Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Richard Linklater - Der mit den Bäumen wächst

Der amerikanische Regisseur Richard Linklater ist ein Autodidakt. Mit seinem Film „Boyhood“ ist ihm Erstaunliches gelungen. Er machte die Zeit zum Hauptdarsteller

Autoreninfo

Dieter Oßwald studierte Empirische Kulturwissenschaft und schreibt als freier Journalist über Filme, Stars und Festivals. Seit einem Vierteljahrhundert besucht er Berlinale, Cannes und Co. Die lustigsten Interviews führte er mit Loriot, Wim Wenders und der Witwe von Stanley Kubrick.

So erreichen Sie Dieter Osswald:

Ein Drama wie dieses war auf der Leinwand noch nicht zu erleben. Auf der jüngsten Berlinale wurde Richard Linklaters „Boyhood“ zu Recht frenetisch gefeiert. Von „Meisterwerk“ und „Meilenstein“ schwärmten Kritiker, das Publikum jubelte. Allein die Jury zeigte sich pampig und speiste den Favoriten auf den „Goldenen Bären“ mit dem Trostpreis für die beste Regie ab. 
 
Die Story klingt unspektakulär: Man sieht einer gewöhnlichen Familie beim Leben und einem normalen Jungen beim Erwachsenwerden zu, drei Stunden lang. Sensationell gerät die Sache, weil die fiktive Langzeitbeobachtung sehr wahrhaftig und absolut authentisch wirkt. Im Zentrum steht der junge Mason (Ellar Coltrane), der vom siebenjährigen Schulkind zum 18-jährigen Studenten heranreift. Seine geschiedenen Eltern geben Patricia Arquette und Ethan Hawke. Sie alle altern real, trafen sich jedes Jahr vor der Kamera, um am Lebenspuzzle weiterzubasteln: 143 Szenen an 39 Drehtagen in elf Jahren. 
 
Hinter dem Coup steckt Richard Linklater. Der texanische Autodidakt bewies schon bei seinen ersten Filmen sein Talent als exzellenter Beobachter und frecher Erzähler. Anno 1993 versammelte er damalige Nobodys wie Matthew McConaughey, Milla Jovovich und Ben Affleck zum Generationenporträt „Dazed and Confused“, bei dem er eine Gruppe von High-School-Absolventen an ihrem letzten Schultag begleitet. Der Chef von Universal adelte die drogenselige Rebellenballade als den „sozial verantwortungslosesten Film, den das Studio je produziert hat“. Quentin Tarantino aber nahm das Werk in die Top-Ten-Liste seiner Lieblingsfilme auf.
 
Eine Chance für die Liebe entdeckte der findige Amerikaner vor 20 Jahren in Europa. Zunächst bändelte Ethan Hawke als Rucksacktourist in Wien mit Julie Delpy an. „Before Sunrise“ hieß das Werk, weil die Turteltäubchen nur bis Sonnenaufgang Zeit hatten. Die charmante Lovestory kam blendend an, so durfte das Paar neun Jahre später in Paris mit „Before Sunset“ sich wieder aufeinander zu- und voneinander wegbewegen. Zum vorläufigen Finale versammelte sich das Duo mit „Before Midnight“ im Vorjahr in Griechenland.
 
Nach dieser cleveren Langzeitstudie über die Liebe drehte Linklater jetzt mit „Boyhood“ das Rad der cineastischen Zeitreise radikal weiter. Einmal mehr erweist er sich dabei als Meister exzellenter Dialoge. Könnte das Pubertätsdrama zum nachgeschobenen Auftakt seiner „Before“-Trilogie taugen? „Kein schlechter Gedanke“, sagt der 53-Jährige, „in drei Jahren wird unser Held wie einst Ethan Hawke nach Wien fahren und sich dort in seinen eigenen Vater verwandeln.“ 
 

Rare Momente in denen Außergewöhnliches passiert bestimmen den Rhythmus des Films

 

Gespräche mit dem talentierten Mr. Link­later verlaufen entspannt wie seine Filme: „‚Boyhood‘ soll ein Spiegel sein, der zeigt, wie das Leben abläuft und die Zeit vergeht“, sagt der Selfmade-Regisseur. Entscheidend sei es, die Zuschauer trotz eines äußerlichen Gleichmaßes emotional zu packen. „Die meiste Zeit verläuft das Leben ruhig, selbst in Kriegsgebieten ist das so. Umso mehr erinnert man sich an jene raren Momente, in denen etwas Außergewöhnliches passiert. Nach diesem Rhythmus funktioniert unser Film.“ 
 

Schlendernd, fast dokumentarisch kommt die Geschichte daher. Dennoch gab es von Anfang an ein genau festgelegtes Drehbuch. Selbst das Schlussbild war elf Jahre zuvor konzipiert. Jede Episode wurde sofort geschnitten. Das Werk wuchs wie die Jahresringe eines Baumes. Sehen durften die Darsteller das Ergebnis aber erst zum Schluss. Terminpro­bleme der Stars auf dem langen Weg dorthin wurden pragmatisch gelöst: Wenn Ethan Hawke anderswo drehte, fehlte er in einer Episode. Ellar Coltrane musste ständig präsent sein. 
 
Wie kann man einen Sechsjährigen für elf Jahre verpflichten? „Mit viel Gottvertrauen in die Zukunft“, antwortet Linklater. „Wir hatten die Unterstützung seiner Eltern, die Künstler sind. Das Projekt war eine echte Familienangelegenheit.“ Das gilt erst recht für Masons Filmschwester, die von Linklaters eigener Tochter Lorelei gespielt wird. 
Das väterliche Wissen zeigt sich prompt auf der Leinwand: „Beim Dreh der Szene, in der sie aufgeklärt wird, wusste ich, dass Lorelei in einem schwierigen Alter steckte und alles, was mit Körperlichkeit zu tun hatte, eklig fand. Diesen Widerwillen haben wir für die filmische Situation genutzt.“ 
 
Großen Spielraum ließ er den Akteuren bei den Dialogen. Insbesondere bei seinem jungen Helden imitiert Linklaters Kunst das wahre Leben: „Ich gab Ellar als Hausaufgabe, bei Verabredungen aufzuschreiben, was er mit den jeweiligen Mädchen redet und wie sie reagieren.“ So fand ein Gespräch an Ellars College über die NSA den Weg in den Film. „Das lag in der Luft.“ 
 
Sagt Richard Linklater, der das Zerfließen der Zeit weiterhin abbilden wird und doch weiß, dass alle Zeit der Welt nicht reicht, um das Leben in Kunst zu verwandeln.

 

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.