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Leben auf dem Land - Wer braucht schon Latte Macchiato

Vier Monate Bauernhof: Vier Monate keine Kneipen, keine Clubs, keine Flohmärkte, keine Graffiti, keine Rhabarbersaftschorle zum Frühstückbrunch, kein Café mit WLAN. Das geht? Das geht

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Besuch aus der Stadt ist ja höflich. Aah, wie schön das hier alles ist. Und groß. Und... und dann kommt meistens irgendwann unweigerlich – mal dezent vorsichtig, mal offen geschockt: Du warst seit Monaten nicht in der Stadt? Nicht zum Shoppen, Kaffee trinken oder Tanzen? Was ich denn die ganze Zeit hier machen würde? Wie das denn sei mit dem Kulturschock – von Berlin aufs Land?

Das fragen mich die Leute. Immer wieder. Es ist keine dumme Frage und ich will mich auch nicht lustig machen. Es ist ja so, dass ich schon schlucken musste, als wir das B auf unserem Autokennzeichen mit dem WL tauschen mussten. Das war schon ein Schritt. Nicht ganz so happig, wie ihn meine Tante empfand („Das könnt ihr doch nicht machen. WL – wilder Landwirt. Das sind die schlimmsten!“), aber doch einschneidend für mein Identitätsgefühl.

Also ein Kulturschock? Nein, eher ein Naturschock. Ein positiver. Ich habe das Gefühl, im Freien ständig etwas zu erfahren, was ich noch nicht wusste. Nicht durch Ratgeber, Sachbücher, Artikel. Sondern weil mich Natur umgibt. Auch wenn ich in meinem Leben immer wieder aus den Städten herausgefahren bin, in denen ich lebte. Das alltägliche Naturerleben ist anders.

In der Stadt freute ich mich an bunten Häuserfassaden, wenn über Nacht ein Graffiti entstand, der Späti an der Ecke eröffnete, ich ein Café zum ersten Mal betrat und vor einer Bretterwand im Morgendämmern plötzlich eine Menschenmenge von einem neuen Club zeugte. Wenn ich auf dem Land war, habe ich einen Spaziergang gemacht, einen Abend am Feuer, vielleicht eine Nachtwanderung im Moor. Dann aber ging es wieder in die Stadt. Mehr gibt das Land nicht her. Dachte ich. Und so war auch mein Gefühl, als ich hierher gezogen bin. Die Sehnsucht nach mehr Ruhe, nach mehr Zeit für mich und meine Familie, die war ein bedeutender Teil des ganzen Plans.

Wenn mich jetzt etwas schockt – wobei das Wort plötzliches Erkennen impliziert und dies sickert eher schleichend in mein Bewusstsein: Der Arbeitsumfang ist derselbe geblieben. Noch immer jagen wir nach dem Aufstehen ins Bad, galoppieren zum Kindergarten, rasen zurück an Schreibtisch und Stall. Noch immer fallen wir abends todmüde in die Kissen, sind erschöpft vom Tageswerk. Die Entschleunigung, die wir Erlebnisgesellschaftsgebeutelten uns wünschten, die gibt auch das Landleben nicht her.

Die Zeit aber, die ich zwischen Kindergaloppade, Schreibtisch-Telefon-Email-Marathon und Pferdeweidenabäppelung verbringe, die verbringe ich im Angesicht mit der Natur. In dieser Woche hatten wir die erste richtige Frostnacht. Der Himmel am Morgen war nach Tagen der feucht-nebligen Düsternis knallblau, der Atem der Pferde dampfte, wenn sie ihre Nasen aus dem Heu erhoben, auf den Holzzäunen lag fingerdicker Raureif. Als ich vor die Tür trat, hörte ich es milliardenfach rascheln. Nicht leise, sondern laut. Es waren die Bäume, die ihre ganze Kraft, alles Wasser in ihren Stämmen zusammenzogen, um im Winter zu überleben. So lösten sich die restlichen Blätter von ihren Ästen und fielen knisternd zu Boden. Ganz leicht, ohne einen Windhauch. Es war das ersten Mal in meinem Leben, dass ich das erlebte.

Ich will damit sagen: Es ist so schön hier, dass ich nicht dazu komme, die Stadt zu vermissen. Und um es euch Städtern mal so zu übersetzen: Stellt euch vor, ihr steht im Watergate oder im Picknick, die Bässe dröhnen, die Menschen johlen, ihr seid glücklich. Da wünscht ihr euch auch nicht ins Café auf dem Pariser Montmartre. Auch wenn ihr wisst, dass es dort sehr schön sein kann. Und so ist das. Hier bei uns auf dem Land.

 

 

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