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„Die Abenteuer des Joel Spazierer” - Schelmentum und Amoral

Michael Köhlmeiers neuer Roman „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ ist eine haarsträubende, herrlich unterhaltsame Räuberpistole

Autoreninfo

Strigl, Daniela

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Was immer sich gegen diesen Roman einwenden ließe, hat Michael Köhlmeier alias Sebastian Lukasser als literarischer Berater des Erzählers schon konzediert: Ein Buch sei „ein mäandernder Fluss“, ein „Krake“.

Dass ein Text sich gegen das Nacherzähltwerden sperrt, gilt geradezu als Gütesiegel literarischer Modernität. „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ sind zwar leicht nachzuerzählen, dafür aber schwer zu begreifen. Alles fängt an zur Zeit des Stalinismus in Ungarn, als Joel Spazierer noch András Fülöp heißt. In einer Budapester Wohnung ereignet sich die Urszene, die den Buben prägt: Weil man die Großmutter und den Großvater, einen prominenten Chirurgen, aufgrund irrwitziger Verdächtigungen vom Fleck weg verhaftet, bleibt der Vierjährige fünf Tage allein. Er erlebt die Alleinherrschaft über die Dinge als wunderbare Selbstermächtigung. Als seine junge Mutter ihn findet, ist er über das Kindsein hinaus.

Schriftsteller Michael Köhlmeier (picture alliance)Weil aber die Seele, wie Meister Eckart sagt, nicht alt wird, bewahrt András sich zeitlebens die Unschuld der Amoral. Später, in der Endzeit der DDR, reüssiert er als Dr. Ernst Thälmann-Koch just in der Rolle des Theologen, respektive „wissenschaftlichen Atheisten“.

Die Frage nach dem Bösen ist der Angelpunkt dieser Geschichte. Ist einer, der lügt, stiehlt, betrügt und mordet, ohne damit sein Gewissen zu belasten, und sich dann wieder für andere ins Zeug legt, ja, aufopfert, ein guter Mensch, ein böser oder gar keiner, wie der Staatsanwalt im Mordprozess behauptet? Sind die Gene schuld? András’ Großmutter etwa hat sich ihren Doktortitel erschummelt, seine Eltern beschaffen sich neue Identitäten.

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Der Held macht Karriere als sehr junger Strichjunge, er wird von einem ehemaligen Folter-Offizier entführt, schlägt sich im Wald durch, erschießt als Einbrecher die Mutter eines Schulkollegen und bekommt zwölf Jahre. Hochstapler mit Stil oder schrecklicher Schelm? Jedenfalls kein Besessener: Das Verbrechen ergibt sich, und der Verbrecher ist etwas anderes als die Summe seiner Taten. Rehabilitiert wird er nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit dem Schriftsteller Lukasser, dem Spiegelbild des Autors.

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer (Hanser)Wie Köhlmeier hier den vielstrapazierten Begriff der „Menschlichkeit“ ausleuchtet bis in dessen finsterste Winkel, wie er dem Mann mit den vielen Namen bei seinen haarsträubenden Erlebnissen in chronologischen Sprüngen auf den Fersen bleibt, das macht das Lesen zu einem Abenteuer. Großartig sind die Passagen über das Schweizer Gefängnis, das Panoptikum der vier Zellengenossen unter dem Kommando des hünenhaften „Vaters“, die Beschreibung der bald dosierten, bald explodierenden Gewalt.

Dass diesem hübschen Burschen mit den exzellenten Manieren jederzeit alles zuzutrauen ist, verleiht der Erzählung eine seltene Freiheit. Ihr Ton wirkt waghalsig und verstörend ungerührt. So erscheint die anarchisch verzweigte Geschichte merkwürdigerweise eher wie aus einem Guss als Köhlmeiers Jahrhundertroman „Abendland“.

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman. Hanser, München 2013. 653 S., 24,90 €

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