Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) Konservatives Denken heißt: den unumgänglichen Wandel für die Menschen verträglich zu gestalten

Wertedebatte - Konservative sind die wahren Gestalter

Der Konservative steht vor dem Dilemma, dass er heute verteidigt, was er gestern bekämpft hat. Aber Konservative sind nicht ewig gestrig. Sie wissen, dass nichts zurückkommt. Konservatismus ist kein fixes inhaltliches Programm, sondern eine politische Haltung

Was ist konservativ? Die Antwort auf diese Frage ist so alt wie der Konservatismus selbst. Und sie war stets voller Irrtümer. Das beginnt mit den Inhalten. „Zu viele Geister haben aus zu vielen Gründen versucht, zu viele Dinge zu bewahren“, als dass sich von einem Kanon konservativer Inhalte sprechen ließe, so hat es der britische Historiker John Pocock treffend formuliert. Überzeitliche Inhalte von Konservatismus lassen sich historisch gesehen nicht feststellen. Mehr noch: der Konservative steht vor dem Dilemma, dass er heute verteidigt, was er gestern bekämpft hat – die Demokratie zum Beispiel.

Und mehr noch: Die Bewegung des Bewahrens ist historisch entstanden durch den Wandel – und sie entscheidet sich an ihrem Verhältnis zum Wandel. Hier liegt der zweite große Irrtum in der Rede über Konservatismus. Schauen wir auf die öffentliche Debatte, so haben die, die als „die Konservativen“ bezeichnet werden, keinen guten Ruf: sie gelten als rückwärts gewandte Traditionalisten, die sich dem Wandel der Zeiten verweigern und das Rad am liebsten in eine vermeintlich bessere alte Zeit zurückdrehen wollen, von den Familienformen bis zum Nationalstaat. Zwischen Traditionalismus und Konservatismus aber liegt der entscheidende Unterschied. Denn Konservative wissen, dass nichts zurückkommt. Einem politisch handlungsfähigen Konservatismus – und das kann nur ein liberaler Konservatismus sein – geht es vielmehr darum, den Wandel, an dem kein Weg vorbeiführt, zu gestalten.

[gallery:Von Leidenschaft zu Häme - Entgleisungen deutscher Politiker]

Es könne keinen größeren Irrtum geben, so sagte der 14. Earl Derby vor dem britischen Parlament, als er 1858 ein konservatives Kabinett bildete, als „anzunehmen, eine konservative Regierung sei eine Regierung der Bewegungslosigkeit. [...] In der Politik muss dieselbe Richtung verfolgt werden wie in allen anderen Dingen: beständiger Fortschritt, Verbesserung des Bestehenden, Anpassung an die gewandelten Umstände und die Bedürfnisse der Gesellschaft.“ Und noch pointierter formulierte Lord Salisbury, konservativer Premierminister am Ende des 19. Jahrhunderts, mit einer Weisheit, die sich vielleicht erst auf den zweiten Blick erschließt: es gehe darum, „Veränderungen zu verzögern, bis sie harmlos geworden sind.“

Mit anderen Worten: den unumgänglichen Wandel für die Menschen verträglich zu gestalten. Das freilich, und damit sind wir wieder beim ersten Irrtum, ist kein fixes inhaltliches Programm, sondern eine politische Haltung, die allerdings nicht voraussetzungslos ist, sondern auf drei wesentlichen Grundlagen beruht: dem Menschenbild, der Art zu Denkens und der subsidiarischen Zivilgesellschaft.

Menschenbild – unveräußerliche Menschenwürde

Die Rede vom Menschenbild klingt schnell wohlfeil, und die überragende Bedeutung der Menschenwürde gehört ja gerade zum Grundkonsens unserer gesamten politischen Kultur. Doch wenn es konkret wird, zeigen sich die Unterschiede. Was bedeutet Menschenwürde als Unverfügbarkeit über menschliches Leben im Hinblick auf Abtreibung, auf embryonale Stammzellforschung oder auf Sterbehilfe bei nicht mehr finanzierbaren Sozialsystemen? Christlich-konservative Positionen konsequenten Lebensschutzes stellen politisch jedenfalls eine Minderheit dar.

Ein anderer Aspekt des Menschenbildes liegt in der Unvollkommenheit des Menschen, der auch nur unvollkommen in der Lage ist, die Welt zu erfassen und zu gestalten. Konkret: wir sehen das Ende nicht ab und kennen die Zukunft nicht. Gerade Konservative wissen, was wir ungern hören: was heute richtig erscheint, kann sich morgen in das Gegenteil verkehrt haben. Das klingt abstrakt und hat sehr konkrete Auswirkungen: Konservative wollen die Welt nicht nach einem bestimmten Modell umgestalten – es könnte sich ja morgen als falsch herausstellen. Das gilt für den Flächenabriss von Altstädten zugunsten der sog. „autogerechten Stadt“ ebenso wie für die Umstellung der Rente auf Kapitaldeckung. Hinterher war man froh um die Altstädte, die noch standen, und wir sind heute froh, dass die Renten nicht komplett dem Kapitalmarkt übergeben sind.

Konservativ zu denken heißt, behutsam mit dem Bestehenden umzugehen, es pragmatisch zu verbessern, wie Lord Derby sagte, statt zu Radikallösungen und Kahlschlag zu greifen. Es heißt ganz allgemein: eine Politik „auf Sicht“ zu betreiben und sich von einer Kardinaltugend leiten zu lassen: der Besonnenheit. Das ist eine Frage des Denkens, und dies ist die zweite Grundlage des Konservativen.

Konservatives politisches Denken ist pragmatisch, nicht radikal

Konservatives politisches Denken ist pragmatisch, nicht radikal

Konservatives Denken geht auf einen zentralen Unterschied der abendländischen Geistesgeschichte zurück: auf den Unterschied zwischen platonischer Ideenlehre und dem Realismus des Aristoteles zurück. Konservatives Denken geht dabei, um eine lange Geschichte ganz kurz zu machen, nicht von der Idee, von Theorien und Modellen aus, sondern von der konkreten Realität, praktischer Erfahrung und Alltagsvernunft.

Das heißt konkret: Konservatives politisches Denken ist pragmatisch, nicht radikal. Aufgabe der Politik ist es nach seinem Verständnis nicht, eine neue Welt zu schaffen, sondern Bedingungen für gelingendes Leben bereitzustellen. Die konkrete Ausgestaltung ist dann die Sache der Einzelnen, und es ist nicht die Aufgabe des Staates oder der Politik, den Menschen zu sagen, wie sie leben sollen.

Das heißt auch, die Gesellschaft nicht nach abstrakten Zahlen und nach einem polit-ökonomischen Modell umgestalten zu wollen, wie es sich in den vergangenen Jahren unter dem Eindruck von PISA und OECD parteiübergreifend verbreitet hat: von der möglichst frühen Krippenbetreuung über den Besuch der Kinder-Uni statt zweckfreien Spielens und eine verkürzte Schulzeit zum eng regulierten Bachelor-Studium, dessen ökonomisch passgenaue Absolventen schließlich hochinnovativ den Standort Deutschland und seine Demographie retten sollen. Denn die damit verbundene, zunehmende staatliche Regulierung steht im Widerspruch zum dritten Aspekt konservativen Denkens:

Zivilgesellschaft und Subsidiarität

Um eine weitere lange Geschichte, die des konservativen Denkens über Staat und Gesellschaft, abermals sehr kurz zu machen: die Gesellschaft der gemeinwohlverpflichteten Bürger rangiert seinem Verständnis nach vor dem Staat – sowohl vor dem bürokratischen Macht- oder Obrigkeitsstaat, als auch vor dem allzuständigen Fürsorge- und Interventionsstaat. Darin liegt ein grundlegender Unterschied zur Sozialdemokratie und zugleich eine Gemeinsamkeit mit dem Liberalismus sowie Teilen der Grünen.

Zugleich ist aus der christlichen Gesellschaftslehre eine Zutat hinzugefügt worden, die das Etikett „Subsidiarität“ trägt und auf die Mitte zwischen radikalliberaler Zurückdrängung des Staates auf der einen und möglichst umfassender staatlicher Regulierung und Umverteilung auf der anderen Seite zielt: Subsidiarität besagt, dass die Individuen, Familien oder kleinen gesellschaftlichen Gruppen sich grundsätzlich selbstverantwortlich organisieren und nur dann, wenn sie die nicht mehr zu leisten vermögen, Anspruch auf die solidarische Unterstützung durch die Gemeinschaft haben.

Das grundlegende Vertrauen in die gesellschaftlichen Kräfte ist freilich im Falle der Familie in letzter Zeit massiv geschwunden: „die Familien können das nicht (mehr)“ ist zu einem weithin unwidersprochenen Satz geworden. Stattdessen wird der Staat gefordert, bis in die politische Sprache hinein: „frühkindliche Bildung“ wird inzwischen umstandslos mit außerfamiliärer Betreuung gleichgesetzt, als wäre Erziehung in der Familie keine Bildung.

Eine subsidiarisch-konservative Familienpolitik wird den Familien daher nicht vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben, weder indem sie darauf hinwirkte, dass Mütter zu Hause bei ihren Kindern bleiben, noch indem sie einseitig ein flächendeckendes Modell der außerfamiliären Kinderbetreuung bevorzugt. Sie würde vielmehr darauf zielen, den Familien gleichberechtigte Möglichkeiten zu eröffnen, selbstbestimmt zu entscheiden, wie sie sich organisieren wollen. Sie sorgt daher für außerfamiliäre Kinderbetreuungsmöglichkeiten, und zugleich unterstützt sie die Familien, die ihre Kleinkinder selbst gut erziehen, was übrigens kostenneutral bei der politischen Rhetorik anfängt.

Dass dieses Maß und diese goldene Mitte in der gesellschaftlich-politischen Diskussion kaum gefunden werden, verweist nur auf das Potential wie auf die Bedeutung eines modernen Konservatismus, der auf Pragmatismus und Alltagsvernunft baut, um den Menschen Bedingungen gelingenden selbstbestimmten Lebens zu eröffnen. Manchem erscheint dies als zu wenig konservativ profiliert. Historisch gesehen ist allerdings, was die konservativen Inhalte angeht, nicht viel mehr drin. Und nicht nur historisch gesehen, ist mit einer solchen Grundhaltung, den Wandel zu akzeptieren und ihn verträglich zu gestalten, nicht wenig gewonnen. Denn erst kommt die Haltung, dann die Politik.

Professor Dr. Andreas Rödder lehrt Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und forscht intensiv zur jüngsten Zeitgeschichte und zum Wertewandel. Er ist Herausgeber der Werke „Alte Werte - Neue Werte“ sowie „Eine neue Tendenzwende? Zur Gegenwartsdiagnose und Zeitkritik in Deutschland“

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.