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Jeanette Winterson - „Warum glücklich statt einfach nur normal?“

Literatur kann Leben retten – Jeanette Wintersons Autobiografie zeigt, wie und warum

Autoreninfo

Elke Heidenreich, geboren 1943, ist Autorin, Kabarettistin und Journalistin.

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Der Titel dieses Buches ist wie ein Faustschlag: „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ Und der erste Satz ist auch nicht gerade beruhigend, er lautet: „Wenn meine Mutter böse auf mich war, was häufig vorkam, sagte sie: ‹Der Teufel hat uns ans falsche Bettchen geführt›.“

Im richtigen Bettchen hätte ein braveres Kind gelegen als diese Jeanette, die man als Säugling adoptierte und die so gar nicht in die fromme Pfingstlerfamilie in Manchester passte. Die Familie bestand aus Mrs Winterson, die ausdauernd und gern litt und täglich betete „Herr, lass mich sterben!“, und aus Mr Winterson, der nachts still zur Arbeit ging. War er endlich weg, tobte Mrs Winterson durchs Haus, kam er morgens um sechs Uhr zurück, legte sie sich schlafen. Nur ja nie gemeinsam im Bett liegen und, warnte sie ihre Adoptivtochter, „Lass dich nie da unten anfassen“. Die Pfingstler, die eine zentrale Beziehung zum Heiligen Geist haben, der an Pfingsten über alle Gläubigen einst ausgegossen ward, lassen sich vor der Ehe gar nicht und in der Ehe nur ungern „da unten“ anfassen. Sexualität, gar Homosexualität, wird möglichst nicht erwähnt, und die beiden Frauen, die gemeinsam einen Süßwarenladen führen und zusammen wohnen, frönen laut Mrs Winterson „unnatürlichen Leidenschaften“. Das Kind Jeanette vermutet, dass sie Chemie in ihre Süßwaren mischen.

Glücklich, das ahnt der Leser schnell, kann ein Kind in dieser Umgebung nicht aufwachsen, glücklich wuchs Jeanette Winterson auch nicht auf. Kein Wunder, dass das Kind auf die Frage: „Ist das deine Mama?“ einmal antwortet: „Meistens ja.“ Und der Vater? Schaut, selbst unglücklich, lieber nicht so genau hin.

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Viele Einzelheiten kennen wir schon aus dem Roman „Orangen sind nicht die einzige Frucht“, in dem Jeanette Winterson, sechsundzwanzigjährig, Teile ihrer Kindheit verarbeitete und der sie berühmt machte. Jetzt, fast dreißig Jahre später, bekennt sie sich autobiografisch zu dem ganzen Desaster.

Adoptiert von einer Frau, die keinen Sex wollte, aber ein Kind. Das Kind sollte Missionar werden, aber leider war man ja ans falsche Bettchen geraten, die kleine Jeanette zeigte keine missionarischen Züge, sondern war so aufsässig, dass man sie tage- und nächtelang im Keller oder auf der Treppe vor der Haustür ein- bzw. aussperren musste. Gebetet wurde viel, in die Kirche gegangen auch, lesen lernte Jeanette anhand der Bibel, Schule galt als „Brutstätte“, und andere Bücher durften nicht gelesen werden, denn, so Mrs Winterson: „Das Problem mit einem Buch ist, dass man nie weiß, was drinsteht, bis es zu spät ist.“ Zu spät wofür?, fragt sich die kleine, tief einsame und unglückliche Jeanette und beginnt nun natürlich heimlich zu lesen. Sie liest, was immer sie kriegen kann, vor allem die Bücher aus der Gemeindebibliothek, Englische Literatur von A-Z. Sie fängt vorn an, und schon bei Austen eröffnet sich ihr eine Welt. Charlotte Brontë! Coleridge! Mansfield! Was für Wunder waren zu entdecken und welche Hilfen! Das junge Mädchen erkennt bald, wie recht Mrs Winterson hatte: „Ja, die Geschichten sind gefährlich. (…) Ein Buch ist ein fliegender Teppich, der einen davonträgt. Ein Buch ist eine Tür. Man öffnet sie. Man tritt hindurch. Aber kommt man je zurück?“

Ich sitze da mit dem Buch auf dem Schoß und denke an meine eigene lieblose Nachkriegskindheit, vor der mich auch nur die Bücher retteten. Ich war das Kind, das immer still in der Ecke las. Und dann passierte mir genau das, was Jeanette Winterson passierte: Ich las mich weg aus der Welt, in der ich leben musste, und konnte nicht mehr zurück. Ich verließ mein Elternhaus mit fünfzehn Jahren, sie das ihre mit sechzehn. Und all diese alten Wunden reißt mir Wintersons Buch wieder auf, aber es liefert mir auch den Trost: dass es richtig war, zu gehen, und dass das, was man im Kopf hat, von niemandem zerstört werden kann. Mrs Winterson kommt eines Tages dahinter, dass die Tochter unter der Matratze eine ganze Lage Bücher versteckt, allesamt keine frommen Schriften, sondern Romane, etwa D. H. Lawrence, „Liebende Frauen“. Die Bücher werden im Garten verbrannt, und Winterson schreibt: „Eine Zeitlang war ich sehr still, aber mir war etwas Wichtiges aufgegangen: Was immer außen ist, kann einem jederzeit genommen werden. Nur was man im Innern hat, ist sicher.“

Selten habe ich ein eindringlicheres Plädoyer für die Literatur gelesen als in der Beschreibung dieses zerrissenen Lebens. Weil die Worte so wichtig waren, wurde Winterson Schriftstellerin. Nur den Worten traute sie noch, nicht der Liebe: Wenn man als Kind unzuverlässige, willkürlich zugeteilte und entzogene Liebe erfährt, bleibt Misstrauen fürs ganze Leben. Auf die Schriftsteller ist mehr Verlass. Bei Mrs Winterson rangierten sie unter „nicht normal“, und dass Jeanette einfach nur ein glücklicher kleiner Mensch sein wollte, ließ Mrs Winterson verzweifelt ausrufen: „Warum glücklich, statt einfach nur normal?“ Gegen so einen Satz anzuleben, ist schwer. Jeanette Winterson hat es geschafft und schildert in diesem Buch die Krise, die sie mit Anfang fünfzig fast noch das Leben kostete. 2008 will sie ihrem Leben ein Ende machen. Als sie nach dem Versuch wieder zu sich kommt, begreift sie das als zweite Chance, ihr Leben anzunehmen mit allem dazugehörenden Chaos. Nun sucht sie ihre leibliche Mutter, von der Mrs Winterson behauptet hatte, sie sei tot. Im Nachlass finden sich winzige Hinweise, der letzte Teil der Autobiografie schildert die Odyssee durch Ämter und Behörden und die verzweifelte Angst vor jedem weiteren Schritt in die Vergangenheit.

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Und Jeanette Winterson findet ihre leibliche Mutter, begreift, dass sie trotz allem gewollt war und geliebt wurde. Sie lebt heute in einer glücklichen Beziehung mit einer Frau, und ihre leibliche Mutter findet diese Art Glück durchaus normal… Endlich kommt das Herz zur Ruhe. Endlich normal? Endlich glücklich? Sie ist endlich bei sich selbst angelangt und schreibt nun zu ihrem Roman „Orangen sind nicht die einzige Frucht“: „Oft fragt man mich, bitte ankreuzen, was an den ‹Orangen› ‹wahr› ist und was nicht.“ Und sie zählt auf, was wahr ist, was erfunden – wie die Figur der mitfühlenden, künstlerischen, aus der Rolle fallenden Elsie, in „Orangen“ dem Kind Trost und Freundin. Jeanette Winterson schreibt: „Eine Elsie gab es nicht. Es gab niemand Vergleichbares. Die Dinge waren sehr viel einsamer bestellt.“

Dieses Buch ist die wahre Geschichte einer großen, grausamen Einsamkeit, einer Kindheitshölle ohne verlässliche Koordinaten. Wären die Bücher nicht gewesen, Jeanette Winterson hätte vermutlich nicht überlebt, ihre Seele wäre erfroren, ihr Verstand verkümmert in der frömmelnd lieblosen Umgebung dieser armseligen Mrs Winterson mit ihrer Todesangst vorm Glück. Glück? Wahrscheinlich auch eine „Brutstätte“.

Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal? (Hanser)„Warum glücklich statt einfach nur normal?“ ist ein mutiger Wurf. Egal, was das Leben uns zumutet: Es gibt Geländer über jedem Abgrund. Bücher können solche Geländer sein, Kreativität ist eines: „Die Kreativität steht auf der Seite der Gesundheit – nicht sie treibt uns in den Wahnsinn; sie ist die Fähigkeit in uns, die uns vor dem Wahnsinn zu schützen versucht.“

Jetzt erst, glaube ich, nach dieser radikalen Aufarbeitung ihrer Anfänge, kann Jeanette Winterson als empfindsame Schriftstellerin richtig loslegen. „Ich habe keine Ahnung, was als Nächstes passiert“, lautet der letzte Satz. Vielleicht ein Roman weg vom eigenen Leben, aber getragen von all der Süße und der Bitterkeit, die nötig waren, um so weit zu kommen. Nichts, was wir erleben, ist verloren.

Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal? Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Hanser Berlin, München 2013. 356 S., 18,90 €

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