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Literarische Systemkritik - Das Gespenst des Kapitalismus

Zwei legendäre Romane aus der Gründerzeit der Systemkritik: Upton Sinclairs «Öl!», «Das goldene Kalb» von Ilf/Petrow und das liebe Geld 

Autoreninfo

Person, Jutta

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Wenn Gespenster demonstrieren könnten, würden sie wohl gegen die großen K’s auf die Straße gehen: gegen Kapitalismus und Kommunismus, vielleicht auch gegen Abschiebung, Altersarmut und die ungleiche Verteilung der Arbeit. Das Gespenst des Kommunismus, das Marx in Europa umgehen ließ, wurde nämlich längst schon ersetzt durch ein jüngeres, effizienteres Phantasma, das Gespenst des Kapitalismus, oder kurz «Das Gespenst des Kapitals», wie der Medientheoretiker Joseph Vogl in seinem gleichnamigen Essay erklärt. Finanzkrise, Börsencrash, Bankenskandale und die dazugehörigen Protestbewegungen haben die übersichtlichen ideologischen Gebäude aus der Zeit des Kalten Krieges zum Implodieren gebracht. Wo sich früher Kommunismus und Kapitalismus gegenüberstanden, trifft man heute auf sehr viel komplexere Verhältnisse in einem einzigen System, das keine Grenzen mehr kennt. Wer eine Zeitung aufschlägt, eine Buchhandlung betritt oder auch nur auf eine besprühte Wand starrt, landet bei Gespenstern, die keine klaren Gegner mehr haben.

Vielleicht hilft es, das Genre zu wechseln und einige Zeitstufen zurückzuschalten zu den Urszenen der Systemkritik. Der Zufall will es, dass fast zeitgleich zwei Neuausgaben von legendären Klassikern erscheinen, die exemplarisch ihr eigenes politisches System auseinandernehmen, wenn auch mit völlig unterschiedlichen literarischen Mitteln. Upton Sinclairs Roman «Öl!» erschien 1927 in den USA; «Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million» des sowjetischen Satiriker-Duos Ilja Ilf und Jewgeni Petrow stammt aus dem Jahr 1931 und wurde jetzt erstmals in einer kompletten Ausgabe veröffentlicht. Während sich die Satiriker Ilf und Petrow mit einer Gaunergeschichte über den Sowjet-Sozialismus lustig machen, legt Sinclairs «Öl!» die zerstörerische Mechanik des amerikanischen US-Kapitalismus frei.
Upton Sinclair kleidet sein 750 Seiten schweres Öl-Epos in eine Vater-Sohn-Geschichte, die zwischen 1912 und 1923 spielt. Anfangs sehen wir eine große, wuchtige Gestalt und eine kleine, spirrlige, die im Automobil fröhlich durch die Weiten Amerikas rasen. Der Vater, J. Arnold «Dad» Ross, ist ein typischer Selfmademan, ein ehemaliger Droschkenkutscher, Vollblutkapitalist und Ölmagnat. Aber in seinem Sohn Bunny wächst schon der dialektische Umschlag heran. Bunny ist ein zarter Träumer, Freund aller Ölarbeiter und künftiger Sozialistensympathisant. Weil er von Kindesbeinen an sozusagen im Öl schwimmt, muss er um nichts kämpfen und kann sich all die universellen Fragen stellen, die sein cleverer Dad beiseite schiebt. Warum es Arm und Reich gibt, zum Beispiel. «Geschäft sei Geschäft und kein Fünfuhrtee», kontert der Vater, «das Leben war nun mal so.»

Bei einem Treffen von armen Provinzlern, die ihr Land möglichst teuer an die Ölgesellschaften verkaufen wollen – und dabei zu egoistischen Furien werden –, lernt Bunny den jungen Paul kennen, einen Farmersohn aus einer Pfingstlerfamilie, der auf den südkalifornischen Ölfeldern des Ross-Imperiums zum stolzen Arbeiter-Intellektuellen heranreift. Dieser Paul imponiert Bunny gewaltig, die beiden werden über die Klassenschranken hinweg Freunde. Am Ende des Ersten Weltkriegs muss Paul als Soldat die Interessen amerikanischer Bankiers in Sibirien verteidigen, Bunny dagegen drückt sich davor, ins Ölgeschäft einzusteigen. Er besucht die Universität und wird dort zum «roten Millionär» und arglos-gutherzigen Philanthropen, wie der halb spöttische, halb sympathisierende Erzähler vermerkt.

Gerade in den unmittelbar politischen Passagen – etwa wenn Paul die Bolschewiken verteidigt und sie dabei zu höheren Wesen stilisiert –klingt das ziemlich reißbretthaft und propagandistisch, manchmal sogar nach Arbeiterliteraturkitsch. Aber Sinclair wäre kein Weltautor mit Millionenauflagen geworden, wenn er bloß stimmungsvolle Impressionen von Ölarbeitern mit rauen, ehrlichen Händen verfasst hätte. «Öl!» ist ein großflächiges Sittengemälde, ein wunderbarer Ölschinken im besten Sinne, weil es hier stilistisch, zeitgeschichtlich und Amerika-typologisch so viel zu entdecken gibt: Neben dem breiten Slang von «Dad» Ross (von der Übersetzerin Andrea Ott in schönstes Rumpeldeutsch verwandelt) gibt es linke Studentinnen mit Brille und Überzeugung, ludrige Hollywood-Diven, korrupte Provinzbeamte und erleuchtete Prediger.

Der wandelbare Erzähler kann schlagfertig oder sarkastisch klingen, er kann sich mimetisch an den Enthusiasmus eines ewig kleinen Jungen anschmiegen und angeekelt von Ölbaronen berichten, die Regierungsämter einfach kaufen. Was tatsächlich geschehen ist, denn «Öl!» ist nicht zuletzt ein akribisch recherchierter Reportageroman, der von technischem Vokabular der Ölproduktion ebenso strotzt wie von den Polit-Skandalen vor der Großen Depression. Vor allem aber erfasst Sinclair die Feinstruktur der ur-amerikanischen Psyche. Am Horizont lässt der Starautor, geschätzt von Brecht wie von Canetti, eine brüderliche Welt aufschimmern, aber noch stärker geißelt er die Philosophie des Geldes. Seine mit Ausrufezeichen gespickten Sätze stecken die Grauzone ab, in der das naive Ärmelhochkremplertum in die Brutalität des Eroberers übergeht, Verschmitztheit in Verschlagenheit, Geschäftssinn in gnadenlosen Egoismus. Wegen dieser psychologischen Umschlagpunkte ist «Öl!» auch heute noch mitreißend. Wie viel Erde, Öl, Geld oder Geschäft der Mensch denn nun brauche, ist eine Tolstoi-Frage, die der Sozialist Sinclair klugerweise unbeantwortet lässt.

Zumindest in der Geldfrage sind die Satiriker Ilja Ilf und Jewgeni Petrow sehr viel präziser. Der Mensch braucht eine Million. Und er braucht ein Geschäftsklima, in dem alles von Sinclair Gegeißelte möglich ist, Luxus und Lotterleben, Lug und Trug – vor allem, wenn es um Ostap Bender geht, den Chefgauner und Helden des Kultromans «Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million». Bender kannten die hingerissenen Leser bereits aus dem Roman «Zwölf Stühle» von 1928, auch eine Gaunergeschichte, in der die Hauptfiguren den Juwelen einer Adligen hinterherhecheln. «Das Goldene Kalb» dreht sich ebenfalls ums große Geld; diesmal allerdings macht man Jagd auf einen im Sowjetstaat versteckten Millionär, der als kleiner Angestellter ein spießiges Undercover-Dasein fristet.

Dass diese Satiren überhaupt veröffentlicht werden konnten, scheint zunächst verblüffend – aber sie entstanden während der noch recht durchlässigen «Neuen Ökonomischen Politik» der zwanziger Jahre, jener NÖP, die von Ilf und Petrow ziemlich deutlich veräppelt wird. Noch 1935 reisten sie sogar durch die USA – während daheim die erste stalinistische Säuberungswelle anrollte. Ihre Reisereportage «Das eingeschossige Amerika» erschien in der Prawda; «eingeschossig» hieß es, weil es ihnen nicht um die Wolkenkratzer ging, sondern um das Amerika der kleinen Leute. Und das kommt hier nicht mal schlecht weg (siehe «Literaturen» Nr. 101, Mai/Juni 2011).

Auch im «Goldenen Kalb» gilt Ilfs und Petrows Sympathie bei aller Satire den kleinen Leuten, die sich, in welcher System-Maschine auch immer, irgendwie durchmogeln müssen. Die Geschichte beginnt damit, dass Ostap Bender – der Kleinkriminelle, der so gern ein Gentleman-Betrüger wäre – eine Truppe von abgerissenen Gesinnungsgenossen um sich schart. In einem verrosteten Automobil, das auf den Namen «Antilope Gnu» getauft und grün angestrichen wird, fahren sie nach Tschernomorsk (eigentlich: Odessa), um dem dort inkognito lebenden Buchhalter Korejko seine Million abzujagen. Ganz am Ende sieht man Bender mit seiner Million auf einem Kamel durch die Wüste ziehen und sowjetische Musterstädte besuchen, immer auf der Suche nach ein bisschen kapitalistischer Zerstreuung, die ihm aber niemand gönnt. Er will nach Rio de Janeiro auswandern, wird von rumänischen Grenzern gestoppt und wankt beraubt ans Sowjetufer zurück.

Dazwischen aber liegt eine chaplinesk übergeschnappte, verjuxt surreale und Gogol’sch groteske Tour sovietique: Mit der «Antilope» fährt das Diebeskollektiv vor einem Automobilrennen her und betrügt in jedem Provinznest die wartende Festgesellschaft. In Tschernomorsk gründen die Lumpen die «Filiale zum Ankauf von Hörnern und Hufen» – um im Schutz einer legalen Behörde besser nach Korejko suchen zu können. Die Schreibmaschine der Filiale muss statt E mit Ä auskommen und klingt deshalb ungarisch: «Wir bittän, däm Übärbringär … ». Ein Kreischen, Winseln, Wiehern, Trompeten, Äugen und Katzbuckeln durchzieht den Roman, man trifft auf «panzerartige dunkle Zehennägel» und «die warzenreiche Steppe» – in der phantastischen Übersetzung von Thomas Reschke wimmelt es nur so von sprachlichen Scherzartikeln. Und überall Funktionäre, Kreisbevollmächtige, Proletkult-Filialen, eine Künstlergruppe namens «Der dialektische Bildermaler», Komsomolzen, Traktoristinnen, Resolutionen – Wahnsinn, Beschiss und Bürokratie. Vor allem den ideologisch verordneten Kollektivismus geißeln Ilf und Petrow mit satirischen Geschossen. Weil ihr Held Bender bloß ein Individuum ist und keiner Organisation angehört, kann er seine Million nicht ausgeben. Kurz vor der Flucht lamentiert der Held: «Ich bin eine Privatperson und nicht verpflichtet, mich für Schützengräben und Panzertürme zu interessieren. Was kümmert mich die sozialistische Umwandlung des Menschen in einen Engel und Sparkassenkunden?» Nein, ihn interessiere bloß der «behutsame Umgang mit Einzelmillionären».

Wo die Sowjetbürger Ilf und Petrow mit den Waffen der Satire auf die Kollektivierung des Individuums feuern, setzt der amerikanische Sozialist Sinclair genau andersherum an. Das Individuum, zumindest das besitzlose, verendet im Schatten der Bohrtürme, es krepiert an der kapitalistischen Gier. Aber setzt die Satire deshalb auf schwarze Pädagogik und das ewig Schlechte im Menschen, schwelgt Sinclairs Öl-Epos im Erlösungstraum vom guten Menschen? Nein, denn in beiden Fällen haben die Bücher den eigenen blinden Fleck durchaus mitbedacht. Ilf und Petrow lassen ihre Gauner auch über das kapitalistische Amerika witzeln, Sinclair schiebt den Verklärungspart auf den belächelten Bunny ab.

Und was sagt uns das, die wir mit dem Gespenst des Kapitals leben und sterben müssen? Vielleicht muss man diese beiden Urszenen der Systemkritik tatsächlich zusammen lesen, um sich im Gewirr der Crashs noch mal vorführen zu lassen, dass weder die Wirtschaft, noch die Politik, noch die Banken einen Alleinerklärungsanspruch auf unsere Gegenwart haben. Den gespenstischen Mutationen, die aus dem Ärmelhochkrempler einen Schweinekapitalisten, aus dem Bürokraten eine stählerne Maschine machen, kommt man am besten in der Literatur auf die Spur. Was Upton Sinclair
wohl vom «Goldenen Kalb» oder Ilf und Petrow von «Öl!» gehalten haben? Wir wissen es nicht. Aber wir stellen uns vor, wie sie psychologische Geheimdokumente austauschen. Beim Fünfuhrtee. Wer die Welt retten will, muss die Gespenster der Gegenseite kennen.

Upton Sinclair
Öl! Roman
Manesse, Zürich 2013.
758 S., 34,95 €

Ilja Ilf / Jewgeni Petrow
Das goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million. Roman
Aus dem Russischen von Thomas Reschke
Die Andere Bibliothek, Berlin 2013. 450 S., 38 €

 

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