Das Journal - Klauen, Schnaps holen, höllisch leiden

In «Aus allen Himmeln» zeichnet Angelika Klüssendorf die DDR als eine Art Strafkolonie

Es ist die klassische Engführung: Mann, Frau, Tochter. Ab und zu wird ein bisschen die Perspektive verschoben. Ab und zu fällt das Licht ein bisschen anders, noch diffuser, grauer, löst sich auf im Nichts. Die zehn knappen Erzählungen Angelika Klüssendorfs sind formal eigenständig, sie entfalten scheinbar eine jeweils eigene kleine, bedrängte Welt. Doch es ist jedes Mal dieselbe Situation. Das Leben wird mit den Augen eines Mädchen gesehen, das kurze wirre Haare hat und immer mit einem Jungen verwechselt wird, es steht knapp vor der Pubertät und hat mit einer Mutter oder mit einem Vater zu tun, selten mit beiden gleichzeitig, die deklassiert sind, am Leben scheitern. Die Kindheit in diesen Erzählungen ist eine Hölle.

Manchmal wird dieses Mädchen von anderen geschildert, von einem etwa gleichaltrigen Jungen oder von einer Erzieherin. Doch es steht immer im Mittelpunkt: meistens sprachlos, geschlechtlich noch nicht eindeutig zuzuordnen, ohne Halt. Ein Leitmotiv in mehreren Erzählungen ist, wie das Mädchen von der Mutter zum Einkaufen geschickt wird. Oder vom Vater zum Schnaps­holen. Auch, dass das Mädchen klaut, zieht sich durch die verschiedenen Texte. Aber die Tonlage ändert sich immer ein klein wenig, und das schafft in diesem Buch ein merkwürdiges Moment der Irritation.

In «Die Großmutter im Kirschbaum» ist der Vater ein Herumtreiber, Mutter und Vater belauern sich gegenseitig und suchen die zusammengerollten Zehnmarkscheine an entlegenen Verstecken. Gegen Ende fragt die blasse, geschundene Mutter: «Wie fin­dest du meinen Bauch?», und das Mädchen muss ihn anfassen und loben. Die Mutter als Opfer und das Kind als Opfer der Mut­ter, das geht nahtlos ineinander über, und in «Samstag, zwanzig vor zwölf» hat es sich etwas verlagert: Die Mutter befiehlt dem Mädchen, sie zu kraulen, ihr die Kopfhaut zu massieren, und setzt es gleichzeitig unter Druck, noch rechtzeitig Leberwurst beim Schlachter zu holen – «und bring mir ja nicht die grobe» –, denn «jedes Mal, wenn sie von dem Franzosen nach Hause kommt, hat sie Appetit auf Leberwurst». Doch es ist vergeblich, der Schlachter hat längst zu, als das Mädchen endlich vom Kraulen der Mutter losgelassen ist. Die Lebensgier der Mutter ist verzweifelt und lässt dem Kind kaum mehr Luft zum Atmen.


Rätselhaftes Licht am Ende der Story

In «Ficken» tauchen weder Vater noch Mutter auf, sondern vor allem drei ungefähr elfjährige Kinder: Tadek, eine Art Anführer, das Mädchen und der Ich-Erzähler, der Freund Tadeks. Es ist eine gelangweilte, etwas aggressive Atmosphäre, im Sommer an der Ostsee, man trifft sich in einem Hof neben einer Kneipe und beobachtet die Müll­tonnen, in denen die Maden sich ständig vermehren. Der Erzähler beobachtet Tadek und das Mädchen am Strand, wie sie lange dasitzen und nichts tun, und als er hinzukommt und fragt, was sie da so trie­ben, sagt Tadek: «Ficken».

Dies steht in einer charakteristischen Spannung zum Schluss der Geschichte, als der Ich-Erzähler nach einigen Jahren zufällig wieder auf das Mädchen trifft: Er ist Polizist, und sie gibt an, vergewaltigt worden zu sein. Man weist ihr nach, dass sie das erfunden hat, aber dennoch bleibt ein rätselhaftes Licht am Ende dieser Geschichte. Es ist etwas nicht Fassbares, und es hat mit Sehnsüchten und mit Unheil zu tun.

Auch wenn Mutter und Vater fehlen, ist die Bedrohung da, das spezifisch Düstere und Verlorene dieser Kinderwelt. Die Maden tauchen in einer anderen Geschichte wieder auf, der Hof des Ostseelokals ebenfalls, und in zwei Geschichten wird das Mädchen als «Nummer vierunddreißig» eingeführt: Einmal wird sie in einem Kinderheim unter­gebracht, in einer anderen Geschichte kommt sie aus dem Knast in eine Erziehungsanstalt – die Nummer «34» verbindet die beiden Geschichten, die sich auf merkwürdige Weise ähneln und doch auch wieder ganz anders sind.

Honecker, der du hangest

Dieses Kompositionsprinzip ist wesentlich für Angelika Klüssendorfs Erzählungsband: Immer wieder sind Signale gesetzt, dass es sich um dieselbe Ausgangssituation handelt, und doch ist sie jedes Mal so variiert, dass die Figuren nicht mehr konkret erkennbar sind, sondern zu etwas Allgemeinem werden, zum Teil einer großen symbolischen Struktur.

Nur am Rande, durch einige kleine unverkennbare Details, blitzt auf, dass es um eine Kindheit in der DDR geht. Das Bild des Staatsratsvorsitzenden hängt ein paarmal suggestiv an der Wand. Doch die DDR scheint nur das Grundmaterial für eine Art von existenzieller Strafkolonie zu liefern. Die ins Abs­trakte tendierenden Figurenzeichnungen, das auf wenige Motive und Handlungen reduzierte Geschehen geht über eine konkrete zeitgeschichtliche Zuordnung hinaus. Das Trauma einer Kindheit in zerstörten sozialen Verhältnissen, pervertierte Gefühle, verquere emotionale Bindungen in der klassischen Mutter-Tochter-Vater-Konstellation: das erhält in diesen prismenartig konstruierten Texten eine kafkaeske Dimension, eine Form von Zeitlosigkeit.

Ohne großes Aufheben sind hier Ursache und Wirkung durcheinander geraten, ursprüngliche Handlungsabläufe außer Kraft gesetzt, die Grenzen von Wirklichkeit und Traum, Traum und Alptraum aufgelöst. Es entsteht ein surrealer Raum, so krude und wirklichkeitsfixiert die beschriebenen Situationen auch anmuten. Diese literarische Wirkung erfordert ein äußerst konzentrier­tes Schreiben.

Der Leser merkt schnell, dass es sich bei diesem Buch um eine Versuchsanordnung handelt, um eine ausgefeilte Konstruktion. Er merkt, welche Arbeit in dieser Sprache steckt, wie hier hin und hergewendet, geplant und skizziert wurde, um zu einer gewissen Form von Magie vorzudrin­gen – und stellt erstaunt fest, dass das tatsächlich funktioniert. Das Rätsel bleibt ein Rätsel, aber durch die literarische Form wird einem das erst bewusst.

 

Angelika Klüssendorf
Aus allen Himmeln. Erzählungen
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2004. 141 S., 14,90 €

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