, dass Sie manchmal das Gefühl haben, aus einem bestimmten Blickwinkel heraus eine ganz neue Realität erschaffen zu können. Ist Ihnen diese eine Realität nicht genug?
Das habe ich gesagt?

Ja.
Daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Vielleicht ist es das Gefühl, das ich habe, wenn ich aus einem Traum erwache. Dieses Gefühl, wenn man im Schlaf etwas ganz tiefgründiges durchlebt hat, ohne wirklich sagen zu können, was genau das war. Dann wache ich auf und denke mir, dass ich dieses Gefühl in ein Bild übersetzen könnte, um herauszufinden, was es mir sagen will. Vielleicht habe ich das damit gemeint. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

Sind Sie ein renitenter Realitätsverweigerer?
Nein. Die Realität ist ja schließlich das, was sie ist. Sehr kompliziert. Ich weigere mich allerdings Geschichten zu erzählen, die so sind wie die Realität. Ich will die Möglichkeit haben, Geschichten zu erzählen, die anders sind. Anders als die Wirklichkeit. Ich weise die Realität also nicht zurück. Vielmehr denke ich, dass ich das Recht habe, die Welt anders zu sehen.

Zu Beginn Ihres Films Science of Sleep sehen wir Stéphane – eine Figur, die ich als Ihr Alter Ego bezeichnen würde –, der den Zuschauern erklärt, wie Träume gemacht werden. Dazu mischt er Zutaten wie Liebe, Beziehungen, Musik und Gedanken zusammen, und heraus kommt ein Traum. Genauso stelle ich mir vor, dass Sie Ihre Filme machen. 
Das ist in der Tat eine gute Analogie. Im Film versuche ich die Realität so weit zu biegen, bis sie in meine Vorstellung passt. Ich experimentiere gerne. Und im Universum des Films ist alles möglich. Hier kann ich meine Träume zum Leben erwecken.

Dabei ist jeder Ihrer Filme ein kleines Experiment. Was versuchen Sie zu beweisen?
Wenn ich eine Idee habe, dann will ich sehen, ob sie auch tatsächlich funktioniert. Ich will Begeisterung!

Ist das die Neugier eines ewig Zwölfjährigen?
Definitiv! Die Begeisterung für eine Sache, die Aufregung, ob es klappt und die Belohnung am Schluss, wenn alles funktioniert. Das ist das Prinzip der Animation. Man zeichnet Bild um Bild, sieht aber erst ganz am Ende, was dabei herauskommt. Wie bei einem kleinen Cartoon, den man in die Ecken eines Notizbuches zeichnet und dann die Seiten durch seine Finger laufen lässt: Und ganz plötzlich hat man Bewegung geschaffen. Ein toller Moment.

Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Eigenschaft, die ein Filmemacher braucht?
Lassen Sie es mich andersherum sagen: Ich mag es nicht, wenn Filmemacher zynisch sind, wenn sie belehrend und von oben herab ihre Mitarbeiter schikanieren. Ich mag es nicht, wenn jemand versucht, mich zu beeindrucken oder meint, irgendetwas beweisen zu müssen. Wenn ich einen Film mache, dann will ich den Leuten am Set das Gefühl geben, dass sie zur Familie gehören. Ich versuche, der Kamera nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Niemand soll denken, dass das jetzt der wichtigste Moment in seinem Leben ist.

Welches Gefühl brauchen Sie, um durch den Tag zu kommen?
Natürlichkeit. Das Gefühl, ich selbst sein zu können. Und dieses Gefühl möchte ich auch anderen Menschen geben. Jeder soll frei sprechen können und dabei nicht denken, dass er auf dem Prüfstand steht. Ich glaube, das ist wichtig, weil man sonst leicht zu manipulieren ist.

Wer ist Ihr beständigster und furchtlosester Kritiker?
Mein Sohn. Er ist 22 Jahre alt. Seit er ein kleines Kind war, wollte er mir immer beweisen, dass er eine eigene Meinung hat. Deshalb hat er auch nie mit Kritik gespart – im Gegenteil. Wenn er dann aber merkt, dass ich kurz vor dem Heulen bin, sagt er was Nettes. Bei der Premiere zu diesem Film meinte er: „Das ist nicht dein bester Film. Aber OK.“

Ihr neuer Film Der Schaum der Tage ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Boris Vian. In einem Satz: Was ist für Sie die Quintessenz?
Es geht um einen Traum, der von der Realität eingeholt wird, um den Tod einer Liebe.

Dieser langsame Tod der Liebe zwischen Chloé, die an einer unheilbaren Krankheit leidet, und Colin, der alles versucht, um sie zu retten, wird im Film durch das sukzessive Ausbleichen der Farben unterstrichen. Nach und nach verlieren die Bilder ihr Leuchten, bis am Schluss alles in tristes Schwarz-Weiß getaucht ist. Ein zunächst subtiler Effekt, der sehr viel Eindruck macht.
Als ich die Geschichte von Boris Vian zum ersten Mal gelesen habe – und damals war ich noch kein Regisseur –, hat es sich für mich tatsächlich so angefühlt, als würden die Farben bluten. Sie verschwinden, wie auch die Liebe, das Leben schwindet.

Sie gelten als moderner Surrealist des europäischen Autorenkinos, als großer Träumer und Visionär. Dabei meinten Sie einmal, wenn jemand sagen würde, Ihre Filme seien surreal, wäre das, als würde man sagen, Ihre Filme seien genial.
Oh ja, das habe ich gesagt.

Also Surrealismus = Genie?
Das ist schwer zu erklären. Surrealismus ist für mich keine Qualität, kein Stil, für den man sich bewusst entscheidet. Entweder man trägt es in sich, oder nicht – und zwar unterbewusst. Es bedeutet, offen dafür zu sein, wie man eine Geschichte erzählt. Anstatt einfach von A nach B zu gehen, wählt man vielleicht lieber einen anderen, weniger offensichtlichen Weg. Man lässt sich überraschen, wie im Traum. Da weiß man auch nie, was als nächstes passiert. Manche Menschen versuchen, das zu erklären. Aber so funktioniert das nicht, mit Psychoanalyse. Träume sind keine Wissenschaft. Für mich sind das alles Scharlatane.

[video:„Der Schaum der Tage“ Trailer]

Sie schimpfen Freud also einen Scharlatan?
Irgendwie schon, ja. Surrealismus bedeutet, die Kontrolle zu verlieren.

Die Anhänger des Surrealismus verstanden ihn als Lebensreformbewegung. Als Möglichkeit, die wirkliche Welt zu überwinden und sie in einem größeren Ganzen zusammenzuführen, durch das eigene Unterbewusstsein. Als Epigone des Surrealismus bilden auch Sie Ihre Traumbilder im Film ab, um herauszufinden, was sie Ihnen möglicherweise sagen wollen. Ist das nicht auch eine Form von Scharlatanismus?
Ich habe mich nie für die beinahe schon politische, ultimative Qualität des Surrealismus begeistern können. Manche Zeitgenossen waren ja sogar der Meinung, man müsse Kommunist sein, um den Surrealismus zu verstehen…

Was ich spannend finde, ist der Gedanke, eine Idee von Realität zu schaffen, die sich rational nicht erklären lässt. So ähnlich, wie Dalí und Bunuel es bei der Arbeit zu „Un Chien Andalou“ gemacht haben. Sie haben sich immer wieder Ideen zugeworfen, denen sie spontan zugestimmt oder die sie spontan abgelehnt haben. Diese Arbeitsweise geht gegen jedes Prinzip des Filmemachens. Es richtet sich gegen den Gedanken, dass man für alles eine Erklärung haben muss. Muss man nicht. Manchmal fühlt sich etwas einfach falsch oder richtig an. Warum sollte ich das erklären müssen? Der Surrealismus hat einen Hang zur Beliebigkeit, ein zufälliges Moment, das von einem verlangt, stets aufmerksam und wach zu bleiben. Ich finde das sehr klug.

Gibt es für Sie den surrealistischen Film?
David Lynch zum Beispiel ist sehr nah an dem, was ich als Surrealismus bezeichnen würde. Seine Filme erscheinen einem wie ein Traum. Man merkt, dass das aus seinem Inneren kommt. Surrealismus muss authentisch sein. Und dieses Gefühl habe ich bei Lynch. Er versucht nicht, uns etwas vorzumachen. Manche Regisseure benehmen sich irgendwie komisch oder seltsam, um eine Art Mythos um sich herum zu kreieren. Das ist aber alles nur Schein.

Bei mir um die Ecke gibt es einen kleinen Laden mit einem Schild vor der Tür. Darauf steht: „When you can dream it, you can do it.“ Würden Sie dem zustimmen?
Ich würde eher sagen: „When you can dream it, you can shoot it.“ Ich weiß nicht, das ist so nach dem Motto „Lebe deinen Traum“. Ich glaube, ich bin nicht so optimistisch.

Herr Gondry, vielen Dank für das Gespräch!

Michel Gondry stammt aus dem französischen Versailles. Nach seinem Studium der angewandten Künste in Paris machte er sich einen Namen als Produzent von Werbe- und Musikvideos. Er arbeitete unter andem mit den Rolling Stones, Björk und Radiohead zusammen. 2005 erhielt er einen Oscar für das beste Originaldrehbuch zum Film „Vergiss mein nicht“. In diesem Jahr verfilmte er das Fantasy-Buch „Der Schaum der Tage“.

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