Das Journal - Liebestaumel und Verrat

Roman: Barbara Honigmann schreibt Briefe über die Fremde im eigenen Land

Sie fallen aus dem Rahmen. Sie sind weniger Bohemiens als Fremde im eigenen Land. «Zigeuner» oder «Hexe» wird ihnen nachgerufen. Barbara Honigmann weiß, wovon sie  in ihrem Briefroman «Alles, alles Liebe!» spricht. Die zweite Generation zurückgekehrter Juden sucht im Ostberlin der ­siebziger Jahre ihren Weg. Die Eltern, vertrieben und zurückgekehrt, bauten den neuen Staat mit auf. Die Kinder bleiben unangepasst. In einem geschlossenen Raum, bei angehaltener Zeit rücken sie näher zusammen. Mehr Clique als Fronde. Doch der Widerspruch von Rhetorik und Erfahrung trifft sie härter als andere Mitläufer in der Diktatur. In Cafés, Wohnküchen und Theaterkantinen wärmen sie sich gegenseitig mit Auflehnungs-Phan­tasien. Sie bewegen sich in der Aura von he­raldischen Größen wie Heiner Müller. Ihm zeigen sie ihre Texte und diskutieren in langen Nächten die großen Vorhaben. Das Künstlertum der ruhelosen Gruppe besteht aus lauter Anfängen, tastenden Ausflügen. Aber die Zeit des Studierens und Assistierens ist vorbei.
 
Auch für Anna heißt es: wann, wenn nicht jetzt? Die junge Berlinerin geht als Regisseurin an ein winziges Provinztheater. Und die Provinz zeigt, was sie kann. Bald ist Anna von schmeichelhafter Feindseligkeit umgeben. Fremd und verloren wirkt sie auf dieser Prenzlauer «Straße der Völkerfreundschaft». Der Schankwirt fragt ungeniert nach ihrer «Stammeszugehörigkeit». Der verdeckte Antisemitismus hat ein schiefes Lächeln. Eine israelfeindliche UN-Resolution wird allerorten lüstern aufgenommen. Abgelehnt wird Anna auch am Theater. Ihr Kunstanspruch wird von den auf der Stelle tretenden Theaterleuten marginalisiert. Der hohe Einsatz verrauscht im Theateralltag, wird auf die landesüblichen Regeln gestutzt. Zwar kann sie das obligate Weihnachtsmärchen in eine Wiener Posse von Philipp Hafner umwidmen, aber bald lähmen sie Intrigen und Dienst nach Vorschrift. Beharrung und Verlorenheit auf gleicher Höhe.
 
Eine vollkommen poetische Dramaturgie Gegen die Entgeisterung helfen Anna nur Briefe, geschrieben in durchwachten Nächten. Lebensstränge zum Geliebten, zu den Freunden, zur Mutter und den Vertrauten der Shoah-Generation. Die Aufschwünge der Liebe sollen auch in den Briefen die enge Welt sprengen. Annas Sehnsucht nach Zuneigung scheint unersättlich. Mitten im Lärm der scheiternden Regiearbeit träumt sie, wenigstens in der Liebe sich selbst zu finden. Annas Geliebter Leon ist solchen Ansprüchen nicht gewachsen. Er verspricht alles, hält nichts und blendet durch Stil.

Vor Annas Liebe wird er sich mehr und mehr in die Leere des Selbstmitleids zurückziehen. Für diesen Lebens-Liebes-Kampf entfaltet Barbara Honigmann eine vollkommen poetische Dramaturgie. Hier ein Brief im Liebestaumel, dort bebende Signale der Sehnsucht, eben noch Übermut, bald kinderäugiges Weh über den Liebesverrat. Auch im entrollten Gruppenbild kommt es zu einer konzentrierten Anspannung der literarischen Mittel. Es ist ­­Hand­lung in jedem Brief. Die Beteiligten wachsen aus ihren Monologen zu lebensnahen Figuren. Der Wiedererkennungseffekt ist hoch. Von Thomas Brasch bis Lothar Trolle. Alle haben Angst vor einem verfehlten Dasein in einer auf Maß bedachten Welt. Die Provinz heißt nicht Prenzlau, sondern DDR. Die Flucht in die Kunst, in Erotik und Turbulenz ist allgemein. Andere Freiheiten sind ­schwerer zu haben, ein Jahr vor Biermanns Ausbürgerung.
  Das Bedürfnis nach gemeinsamer künstlerischer Arbeit führt auf die Bühne im Wohnzimmer. «Bernarda Albas Haus» von Federico García Lorca soll inszeniert werden. Das Drama wird zur Spiegelwelt der ungestillten Sehnsüchte. Eine Einsicht folgt aus der Lesart der Aufführung: Nicht nur eine repressive Gesellschaft führt zu Hörig­keit und unmündiger Verstrickung, jeder ist auch selbst dafür verantwortlich. Im «Café Slavia» in Prag, ein mythischer Ort für 1968-Ost, reift ein weiterer Plan für die eigene Vergewisserung. Ein «Album der Freunde» soll als Samisdat die Schubladentexte und -grafiken der Korona sammeln. Nie zuvor hatte die Clique soviel gewagt. Zwischen Überschwang, Zaudern und Rückzug wird dieser Aufbruch dann aber zerrieben.   Anna stürzt in der Liebe und am Theater ab. Sie flieht zu den jüdischen Freunden nach Moskau. Ein notwendiger Umweg. Diese Suche der eigenen Identität als Lie­­bende, Künstlerin und Jüdin gerät im Buch nie zum Klischee. Barbara Honigmann ist nach «Sobaras Reise» und «Damals, dann und danach» ein weiteres reifes Stück an Selbstvergewisserung gelungen. Ein genau gearbeiteter Text über den Aufbruch aus der Unmündigkeit. Sinnlich, lebendig, lebensklug. 


Barbara Honigmann  Alles, alles Liebe! Roman. Hanser, München 2000.  182 S., 34 DM

 

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