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Literatur - Neukölln, aufregendster Ort der Republik

Der Journalist Ramon Schack, seit zwei Jahren Wahlneuköllner, antwortet Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky mit seinem Buch „Neukölln ist nirgendwo“ und zeichnet mit unterhaltsamen Anekdoten das Bild eines sozialen Brennpunkts im Wandel – ein Spaziergang durch den „aufregendsten Ort der Republik“

Autoreninfo

Julian Graeber hat Sportwissenschaft und Italienisch in Berlin und Perugia studiert.

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„Neukölln heute, das ist der aufregendste Ort der Republik. Ein explosiver und stimulierender demographischer Mix aus Schwaben und Salafisten, Hipstern und Hartz-4-Empfängern, Proleten und Philosophiestudenten, Malochern und Modedesignern“, beschreibt der Journalist Ramon Schack seine Wahlheimat im Prolog von „Neukölln ist nirgendwo – Nachrichten aus Buschkowskys Bezirk“. Ob der skandalumwitterte Bezirk im Südosten Berlins tatsächlich der aufregendste Ort Deutschlands ist, sei mal dahingestellt. Schack gelingt es in seinem Buch jedoch zielsicher, die großen Veränderungen und Gegensätze zwischen Tempelhofer Feld und Maybachufer, Sonnenallee und Hasenheide einzufangen und in Form kurzweiliger Anekdoten zu veranschaulichen.

Dass dabei immer wieder der Bezug zu Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky aufgebaut wird, wirkt gelegentlich etwas zu bemüht, ist angesichts Buschkowskys Bedeutung für die Außendarstellung des Multi-Kulti-Bezirks aber nicht überraschend. Nicht zuletzt durch seinen Bestseller „Neukölln ist überall“ hat Buschkowsky, der gefühlt in jeder dritten Polit-Talkshow zu gescheiterter Integration zu sehen ist, das Image Neuköllns als sozialer Brennpunkt weiter verfestigt, wenn das nach dem Skandal um die Rütli-Schule 2006 überhaupt noch möglich war.

Schack spielt über die gesamten 174 Seiten mit diesem Image. Von seiner ersten Begegnung mit dem Stadtteil, vom dem es – damals im Jahre 2003 – als sicher galt, dass er nichts weiter sei als ein „Schandfleck“, unternimmt der Autor eine Reise durch einen im Wandel befindlichen Bezirk. Teils durch eigene Impressionen, teils durch Erzählungen der Beteiligten wird die einzigartige soziale Mischung Neuköllns deutlich. Fast schon zu deutlich, denn manche Kapitel klingen so stereotyp, dass es schwer fällt, sie für voll zu nehmen.

So beschwert sich die als „Yuppi-Schlampe“ beschimpfte Münchner Studentin Josephine über den Sozialneid, versteht nicht, warum sich Hartz-4-Empfänger über die steigenden Mieten aufregen und ist froh, dass in ihrem Hausflur im „heruntergekommenen“ Kiez eine Überwachungskamera angebracht ist. Oder die polnische Putzfrau Anka, die von einem wohlhabenden Lehrerehepaar gefeuert wird, weil sie von ihrem 8-Euro-Stundenlohn keine veganen Putzmittel kaufen will. Abschnitte wie diese sind so absurd, dass man anfängt, am gesunden Menschenverstand der Beteiligten zu zweifeln, sind jedoch auch ein Teil dieses schwer definierbaren sozialen Gebildes, das in den letzten Jahren viele junge Leute mit niedrigen Mieten gelockt hat.

Der Wandel lässt sich besonders im Norden Neuköllns fast in jeder Straße sehen, hören und fühlen. War die Gastronomieszene vor zehn Jahren noch geprägt von Dönerläden, Leerstand und alteingesessenen Eckkneipen, „aus denen ein Aroma von Sauerkraut und alten Socken strömt“, ziehen die heutigen „Nachtschwärmer von Bar zu Bodega“. „Das Sprachengewirr ist so babylonisch wie die Menschen unterschiedlich“ und die Zeiten, in denen fast nur Türkisch und Arabisch zu hören war, leben nur noch in langsam verblassenden Erinnerungen.

Apropos Sprache: Durchaus unterhaltsam sind die immer wieder eingestreuten Dialoge zwischen Schacks Nachbarinnen Frau W., Mitglied der bedrohten Spezies der gebürtigen Neuköllner, und der Musikerin Chantal. Berliner Schnauze gegen in die Jahre gekommenen Freigeist, da kann es schon mal krachen: „Chantal (sie sprach den Namen ‚Schantale‘ aus), ick habe Sie jar nicht erkannt. Unjeschminkt schaun Sie ja janz anders aus, mit den Tränensäcken, fast wie Derricks Tochter ...“

Insgesamt bietet „Neukölln ist nirgendwo“ kurzweilige Unterhaltung, vor allem für Kenner des Bezirks, die an einigen Stellen wissend schmunzeln werden. Bleibt nur noch die Frage zu klären, wo Neukölln denn nun wirklich ist? Überall oder nirgendwo? Wahrscheinlich weder noch. Neukölln liegt ganz einfach zwischen Tempelhofer Feld und Maybachufer, Sonnenallee und Hasenheide. Wo Türken auf Hipster treffen, Spanier am Landwehrkanal ihren vino tinto trinken, wo aus den Eckkneipen immer noch dichte Rauchschwaden kommen und Heinz Buschkowsky auch in vielen Jahren noch im Rathaus residiert.

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Neukölln ist nirgendwo – Nachrichten aus Buschkowskys Bezirk
Verlag 3.0 Zsolt Majsai
14,50 Euro
Erscheinungsdatum 28. Juni


 

 

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