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(picture alliance) 60 Minuten, sechs Gäste, höchstens zehn Sätze: Polittalk im Ersten, hier bei Günther Jauch

Politsendungen - Ist die Talkshow zu flach, ist der Zuschauer zu doof

Es ist die Gretchenfrage des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Warum kommt die politische Information in den Talkshows von ARD und ZDF immer zu kurz? Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und ARD-Chefredakteur Thomas Baumann wussten warum: wegen des Publikums

Politische Talkshows? Der oberste Herr unseres Parlaments wendet sich mit Grausen ab. Als Norbert Lammert einmal gefragt wurde, ob diese ein Stück politischer Kultur widerspiegelten, sagte er: „Die wichtigste Aufgabe des Moderators scheint darin zu bestehen, spätestens dann einzugreifen, wenn sich zu einem ernsthaften Thema eine ernsthafte Debatte entwickelt“. Niemals werde man den Bundestagspräsidenten deshalb in solchen Sendungen finden. Wo es „vor allem um Unterhaltung und weniger um Information“ gehe, da glänzt der zweite Mann im Staate mit Abwesenheit.

Wenn es nach Lammert ginge, würde nicht nur die ARD live aus dem Bundestag senden. Nein, das TV-Publikum würde wieder beglückt werden mit Debatten – langen, sachlichen, relevanten. Etwa solchen wie zu Zeiten von Abraham Lincoln und Stephen Douglas. Das waren Sternstunden der Rhetorik: Der Republikaner und der Demokrat lieferten sich 1858 sieben öffentliche, meist frei gehaltene Rededuelle – zu Außenpolitik, Sklaverei, Diskriminierung –, die sich über Stunden hinzogen und in allen großen US-Zeitungen abgedruckt wurden.

Und wie hat sich seitdem die Debattenkultur fort-, man müsste fast sagen rück-entwickelt. Fünf Tage, 60 Minuten, in der Regel vier bis sechs zurechtgepuderte Gäste, und dann hopp, ein Statement, höchstens zehn Sätze. Dazwischen Applaus-Häppchen und Zuckerl-Videos. Die Botschaft: Allzu schwere politische Kost verträgt das Publikum nicht.

Politik wird so zum Mittel der Unterhaltung, moniert Bundestagsvize Wolfgang Thierse, als er am Donnerstag bei dem Streitgespräch „Politische Talkshows – Information oder Inszenierung?“ des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags referiert.

Sein Gegenüber, ARD-Chefredakteur Thomas Baumann, spricht lieber von „sogenannten Talksendungen“ und bevorzugt den Begriff der „politischen Gesprächssendungen“. Dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nur auf Quote fixiert seien, glaubt er nicht. Zum Beispiel die Sendung von Anne Will am Dienstagabend: „Die Redaktion hätte sonst wohl nicht kurzfristig von Rommel auf Jonny K. gewechselt.“ Was an einer Gewalt-Prügel-Blut-Sendung über das Berliner Mordopfer so viel weniger quotenorientierter sein sollte als an der Geschichte über Hitlers Afrika-Generalfeldmarschall, ließ der Fernsehmann indes offen. Blöd auch: Der Talk wurde wegen des DFB-Pokalspiels – so wie schon Maischberger am Vortag – weit in die Nacht hinein verschoben. Auf 00:15 Uhr.

Die fünf politischen Talkshows im Ersten („Günther Jauch“, „Beckmann“, „Anne Will“, „Menschen bei Maischberger“ und „Hart aber fair“) stehen sogar bei der ARD zur Disposition. Höchstens vier, vielleicht also auch nur drei, wünscht sich Programmdirektor Volker Herres, wie der Spiegel in dieser Woche berichtete.

Auch wenn Thierse tapfer dagegenhält, kommen die Diskutanten zum Konsens: Der Zuschauer ist irgendwie selber schuld. Und das aus mehreren Gründen:

1. Das immer knappere Zeitbudget für politische Bildung (Baumanns Lieblingsargument!). Die Menschen müssen immer länger arbeiten und in der Freizeit gibt es immer mehr Ablenkung, etwa im Netz. Information über Politik fällt da hinten runter.

2. Daraus folgt: die immer knappere Aufmerksamkeitsökonomie. Langatmige Formate haben in Zeiten schneller Schnitte, rasanter Onlinemedien und noch kürzerer Tweets keinen Platz mehr. Thierse widersprach: „Ich mache seit langem eine Veranstaltung im Prenzlauer Berg mit einem Diskutanten. 90 Minuten – das funktioniert!“ (Nota bene: Die paar Dutzend Zuhörer dort repräsentieren sicher nicht das Publikum der Öffentlich-Rechtlichen.)

Seite 2: Wulff-Talks führten zu Rekord-Quoten

3. Noch drastischer sei das Desinteresse der Jüngeren. Top-Quoten erreichen dort Serien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ oder Reality-Soaps wie „Bauer sucht Frau“. Nicht einmal sieben von 100 schauten in der werberelevanten Gruppe 14 bis 49 noch Günter Jauch, sagt Baumann.

4. Bestehende Angebote werden nicht genutzt. Phoenix überträgt alle Bundestagsdebatten, zusätzlich weisen die Morgenmagazine von ARD und ZDF auf diese Sendeplätze hin. Das Publikum ignoriert diese Angebote jedoch komplett (sofern man nicht das Publikum im Berliner Regierungsviertel meint).

5. Je menschlicher eine Geschichte, je stärker die Personalisierung, desto höher die Zuschauerzahlen. Im Januar und Februar beschäftigten sich die Jauchillnerplasbergmaischbergers fast nur mit Christian Wulff. Die Hauskredit-Anruf-Gefälligkeits-Affären des Ex-Bundespräsidenten führten zu Rekord-Einschaltquoten.

6. Ohne Zuspitzung ist der Zuschauer weg (oder döst ein). Deswegen müssten Laber-Gäste unterbrochen, die Diskussion mit brisanten Filmchen wieder „angeschoben“ (Baumann) werden.

7. Der Zuschauer glaube, dass derjenige Politiker, der „nicht in den Medien stattfindet“, untätig sei, sagt Thierse. Deswegen machen die Politiker immer wieder mit. Eine Endlos-Schleife, angefeuert vom Publikumsinteresse.

Also: Selbst schuld, blöder Zuschauer? Thierse versucht es noch einmal mit einem klugen Ausweg – indem er die Quote als Indikator für politische Meinungsbildung selbst hinterfragt. „Was sind überhaupt Maßstäbe für die Qualität einer Sendung?“ Eine gute Frage, die leider auch nach dieser Diskussion unbeantwortet bleibt.

Immerhin hat ARD-Chef Baumann es nach den zwei Stunden geschafft, seinen Talksshows ein neues Etikett anzukleben: Sowohl der Moderator als auch der Bundestagsvizepräsident sprechen am Ende nur noch von „politischen Gesprächssendungen“.

Ob Stefan Raab den Begriff wohl auch übernehmen wird? In eineinhalb Wochen startet sein Polittalk „Absolute Mehrheit – Meinung muss sich wieder lohnen“ auf Pro Sieben. Hier muss sich dann der Zuschauer entscheiden: Er kürt den besten Polit-Talker unter den Gästen. Wer am Ende die meisten Stimmen auf sich vereinigt, heimst den Geldgewinn ein.

Thomas Baumann hatte das Konzept im Vorfeld heftig kritisiert. Raab sagte dazu nur: „Findet die ARD etwas scheiße, wird’s ein Kracher.“

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