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(picture alliance) Muss über den Ort schreiben, in den sie hineingestellt ist - Anna Katharina Hahn

Anna Katharina Hahn - Keine Angst vor den Abgründen

Einst floh sie aus Stuttgart zum Studium nach Hamburg. Als sie in die Heimat zurückkehrte, war sie zuerst gar nicht angetan. Warum die gefeierte Autorin Anna Katharina Hahn ausgerechnet über Stuttgart schreibt

Wenn man doch den Ton abstellen könnte. Presslufthämmer, Bohrer, kreischende Sägen. Nicht nur am berüchtigten Bahnhof ist Stuttgart unerträglich laut. Auch auf dem Schlossplatz wird der Boden aufgerissen. „Das gehört im Moment hier dazu“, entschuldigt sich Anna Katharina Hahn.

Stoisch setzen wir uns an einen Kaffeetisch und ignorieren den Lärm. Die 41-jährige Schriftstellerin bestellt eine Butterbrezel, und als ein paar Minuten später die Bauarbeiter eine Frühstückspause machen und plötzlich Pferdehufe klappern, glaubt man sich in einen Roman von Hermann Lenz versetzt.

„Wie in ‚Der Kutscher und der Wappenmaler‘“, meint Hahn begeistert, die Lenz sehr schätzt. „Er ist der große Stuttgart-Beschreiber und nimmt sich viel Zeit für Dinge, die niemand für beschreibenswert hielte. Diese Hingabe gefällt mir.“ Hahns erfolgreiches Romandebüt „Kürzere Tage“ von 2009 spielt ebenso wie ihr neues Buch „Am schwarzen Berg“ in ihrer Heimatstadt, aus der sie zum Studium nach Hamburg floh.

Ihr ältester Sohn wurde in Berlin geboren, und als die Familie ein paar Jahre später aus beruflichen Gründen wieder nach Stuttgart umzog, war sie zuerst gar nicht angetan. „Ich muss über den Ort schrei­ben, in den ich hineingestellt bin. Außerdem habe ich auf Stuttgart einen anderen Zugriff als zum Beispiel auf Hamburg, vielleicht hemmungsloser, weil hier Erinnerungsschichten lagern, außerhalb der Wahrnehmung“, sagt Hahn und schildert anschaulich, wie sie die Stadt dann doch ergriffen hat.

Mit Klischees wie der schwäbischen Putzmanie kann sie hingegen gar nichts anfangen. „Die strengste Kehrwoche musste ich unter den Augen von Arbeiterfrauen durchziehen in Hamburg-Bahrenfeld, einem klassischen Arbeiterbezirk mit roten Backsteinhäusern, hinter einer Margarine- und einer Gurkenfabrik.“

Aufgewachsen ist Anna Katharina Hahn in einem Vorort am Neckarhafen, in Hedelfingen: „Sehr hässlich, aber auf den zweiten Blick entdeckt man viel Schönes. Weinberge, Gärten.“ Inmitten von einem alten Garten steht auch das Haus des Ehepaars Emil und Veronika in Hahns neuem Buch. Den Echoraum der spannungsreichen Mischung aus Gesellschaftsroman, Entwicklungsgeschichte und Milieustudie bildet Mörike, auf dessen Gedicht „Am schwarzen Berg“ der Handlungsort anspielt. Emil ist Mörike-Experte und ein leidenschaftlicher Deutschlehrer kurz vor der Pensionierung.

Lesen Sie weiter, welche Abgründe sich bei den Figuren auftun

Seine Frau arbeitet in der Landesbibliothek. Jahrzehnte zuvor war das kinderlose Paar für den Sohn ihrer Nachbarn zu Ersatzeltern aufgerückt. Im Sommer 2010 ist Peter Anfang vierzig und selbst Vater. Eines Morgens beobachtet Emil, wie Peter lauter Plastiktüten ins Nachbarhaus trägt. Seine Familie hat ihn verlassen. In langen Rückblenden verdichtet sich die Geschichte von Peters Kindheit und Jugend.

„Für meine Figuren sind Erinnerungen sehr wichtig, weil sie ihre Liebe zueinander über einen langen Zeitraum entwickeln. Was uns mit unseren Liebesobjekten verbindet, ist ja vor allem die Rückschau. Es ist dieses Festhalten-Wollen, wie Goethe sagt ‚Augenblick verweile doch, du bist so schön‘. In diesem Augenblick des Verzückens und Verschmelzens möchte der Liebende verharren.“

Hahns Helden sind immer sehnsuchtsgetriebene, Trost suchende Menschen. Peter findet Erfüllung im Engagement für Stuttgart 21. Die Bewegung habe große basisdemokratische Verdienste, sagt die Schriftstellerin. „Es ging aber auch um Sinngebung, darum, etwas zu tun, was das eigene Leben bereichert und metaphysische Sehnsüchte stillt. Für Peter sind die romantischen, religiösen Aspekte wichtig, die Bäume, die Natur.“ Die Bäume im Schlosspark seien wie Totems gewesen, Monumente mit Kerzen und Blumen.

Anna Katharina Hahn macht vor Abgründen nicht halt, ohne je etwas Denunzierendes zu entwickeln. Emil und Veronika haben beide ein massives Alkoholproblem. „Angst ist eine Triebfeder des Schreibens, man will sie dadurch bannen. Emil und Veronika sind den Obdachlosen viel näher, als sie sich selbst eingestehen. Sie sind Kippfiguren und balancieren auf einem schmalen Grat. Daher rührt ihre Empathie. Manche macht die Brüchigkeit der Existenz wütend, diese beiden stimmt sie milde.“

In Hamburg arbeitete Anna Katharina Hahn lange an einer mediävistischen Dissertation über vorlutherische Bibelübersetzungen, ohne sie je abzuschließen, und hielt sich mit Bibliotheksdiensten und Erwachsenenbildung über Wasser. Prekariatsexistenzen und zerstörte Lebensentwürfe kennt sie auch aus ihrem Freundeskreis. Sie schaut genau hin.

Auch auf ihren täglichen Spaziergängen, bei denen sie nicht nur die Schauplätze ihrer Geschichten erforscht, sondern oft mit Leuten ins Gespräch kommt. Die Keimzelle ihres Erzählens sind meistens Bilder. „Ich bin eine große Sammlerin, eine Einsammlerin, weil ich alles, was so am Wegesrand liegt, mit nach Hause nehme. Bilder, Schnappschüsse, die ich aufschreibe. Ich führe eine Art Arbeitstagebuch. Es hat etwas von einem Messie, aber der Computer vermittelt mir den Anschein einer Ordnung.“

Die Bauarbeiter haben wieder mit der Arbeit begonnen, das Hämmern zerreißt die Stille über dem Schlossplatz, das Klappern der Pferdehufe ist längst verhallt. In Anna Katharina Hahns Romanen gibt es beides auf engstem Raum: Idylle und Schatten.

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