Das Journal - Krypton musste explodieren

James Kakalios schreibt eine Gattungsästhetik der Superhelden-Abenteuer, die zugleich in die moderne Physik einführt

Eine Frage kann auch James Kakalios nicht beantworten: Welcher Defekt im Ge­schmacks­empfinden verführt all die Supermänner und Superfrauen und sonstwie übermenschlich begabten Beschützer der Menschheit dazu, sich vor jeder neuen Errettung der Welt wieder in unrettbar hässliche Zirkuskostüme zu kleiden? Wieso lässt sich die Erde gegen Bösewichte und übellaunige Schurken aus dem All nur in unterwäscheartiger Ganzkörperbekleidung mit sonderbaren Applikationen beschützen?

Dieses Rätsel bleibt; alle anderen Fragen, die sich aus der Lektüre von Superhelden-Comics ergeben, werden hingegen umfassend gelöst. Wie kommt es, dass Superman höher springen kann als ein zwanzigstöckiges Hochhaus? Ist es plausibel, dass Spider-Man lediglich durch Spinnenfäden gehalten wird, wenn er sich durch die Hochhaus-Schluchten Manhattans schwingt? Wie ­viele Energieriegel muss der unglaubliche Flash täglich essen, wenn er annähernd mit Lichtgeschwindigkeit durch die Gegend rennt?

«Physik der Superhelden», von dem amerikanischen Physik-Professor James Kakalios verfasst, erklärt den Geist der Superhelden-Geschichten aus der Mechanik der Körper und den Parallelogrammen der Kräfte, die in ihnen walten. Stets geht es den Schöpfern von Superman, Spider-Man und deren Kollegen ja um die Konstruktion möglichst origineller,  in der realen Welt unbekannter, in den Universen der Comics jedoch schlüssig begründeter Supertalente. Was sie als Erklärung für die Begabungen ihrer Helden abgeben, wird von Kakalios mit dem Wissen der modernen Physik überprüft – und dann beglaubigt, berichtigt oder verworfen.


Eine glaubwürdige Unmöglichkeit

1938 debütiert der erste Comic-Superheld Superman in der Heftreihe «Action Comics». Seine Umwelt verblüfft er damit, dass er übermenschlich schnell laufen und springen kann. Erklärt werden diese Talente mit seiner außerirdischen Herkunft: Superman verfügt über eine so starke Muskulatur, weil er auf Krypton geboren wurde, einem Planeten mit weit höherer Schwerkraft als die Erde. Kurz bevor dieser in einer kosmischen Explosion unterging, haben Supermans Eltern ihn in einem Raumschiff evakuiert.

Eine glaubwürdige Geschichte, be­fin­det Kakalios: Ausgehend von Supermans Sprungkräften, den drei Grundgesetzen der Mechanik, dem zweiten Newton’schen Axiom (Kraft = Masse x Beschleunigung) und dem Newton’schen Gravitationsgesetz, rechnet er aus, dass die Schwerkraft auf Krypton 15-mal stärker gewesen sein muss als auf der Erde. Wäre der Planet zugleich 15-mal so groß gewesen, wäre er gasförmig und also nicht zu bewohnen. So bleibt als Erklärung nur, dass er eine höhere Dichte aufwies. Weil sich «normale» Materie aber nicht derart zusammendrücken lässt, muss Krypton einen Anteil «exotischer» Materie besessen haben, wie sie nur beim Kollaps riesiger Sonnen zu dichtesten Neutronensternen entsteht. Doch ist jeder Planet, der einen solchen Neutronenstoffkern besitzt, notwendig instabil und wird – quod erat demon­stran­dum – früher oder später explodieren.

Nach diesem Muster verfährt das ganze Buch: Die verstreuten Hinweise aus den Superhelden-Comics setzt Kakalios zu geschlossenen Weltmodellen zusammen – und zwar so, dass dabei zugleich eine mit Superhelden-Abenteuern illustrierte Einführung in Festkörpermechanik, Energie-Erhaltungslehre und fortgeschrittene Quantenphysik entsteht. Mit den Helden, die auf Superman folgen, wird es Schritt für Schritt komplizierter. Schließlich brillieren diese nicht mehr einfach durch die Steigerung von Menschenkräften, sondern durch immer bizarrere Sonderbegabungen wie Telepathie, Telekinese und Teleportieren; das heißt, sie können Gedanken lesen, mit ihren Gedanken Dinge bewegen und sich kraft ihrer Gedanken von einem Ort zum nächsten beamen. Aber auch die taktische Entzündung des eigenen Körpers, das Steigern und Senken der Umgebungstemperatur sowie die allgemeine Beeinflussung des Wetters be­fin­den sich im Repertoire der außergewöhnlichen Kräfte.

Schönes, nutzloses Wissen der Nerds

Manches davon ist, wie wir bei James Kakalios lernen, physikalisch überraschend plausibel, anderes hingegen abwegig. So lässt sich das Durch-die-Wand-Gehen – das Kitty Pryde von der Superheldengruppe X-Men beherrscht, indem sie angeblich Quanten-Tun­nels bildet – mit den Erkenntnissen der Quantenmechanik durchaus erklären. Dagegen erweisen sich «einfache» Superbegabungen, die seit langem zum Inventar der Gattung gehören, als reine Fantasy: zum Beispiel das Talent zur Selbstverkleinerung, das dem unglaublichen Ant-Man Anfang der sechziger Jahre seine Abenteuer erlaubt.

Wie sollte dieser Schrumpfprozess vonstatten gehen, fragt Kakalios. Eine Verkleinerung durch Verdichtung ist wegen der atomaren Struktur der Materie unmöglich – ebenso wie eine Verkleinerung durch Weglassen von Atomen, denn in diesem Fall würde der menschliche Organismus nicht mehr funktionieren. Und selbst wenn «ir­gend­eine Zauberei» Ant-Man die Schrumpfung erlaubte: Würde er tatsächlich so klein wie ein Elektron, wäre er blind; er wäre dann nämlich auch kleiner als die Wellenlänge sichtbaren Lichts.

«Physik der Superhelden» ist lustig und lehrreich zugleich. In der Diskussion ausgewählter Abenteuer bietet das Buch nicht nur einen gut verständlichen Grundkurs in moderner Physik. Indem es die Comics auf ihre physikalischen Argumente hin überprüft, erhellt es zugleich die Faszination, die die Gattung auf ihre Leser ausübt. Nicht Psychologie, nicht Abenteuer, nicht Romantik machen den wesentlichen Reiz der Su­per­helden-Comics aus. Der Grund dafür liegt vielmehr in der Erfindung und Konfrontation bizarrer Körper und Kräfte; in der Erschaffung plausibler Unmöglichkeiten, bei der die auf Realitätsbeherrschung geeich­ten Verfahren der physikalischen Forschung gebraucht werden, um das selbstgenügsame «nutzlose Wissen» der Fan- und Nerd-Kultur zu schaffen. Ein Wissen, das James Kakalios wiederum in die Sprache der ef­fi­zien­ten Naturwissenschaft rückübersetzt.

Seine «Physik» – das ist gewissermaßen ihr «exotischer» Kern – bietet zugleich eine vollwertige Gattungsästhetik der Superhelden-Comics. Deren Wesen haben Generationen von Literatur- und Popkritikern nicht so genau beschrieben wie dieses leichte, in seiner technischen Gelehrsamkeit nur scheinbar naive Buch.

 

James Kakalios
Physik der Superhelden
Aus dem Amerikanischen von Doris Gerstner und Christoph Hahn.
Rogner & Bernhard, Berlin 2006. 472 S., 39 Abb., 29,90 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.