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(picture alliance) Der Protest ist wieder erwacht

Occupy-Schelte - Lasst der Bewegung ihren Lauf

Die mediale Empörung über die Empörten in der Causa „Occupy“ ist der konservative Reflex gegen alles, was sich da neuerlich und regellos formiert. Es fehlt an der Erkenntnis, dass sich Protest zu allererst chaotisch Bahn bricht, bevor er konsistente Forderungen formuliert

Wenn etwas Neues auftaucht, herrscht bei den Medien regelmäßig verhaltene Skepsis – es sei denn, es handelt sich um amerikanische Fernsehserien oder stammt aus dem Hause Apple. Das spricht, cum grano salis, für einen gesunden Konservatismus, auf den unabhängig von der weltanschaulichen Disponiertheit der Kommentatoren im Wesentlichen Verlass ist.

Piratenpartei? Die sollen doch erstmal zeigen, ob sie’s draufhaben. Ganztagsschule? Wenn das mal nicht zur innerfamiliären Entfremdung führt. Globalisierung? Besser nicht damit übertreiben. Klimawandel? Ganz schlecht. Geht mir genauso. Alles, was ungewohnt ist und sich ungefragt in mein Leben drängt, lehne ich instinktiv ab; erst recht, wenn es mit Lärm verbunden ist und eine Aussicht auf Geruchsbelästigung besteht. Der Audi-Slogan „Vorsprung durch Technik“ trifft mein aseptischen Fortschrittsverständnis ziemlich genau: sauber, leise, effizient und am besten noch formschön.

Mit dem sozialen Fortschritt ist das ähnlich: Wir haben uns daran gewöhnt, dass er in den Laboratorien der politischen Macht ausgetüftelt und qua Gesetzesblättern wie Schmierstoff in die Gesellschaft gepumpt wird, damit diese auch in Zukunft möglichst geräuschlos und produktiv funktioniert. Das klappt nicht immer, denn Politiker sind keine Audi-Ingenieure, und Deutschland ist auch keine Hybrid-Limousine (was manche bedauern dürften). Aber unterm Strich können wir ganz zufrieden sein, zumindest im Vergleich. Zumindest bisher. Doch das gesamtgesellschaftliche Vorsprungsversprechen ist hohl geworden, die althergebrachte Wohlstandsbewahrungstechnik wird zunehmend in Frage gestellt. Und zwar immer lauter.

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Als vor wenigen Wochen Peer Steinbrück in Berlin Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“ vorstellte, sprach er einen denkwürdigen Satz. Jegliche Ausuferung, so Steinbrück, würde früher oder später gesellschaftliche Gegenkräfte mobilisieren. Gemeint waren natürlich die exzessive Bereicherung einiger Akteure auf den Finanzmärkten und deren teilweise unverhohlener Machtanspruch bar irgendwelcher demokratischen Legitimation.

Anders gesagt: Das Überraschende an der Occupy-Bewegung ist nicht die Tatsache, dass es sie gibt. Sondern, dass sie sich erst so spät formiert hat, nämlich ganze drei Jahre nach der letzten Finanzkrise, in der die Steuerzahler gewissermaßen alternativlos für die Risiken der Boni-Barone in Haftung genommen wurden.  Der Protest vor den Frankfurter Bankentürmen und vor dem Berliner Bundeskanzleramt war doch schon längst vorher da, nämlich in den Köpfen auch der Menschen, die sich (noch) nicht in die Demonstrationszüge einreihen wollten.

Deswegen ist er nicht neu, sondern altbekannt – und materialisiert sich jetzt auch noch in wohlvertrauter Form: Menschenmassen, Flugzettel, Trillerpfeifen, Protestplakate, Zeltlager. Das alles stinkt, macht Lärm und verstopft die Straßen – ist aber, wie es an der Börse so schön heißt, „bereits eingepreist“. Deshalb lautet die in den Medien am häufigsten vorgebrachte Kritik an den Protagonisten des Aufstands auch nicht: Gestank! Krach! Unordnung! Sondern: Die haben ja gar keine konzise Forderung! Die müssen sich doch erstmal darüber einig werden, wofür sie überhaupt auf die Straße gehen. Das Phänomen an sich wird also begrüßt, aber als zu unentschieden abgetan.

Davon abgesehen, dass die Vorschläge zur Krisenbewältigung in den Wirtschaftsteilen deutscher Zeitungen sich mindestens genauso unterschiedlich (wenn nicht widersprüchlich) lesen wie jene der im Bundestag vertretenen Parteien: Wie hätte man es denn gern? Als präzise durchformulierten und mit den führenden Wirtschaftsinstituten abgestimmten Zehn-Punkte-Plan? Oder als flammenden Aufruf zum Sturm auf die Banken?

Vielleicht muss sich nach der langen Zeit des gesellschaftlichen Friedens zunächst einmal wieder die Erkenntnis durchsetzen, dass Protestbewegungen keine straff organisierten Militärmanöver sind, sondern naturgemäß  zu Chaos neigende Sammelbecken für Unzufriedene jeglicher Couleur. Dass sie dennoch die Kraft besitzen, ein paar Dinge grundlegend zu ändern, hat die Krawall-Generation 68ff. eindrücklich bewiesen.  Eines zumindest dürfte jetzt klar sein: Mit dem Verweis auf Alternativlosigkeit ist so schnell kein Staat mehr zu machen.

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