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(picture alliance) Péter Nádas – Alles beginnt irgendwo, und irgendwo bricht es ab

Péter Nádas neuer Roman - Lustvolle Versklavung

Péter Nádas’ neuer Roman „Parallelgeschichten“ ist eine Geschichte der Sinnlichkeit – und der Gewalt

Dieser Text ist eine Kostprobe aus der Frühjahrs-Ausgabe von Literaturen. Literaturen – Das Journal für Bücher – erscheint seit Oktober 2011 als Heft im Heft im Magazin Cicero. Jetzt am Kiosk – oder hier bestellen

Ich möchte nach Budapest fahren und Frau Szemzö treffen. Und das, obwohl die jüdische Psychoanalytikerin Irma Szemzö, wie ich wohl weiß, eine Romanfigur ist und ich ihr, selbst wenn sie ein Mensch aus Fleisch und Blut wäre, heute kaum noch würde begegnen können: Frau Szemzö muss zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren sein und stünde für Begegnungen mutmaßlich nicht mehr zur Verfügung. Über gleich zwei rationale Hindernisse also ist hier mein Wunsch nach konkreter Nähe hinweggesprungen, hat nach Verkopplung des eigenen realen Lebens mit einem fiktiven anderen verlangt – ein Roman, der solche Reflexe auslöst, muss schon eine außergewöhnliche Suggestion ausüben. Péter Nádas’ «Parallelgeschichten» entfalten diesen Bann nachgerade unausweichlich. Was natürlich nicht zuletzt damit zu tun hat, dass, wer sich zu dieser Lektüre entschließt, ihr von vornherein schon einen gehörigen Teil seines Lebens überschreibt: Wie schnell sind 1724 Seiten zu lesen? Nähme man sich jeden Abend vor dem Schlafengehen zehn Seiten vor, man bliebe ein halbes Jahr beschäftigt – und hätte in dieser Zeit keinen anderen Lesestoff angerührt.

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Wobei sich fragt, ob der Marathon-Leser die grandiose Konstruktion dieses Kompendiums aus Menschen-, Körper-, Gefühls- und Geschichts-Geschichten überhaupt wahrnehmen kann, ob dieses Buch nicht eigentlich auf einen (langen) Sitz gelesen werden muss. Und wird jemand in der lustvollen Versklavung durch den Autor auch dann bis zum Ende aushalten, wenn ihm kein Trost, kein Glücken, keine Lösung, ja, nicht einmal das schlüssige Enden einer der vielen an feinsten Fäden zusammen- und aneinander vorbeigeführten Geschichten zuteil wird? Entwicklungsverläufe enden in den «Parallelgeschichten» nur, weil Nádas sie an einem bestimmten Punkt einfach nicht weiter erzählt. Alles beginnt irgendwo, und irgendwo bricht es ab: So ist das. Der Leser bleibt mit sich allein und sieht sich am Ende selbst in einem Meer von Zeit, Personen und Geschichten treiben, eine mikroskopische Erscheinung inmitten unzähliger anderer. Ein Zustand quasi-natürlicher Kontemplation, ein Gefühl tiefer Ruhe bei gleichzeitigem Wissen um das eigene Ausgeliefertsein, gegen das zu opponieren jeglicher Wille gelöscht scheint. Und doch ist das Ergebnis dieser Lektüre nicht Resignation, sondern: Hingegebenheit.

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Und davon handelt das Buch: Ein Toter wird von einem jungen Jogger im Winter des Jahres 1990 im Berliner Tiergarten gefunden; später folgen wir in knappen Schnitten dem Lebensweg des jungen Mannes bis in die niederrheinische Landschaft, in seine Familie hinein, der Großvater agiert bei Kriegsende als mordender KZ-Wächter. Eine Familie in Budapest wiederum bereitet sich am 15. März 1961, dem sturmdurchtobten Nationalfeiertag fünf Jahre nach der brutalen Niederschlagung des 1956er Aufstands, auf den Tod ihres dementen Patriarchen, des «alten Faschisten» und notorischen Verräters Professor Lehr, vor. Dessen Frau Erna ist Jüdin – ihre Geschichte wird bis zurück zum Architekten-Großvater im 19. Jahrhundert angedeutet –?, ihre Tochter wurde von den Nazis verschleppt und ist umgekommen. Ihr Sohn Ágost dagegen sitzt am Nationalfeiertag mit zwei Jugendfreunden im Lukacs-Bad, eine körperlich innige Szene, und doch wird auch hier ein tödlicher Verrat beschlossen. Krísztof, der verwaiste Neffe von Erna Lehr, steht derweil am Fenster. Er hat sich in eine schöne junge Frau im Café gegenüber verliebt, dabei denkt er zurück an den Sommer, als er sein schwules Coming-out in einem vor Körpersäften brodelnden Pissoir hatte. Sein Cousin verbrachte derweil vier endlose Tage in einer Dauerkopulation mit Gyöngyver, einem vom Leben wüst herumgestoßenen Findelkind, das inzwischen als Erzieherin arbeitet und eine Gesangsausbildung macht – ihre Lebensspur führt zurück aufs Land, in Szenerien von Stumpfsinn, Hass und Gewalt.

Währenddessen empfängt in einer luxuriösen Wohnung nahe der Donau die «rote Gräfin» Mária Szápary drei frühere Schulfreundinnen wie jeden Abend zum Bridge und muss ihre seit einem Hirnschlag vor dreißig Jahren nahezu sprach- und begriffslos an den Rollstuhl gefesselte Geliebte versorgen. Hier auch treffen wir auf Frau Szemzö, die zuvor die Liebesszene von Gyöngyver und Ágost beobachtete. Einst ein angesehenes Mitglied der besseren Budapester Gesellschaft, hat Irma Szemzö das Konzentrationslager überlebt, ihre Zwillinge wurden dort ermordet. Vom sozialistischen Staat enteignet, darf sie ihren Beruf nicht mehr ausüben, was sie aber ohnedies nicht mehr könnte: Es gibt keine Erinnerung, aber auch kein Vergessen, in dieser Feststellung fasst sich Frau Szemzös Lebenserfahrung zusammen – die ihr die ­Arbeitsgrundlage als Analytikerin entzieht.

Dr. Szemzö schließlich schafft auch die Verknüpfung zum letzten zentralen Figuren-Paar: Der von der Bauhaus-Ästhetik wie von seinem künstlerischen Möbelbauer-Handwerk besessene junge Architekt Alajos Madzar aus dem Donaustädtchen Mohács baute für das Arzt-Ehepaar einst eine Villa und richtete Irma die Praxis ein. Fast wäre es zu einer Affäre zwischen beiden gekommen: Ihre Sinne und Körper antworten aufeinander, in ihrem nach Klarheit und Abstraktion fiebernden Denken begreifen sie einander blind. Doch bleibt der Architekt auch der von Liebe und Abwehr geprägten Beziehung zu seinem Kindheitsfreund, dem Adligen László Bellardi, verhaftet – dieser, ein später wegen Hochverrats am sozialistischen Staat verurteilter Zuchthäusler, wird am 15. März 1961 als Taxifahrer Erna Démen-Lehr und Gyöngyver zum sterbenden Professor ins Krankenhaus chauffieren.

So ungefähr geht das vor sich, zahllose Randgeschichten einmal ausgeklammert. Unendlich scheinen die Verästelungen, in der Zeit greifen sie einmal voraus, dann weit zurück, alles ist dabei mit allem hauchfein verbunden, selbst das rassebiologische Institut im Berlin der späten dreißiger Jahre und ein der Rasseforschung gewidmetes Internat im Erzgebirge stehen noch in Verbindung zu den Hauptfiguren. Alle aber leiten sie sich ab von der gedanklichen Hauptschlagader dieses Romans: einer unendlichen Geschichte der Gewalt, die von Schädelstätten aus der Vorzeit bis ins konkrete, sinnliche Leben des einzelnen Menschen der Gegenwart reicht – dessen Körper letztlich nichts mehr ist als ein historisches Schlachtfeld, in das sich die Handlungen und Erfahrungen früherer Generationen eingegraben haben: Ballungen gewaltsamen, flammenden Begehrens, von Willkür, Lust und Leid. Konsequenterweise lautet das zweite Credo der «Parallelgeschichten» nach Irma Szemzös Lehrsatz über das Erinnern und Vergessen: «Liebe ist Schmerz.»

Und doch ist nicht Hoffnungslosigkeit das Gefühl, mit dem dies enzyklopädische Werk über die Geschichte der Gefühle den Leser entlässt, sondern: tiefes Mitempfinden. Angeschaut wird alles gleichsam mit den weither blickenden Augen der Analytikerin: mit dem Wissen um die Vergeblichkeit allen Hoffens auf Glück, jedoch voller Sympathie und Bewunderung für die Einrichtung des Menschen, die ihn ­gegen alles Wissen immer erneut sich dem Strudel der Empfindungen überantworten, seinem Begehren nachgeben lässt. Denn alles ist hier Sehen, Riechen, Tasten, Hören, Schmecken. Jegliche Bewegung nimmt ihren Ausgang von Sinnesreizen und wird davon weitergetragen, selbst die Erinnerung geht auf in übermächtigen, vor Erwartung zitternden Wahrnehmungen – fast ist es, als erlerne der Leser die eigenen Gefühle noch einmal neu, als gehe er durch ­eine Schule des Empfindens. Wenn das Buch endet, genügt ein Schattenspiel von Blättern, die an einem frühen, sonnigen Morgen auf dem Land der Wind bewegt: Ahnung einer neuen Katastrophe.

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