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Merkels Auftritt im Ersten - Die Volkspredigerin

Kisslers Konter: Bei Anne Will präsentierte sich die Kanzlerin als Predigerin. Aus dem Interview wurde eine liturgische Handlung. So trat das Ungute am politischen Protestantismus scharf hervor. Eine Sprach- und Stilanalyse

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Der inhaltliche Ertrag von Angela Merkels sonntäglicher Sprechstunde bei Anne Will war bescheiden und ist bekannt: Weiter so, Deutschland! Kein Umsteuern soll es in der vom Volk mehrheitlich abgelehnten Flüchtlings- und Asylpolitik unter dieser Kanzlerin geben. Daraus ziehe jeder seine Schlüsse. Noch aussagekräftiger als das Was ist freilich das Wie des Gesagten. Merkel bediente sich einer religiös verdichteten Sprache, arbeitete mit Pathosformeln und wurde so zur ersten Predigerin des Landes. Das Interview war eine liturgische Handlung. Es beschwor. Es benannte nicht.

Die enorme Häufigkeit, mit der Merkel zur ersten Person Singular griff, ist schon bemerkt worden. Das aufgeblasene Ich ist die öffentliche Letztinstanz, ist das Großsubjekt, dessen Glaubensappell wie in jeder Predigt das Zentrum aller Rede bildet. Immer und immer wieder, etwa jede zehnte Sekunde, muss das Ich sich zur Sprache bringen, damit es nicht verkümmert. Ein launischer König ist dieses Ich; wo es verschwindet, hat es augenblicklich nichts zu melden. Es braucht die Selbstfeier, die Litanei, die Dauerpräsenz. Diese Lektion hat Merkel verinnerlicht.

Europa, Nachhaltigkeit, Glaube
 

Die weiteren Pathosformeln lauten Europa, Nachhaltigkeit und Glaube. Europa ist der Universaljoker, der jeden begrifflichen Einsatz für kleinere Entitäten vom Tisch fegt. Europa entscheidet jede regionale, kommunale, nationale Debatte zu seinen Gunsten, weil es größer ist und mächtiger und weil das Ich groß sein will und machtvoll auch. Europa ist der eine Gott inmitten falscher Götzen. Auf dem laut Merkel „schwierigen Weg“ zur europäischen Lösung – jede Liturgie ist ein Gang – steht ihm die Nachhaltigkeit zur Seite. Die ebenfalls vielfach beschworene Nachhaltigkeit scheidet die richtigen von den falschen Weggabelungen, sie ist der Kompass. „Wirklich und nachhaltig voranbringen“ kann laut Merkel uns nur, was den Test der Zeit besteht; nur das Nachhaltige ist nachhaltig und nur das Nachhaltige wirklich. Abseits rhetorischer Binnensignale an den gewünschten grünen Koalitionspartner verbirgt sich hinter solcher Tautologie ein Eingeständnis: dass der Wirklichkeit nicht beizukommen ist, weshalb sie ins Zwingbett der Begriffe muss. Nachhaltig sei es eben, „Europa zusammen zu halten und Humanität zu zeigen“.

Womit wir bei der Glaubensformel gelandet wären. „Ich glaube, dass wir auf einem Weg sind, und ich kämpfe für diesen Weg“, „ich glaube, dass ich Deutschland diene, (…) wenn ich mich mit vollem Einsatz in diese Sache hineinbringe“, „ich glaube, (…) wir können stärker aus dieser Herausforderung herauskommen, als wir in sie hineingegangen sind“, „es zweifelt ja keiner an dieser Logik, leider glauben so viele nicht dran“: Das sind Bekenntnisformeln. Wer scheitert, scheitert demnach nicht an mangelnder Einsicht, sondern an mangelndem Glauben. Und wer zweifelt, der hat den Sieg nicht verdient. Kaum anders setzen Erweckungsprediger die Sprache ein und sich in Szene. Folgerichtig endete Merkel mit einem Credo in eigener Sache: „Deshalb wünsche ich mir möglichst viele, die mit dran glauben. Dann kann man auch Berge versetzen.“ Das Wünschen aber hat ihr schon geholfen, es hat die Sprache liturgisiert. Nun soll auch Deutschland sich das Richtige wünschen, an das Richtige glauben und der Predigerin folgen.

Kanzel und Kanzler
 

So trat in den 60 Minuten bei Anne Will das Ungute am politischen Protestantismus scharf hervor: die seifige Selbstzufriedenheit, der Bekenntnistrotz, die Unterscheidungsgier, die sich als Abwägung verkleidet. Auf dem Boden eines jeden Protestantismus ruht ein halbaufgeklärter Dualismus, dieses hartnäckige Erbteil Luthers, auch hier. Tief drinnen kämpfen immer Helle gegen Dunkle, die Finsternis gegen das Licht – und um sich selbst zu exorzieren, braucht es draußen, in der Welt voll Teufel, jene von Merkel schwach eingeführte „gewisse Strenge“. Es muss immer schon entschieden sein im Herz des Predigers, bevor er die zur Weltkanzel mutierte Außenwelt betritt, wo die Guten hocken und wo die Verstockten. Wo seinesgleichen sind und wo die anderen. Der Widerwille war deutlich zu hören, als Merkel sich ein „auch ich muss alle Argumente hören“ abrang, um zum blanken Dezisionismus fortzuschreiten. Am Ende ist es konsequent, wenn die ganze Welt zum Sinnwidrigen zusammenschnurrt, erst Deutschland, dann Europa, bald vermutlich das Universum dem reinen Ich nicht genügt. Demnächst dürften wir hören, „dann ist das nicht meine Welt“.

Zahlen stören – der Prediger braucht nicht zu wissen, wie viele Engel auf eine Nadelspitze passen – und ebenso stört die Frage nach dem Warum. Mehr weiß er von der Welt nicht zu sagen, als dass sie defekt ist. Beide Dimensionen kamen darum nicht vor. Der „humanitäre Imperativ“ bedeckt alle Fragen nach dem Warum der grenzenlosen Aufnahme: Deutschland muss unbegrenzt viele Menschen aus unbegrenzt vielen Regionen zu unbegrenzt hohen Kosten aufnehmen, weil das Gewissen praktisch werden soll. Hätte man vorher öfter von ihm gehört, klänge es jetzt nicht so schal aus dem Mund der Kanzlerpredigerin. Kanzel und Kanzler, das verdickt sich nicht nur klanglich.

Gestern Morgen erblickte ich Merkels Credo übrigens auf einem Lastwagen, der durch Berlin fuhr. Auf ihm stand zu lesen: „Wir versetzen Berge.“ Es war der Wagen eines Abbruchunternehmens.

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