Das Journal - Lauter, krasser, weiter

Und er war doch dabei: Der Musikproduzent Joe Boyd erzählt vom langen Jahrzehnt der Rockmusik

Eine gewaltige Druckwelle aus elektrischem Geräusch fegt über die Köpfe der Folkmusik-Freunde hinweg. «Wo ist das Mischpult? Wie komme ich dahin?» Das Festivalkomitee ist in heller Aufregung. Alles, was sie an ihrer Musik bis dahin geliebt und geachtet haben, wird in wenigen Sekunden zerstört: das Sanfte, das Authentische, das Unkommerzielle, das Handgemachte und das Natürliche. Manche weinen. An diesem 25. Juli 1965 schließt Bob Dylan, gefeierter Folk-Barde und Lieblingsmusiker der kritischen US-Intelligenz, seine Gitarre erstmals bei einem Auftritt an einen elektrischen Verstärker an. Er spielt nur drei Stücke, aber danach ist nichts wie zuvor. «Eine Schockwelle der Verblüffung schwappte über die Zuschauer», erinnert sich Joe Boyd. «Sie hatten etwas gehört, das damals vollkommen neu war: nichtlineare Texte, die totale Verachtung von Erwartungshaltung und etablierten Werten, begleitet von einer kreischenden Bluesgitarre und einer kraftvollen Rhythmusgruppe aus jungen Burschen, die in ohrenbetäubender Lautstärke spielte. Es war die Geburt des Rock.»

Joe Boyd ist als Toningenieur an diesem Abend für Sound und Lautstärke verantwortlich gewesen. Er hat am Nachmittag vor dem Konzert nicht nur die elektrischen Verstärker ausgepegelt, sondern durch ein paar sorgsam aufgespannte Sperrbänder auch dafür gesorgt, dass die Wahrer der authentischen Volksmusik während Dylans Auftritt vom Mischpult ferngehalten wurden – jene verdienten älteren Herren wie der Protestsänger Pete Seeger und der Musikologe Alan Lomax, der jahrzehntelang mit seinem Tonbandgerät durch die amerikanischen Provinzen gezogen war und nach dem Liedgut der Vergangenheit fahndete.

Auch Joe Boyd liebt die Musik, die sie lieben: den Folk und den Blues, das musikalische Erbe. Doch die Zeit der Kulturwahrer ist vorüber; die Zukunft gehört einem anderen, lauteren, aggressiveren Sound. Boyd weiß, dass der Folk und der Blues nur überleben werden, indem sie sich in Rockmusik verwandeln. Diese Verwandlung erlebt in Dylans Auftritt in Newport ihren ersten Höhepunkt. Bei allem Triumph, den Boyd an diesem Tag spürt, weiß er aber auch, was verlorengeht. Die Epoche der popmusikalischen Revolutionen, die hier beginnt, wird stets auch eine Epoche der Zerstörungen sein, des Verdrängens und Übertönens der Tradition.


Geburt des Psychedelischen

«White Bicycles» heißt die Autobiografie, in der sich Joe Boyd an die «Musik der 60er Jahre» erinnert; man wird kaum einen anderen Text über jene Zeit finden, der ihre typische Dialektik aus Erfindung und Vernichtung so klug und so unsentimental rekapituliert. Boyd selber hat zwar nie im Rampenlicht gestanden. Doch als Konzertveranstalter, Toningenieur, Club-Betreiber und Produzent war er eine der Schlüsselfiguren der Ära. Wo immer ein Gitarrenverstärker lauter aufgedreht werden sollte, wo immer sich Menschen darum bemühten, einen neuen, anderen, intensiveren Klang für ihre neuen Lebensverhältnisse zu finden, war er zur Stelle.

Seine Kindheit hat Boyd in Princeton, New Jersey, verbracht; als Teenager begeisterte er sich für den Rock ’n’ Roll, aber auch für ältere Stile wie Blues und Jazz. Während der College-Zeit begann er mit einigen Freunden, nach den Blues-Gitarristen und Gospel-Sängerinnen zu forschen, die sie von alten Schellack-Platten kannten. Boyd stöberte die vergessenen Künstler als Hausmeister oder Nachtportiers auf und verschaffte ihnen – zum Teil nach Jahrzehnten – wieder Konzertauftritte. 1964 tourt er mit dem Blues-Gitarristen Muddy Waters durch Großbritannien. Dort lernt er die englische Folkmusik kennen und die soeben erblühende Folkrock-Szene.

Karrieren im Zickzack

Nach dem skandalösen Newport Festival übersiedelt er nach London und beginnt dort 1967, in einer ehemaligen irischen Dance Hall den wöchentlichen UFO Club zu veranstalten. Seine Partys werden zur Geburtsstätte der psychedelischen Musik. «Soft Machine», «Tomorrow» und «Pink Floyd» (noch mit ihrem ersten, später im Drogenwahn verlorengegangenen Sänger Syd Barrett) haben hier ihre ersten Auftritte. Einen Sommer lang paaren sich politische Revolte und psychedelische Kunst – bis die Kampagnen der Boulevardzeitungen gegen die «drogenabhängigen Langhaarigen» zum Ende des UFO Club führen und Boyd sich, nunmehr als professioneller Plattenproduzent, den vielfältigen Überlagerungen zwischen psychedelischer Musik und Folk-Revival widmet: Die ersten Platten von «Fairport Convention» und der «Incredible String Band» entstehen ebenso unter seiner Ägide wie die Platten der – unlängst wieder entdeckten – Vashti Bunyan und des früh verstorbenen Nick Drake.

Die Epoche der musikalischen Revolutionen ist auch eine der chemisch erzeugten Halluzinationen gewesen. «Wer sich an die Sechziger erinnern kann, ist nicht dabei gewesen», lautet ein geflügeltes Wort. Boyd kann sich erinnern: In der Hitze und im Durcheinander dieser Jahre hat er stets die Kälte des Impresarios und Geschäftsmannes bewahrt, was ihm nicht nur Freunde gemacht hat. Um ihn herum explodieren oder verglühen die Karrieren, oder sie verlaufen in den erstaunlichsten Zickzacklinien. So bringt sein Freund, der aus Deutschland kommende Musikmanager Horst Schmolzi, zuerst einen unbekannten amerikanischen Gitarristen namens Jimi Hendrix nach London – und scheitert ein paar Jahre später mit dem Versuch, mit den Krachwerkern von «Faust» eine deutsche Avantgarde-Supergruppe zu kommerziellem Erfolg zu führen. Nachdem seine Plattenfirma ihn deswegen entlässt, wird er als Manager von Roger Whittaker reich.

Boyd selbst lehnt 1970 das Angebot ab, zwei schwedische Folkmusiker namens Björn und Benny zu produzieren. Stattdessen folgt er einem Ruf nach Hollywood und wird Leiter der Musikabteilung des Warner-Konzerns. Für Boyd sind die 60er Jahre damit vorüber. Björn und Benny verlieren die Lust an der schwedischen Folk-Tradition und erfinden sich mit ihren Freundinnen Agnetha und Frida als englischsprachige Glam-Pop-Schlagergruppe neu. Unter dem Namen «ABBA» werden sie 1974 zur erfolgreichsten Popband der Welt.

 

Joe Boyd
White Bicycles. Musik in den 60er Jahren
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller.
Kunstmann, München 2007. 360 S., 24,90 €

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