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(picture alliance) Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott – und sei es mit Gemüse im Hinterhof

Reinhard Mohr - Meine ganz persönliche Griechenland-Krise

Wenn alles schief geht, wenn Griechenland doch noch eine „ungeordnete Insolvenz“ hinlegt, dann bleibt immer noch das gute alte Subsidiaritätsprinzip: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott! Und sei es mit einem fruchtbaren Gemüsegarten

Ein Gutes hat die schier endlose Griechen-Krise immerhin: Man sieht Costa Cordalis wieder im Fernsehen. Zwar hat der Dschungelkönig von 2004 zur Sache selbst nichts zu sagen, aber stolz berichtet er bei Sandra Maischberger von der Wucht hellenischer Selbstvermehrung. Als der Schlagerstar 1960 nach Deutschland kam, war er, sechzehnjährig,  ganz allein. Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, zählt seine Familie schon fünfzehn Köpfe. 

Das ist es aber auch schon mit den guten Nachrichten. Denn die wundersame Geldvermehrung ist ausgeblieben. Im alptraumhaften Kontinuum der Staatsschulden- und Finanzkrise, gegen die sich die antike Odyssee wie eine kurzweilige Episode der Menschheitsgeschichte ausnimmt, gilt es, sich mit Körper, Geist und Seele gegen den täglichen Abgrund zu stemmen. Die Herausforderung nimmt den ganzen Menschen in Anspruch – von der morgendlichen Zeitungslektüre bis zur spätabendlichen Talkshow, von Streitgesprächen mit Freunden bis zum täglichen Blick aufs schrumpfende Bank-Portfolio, von politisch korrekter Urlaubsplanung – Kreta oder Korsika? – bis zu Mentalitätsstudien im mediterranen Raum samt einer neuen Sicht auf alte deutsche Tugenden.

Am Ende könnte sich gar erweisen, dass die dramatische Krise Europas zur prägenden Erfahrung jener „Generation Gefällt mir“ wird, die die Welt und ihre Probleme bislang überwiegend per Facebook wahrgenommen hat – virtuell, ungreifbar und weithin schmerzlos. Plötzlich ist sie wieder da: Geschichte wird gemacht.

Wohin man auch schaut: Viele europäische Zeitgenossen klagen derzeit über depressive Anwandlungen, abrupte Stimmungswechsel und die dringende Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen, die manch einer noch vor kurzem als neuteutonische Spießeridylle verachtet hätte.

Wer über fünfzig ist, ertappt sich schon mal dabei, die Jahre bis zum offiziellen Renteneintritt zu zählen und sie ins Verhältnis zur Summe aller Anlagen und  Ersparnisse zu setzen. Doch schon die Lektüre des nächsten Artikels im Wirtschaftsteil führt alle Rechnerei ad absurdum: Wenn die kumulierten Haftungsrisiken demnächst die Billionengrenze streifen, ist jede Vorhersage selbst zur näheren Zukunft hinfällig. Kommt der Crash, dann setzt eine unkalkulierbare Vermögensvernichtung ein, und fast alle Bürger werden es am persönlichen Wohlstandsverzicht spüren. Wird er, wie seit Jahren, mit immer neuen „Rettungsschirmen“ und anderen abenteuerlichen Hilfskonstruktionen aus dem Geiste des Kartenhauses hinausgezögert, wird die Rechnung eben ein bisschen später präsentiert.

So oder so –  Europa ist in der Schuldenfalle, aus der es nur mit einer Mischung aus radikalem Realismus, massiven Anstrengungen und einer Solidarität herausfinden könnte, die ihren Namen wirklich verdient. Grenzenloses Gelddrucken allein kann es jedenfalls nicht sein.  

Zu den größten Leiden des krisengeplagten Zeitgenossen gehört freilich auch jene beschönigende Krisenrhetorik der politischen Klasse, die eher der Einschläferung des Publikums dient als der Schärfung seines politischen Bewusstseins. Im Gegenteil: Die sowieso schon komplizierte Angelegenheit wird in einem Nebel politisch korrekter Parolen zur ungreifbaren Schimäre. So wie einst Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger ahnungsvoll beschwörend „China, China!“ rief, heißt es nun allenthalben „Europa, Europa!“

Statt sich einzugestehen, dass die bisherige Konstruktion des Euro gescheitert und nur unter schwersten Verlusten zu reparieren ist, werden Durchhalte-Appelle verbreitet, die schon bei der jeweils nächstmöglichen Konfrontation mit der Wirklichkeit zerschellen.

So ist die europäische Springprozession der Rettungspakete I, II etc. pp. mit ihren geheimnisvoll einschüchternden Abbreviaturen EFSF und ESM zum Sinnbild einer Politik geworden, die man den Bürgern rational eigentlich gar nicht mehr erklären kann. Eher mittelalterliche Alchimie denn aufklärerische Argumentation. Dass diesen Brüsseler Krisenweihrauch auch jene produzieren, die sonst so viel Wert auf Transparenz und Basisdemokratie legen, zeigt, wie ratlos die politische Klasse insgesamt ist. Schon längst wagt sie nicht mehr, schmerzhafte Wahrheiten auszusprechen.

Die Medien übertreffen sich unterdessen in der beinah stündlichen Produktion von Erregungswellen, die am Morgen vom unmittelbar bevorstehenden Untergang künden und mittags schon wieder Aussicht auf alsbaldige Erlösung versprechen. Hin und her geworfen zwischen Bangen und Hoffen lernen wir den semantischen Kern der Apokalypse kennen. Doch die pausenlose Offenbarung führt auf Dauer nicht zur Präzisierung der Gedanken, sondern zu einer unentwegten Sinnesreizung, die am Ende ein stumpfes Gefühlsgemisch aus Wut, Angst und Hilflosigkeit hinterlässt, das bis zur Gleichgültigkeit schrumpfen kann.   

Besonders aufgeweckte Bürger mühen sich derweil darum, das Geheimnis von „Target 2“, kurz: “Trans-European Automated Real-time Gross settlement Express Transfer System” zu entschlüsseln, mit dem die Zahlungsströme zwischen den europäischen Notenbanken und der Europäischen Zentralbank „in Echtzeit“ ausgeglichen werden sollen. So erfährt man nach einigem Studium, dass sich deutsche Forderungen an andere europäische Staaten und Notenbanken jetzt schon auf rund 500 Milliarden Euro belaufen, eine Summe, die beim Zusammenbruch des Eurosystems perdu wäre.

Überhaupt besteht ein Großteil des Krisenalltags in privat organisierter Fortbildung zum Finanzexperten, freilich nur für den Hausgebrauch. Die Folge sind zweierlei Gesprächssituationen mit Freunden und Bekannten. In der Variante I gerät man rasch in die Rolle eines ARD-Börsenfachmanns, der mit frisch angelesenen Zahlen, Daten und Fakten jongliert, während dem weniger informierten Gegenüber kaum mehr bleibt als emotionale Hinweise auf den „Stolz der Griechen“, „unsere Vergangenheit“ und die „Finanzmärkte“, die am Ende irgendwie für alles verantwortlich sind. „Geld ist doch genug da, es ist nur falsch verteilt.“ Irgendwie stimmt das natürlich auch, aber so kommt man nicht weiter.

Bei Gesprächssituation II  stehen sich zwei Schlaumeier auf Augenhöhe gegenüber und versuchen, sich gegenseitig mit den neuesten Erkenntnissen aus den Untiefen der globalen Informationsgesellschaft zu übertrumpfen.

So oder so: Die Gefühle müssen raus. So ist es nur logisch, dass auch die alten Ressentiments im „europäischen Haus“ fröhliche Urständ feiern. Hier die ewigen deutschen Nazis, dort die griechischen Faulenzer, die lieber Toten Rente zahlen als ein funktionierendes Katasteramt aufzubauen.

Dabei war „der Grieche“ doch eben noch unser zweites Wohnzimmer gewesen. Bei „Kostas“ saßen wir in den siebziger und achtziger Jahren viele Abende lang am Tisch, aßen Moussakas, tranken Ouzo und diskutierten unter den niemals endenden Klängen von Mikis Theodorakis über unsere Beziehungskisten und den Kampf gegen die Startbahn West.

Mehr noch: Der Grieche war Bastion und Heimat unserer politischen Träume, Rückzugsgebiet und Aufmarschterrain in einem. Nie hätten wir gedacht, dass wir dreißig Jahre später genau jene rebellisch-mediterrane Lebensleichtigkeit, die wir so herrlich undeutsch fanden, für das Euro-Schuldendesaster mitverantwortlich machen würden. Schlimmer: Plötzlich bekommt der Begriff der „Mentalität“ einen ganz anderen Klang. Was eben noch die beneidenswerte Fähigkeit war, das Leben zu genießen, ist nun die flagrante Unfähigkeit, eine ordentliche Steuerverwaltung aufzubauen.

Ebenso überraschend und zuweilen noch etwas verschämt taucht das Wort von den „deutschen Tugenden“ auf, das man früher allenfalls auf dem grünen Rasen gelten ließ, vor allem dann, wenn Katsche Schwarzenbeck und Berti Vogts, der „Terrier“ aus Mönchengladbach, hinten dicht machten und im Notfall die eingesprungene Blutgrätsche zum Vortrag brachten.

Nun reden selbst gestandene Linke von einst verhöhnten „Sekundärtugenden“ wie Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und doppelter Buchführung. Die Tatsache, dass Deutschland ökonomisch so gut dasteht wie kein anderes europäisches Land, wird selbst von kapitalismuskritischen Zeitgenossen nicht allein mit marxistischen Ableitungstheoremen erklärt. Der relative Erfolg muss auch irgendetwas mit den Leuten im Lande und ihrer Mentalität zu tun haben – nicht zuletzt mit ihrer Arbeitseinstellung.

Doch bevor der innere Stammtisch und die fortgeschrittene Völkerkunde vollends überhand zu nehmen drohen, bricht sich ein letzter Gedanke Bahn.

Wenn alles schief geht, wenn Griechenland doch noch eine „ungeordnete Insolvenz“ hinlegt und Hunderte von Milliarden abgeschrieben werden müssen, wenn die Banken kollabieren und der Euro zerbricht, dann bleibt immer noch das gute alte Subsidiaritätsprinzip: Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott!

Schon vor Monaten habe ich es überprüft: Der Rasen unseres Hinterhofs im Prenzlauer Berg lässt sich im Fall des Falles binnen weniger Stunden in einen fruchtbaren Gemüsegarten umwandeln.

Immerhin wäre er nicht, wie 1945, von Ruinen und Trümmerbergen umgeben.

Und abends liefe „Sandra Maischberger“. Thema: „Europa kaputt, Deutschland am Ende – Hilft jetzt nur noch jäten?“

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