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(Foto: Ausgburger Puppenkist / Movies TV/DEFD) Im Zickzack durch Lummerland

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Wie Michael Ende seine Helden Jim und Lukas gegen die Evolutionstheorie antreten lässt

Mitten in der Wüste, nachdem ihm schon mehr als eine Fata Morgana die Sinne verwirrt hat, sieht Jim Knopf einen bärtigen Mann «von so ungeheurer Größe, dass selbst das himmelhohe Gebirge ‹Die Krone der Welt› neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt hätte». Doch als der Riese näherkommt, schrumpft er Schritt für Schritt, bis er kaum größer ist als Lukas, der Lokomotivführer. Er entpuppt sich als friedlicher Greis, führt Jim und Lukas zu seiner Oase und weist ihnen den Weg in Richtung Drachenstadt. Später wird er als lebendiger Leuchtturm eingesetzt – eine geniale Stadtplanungsidee im winzigen Königreich Lummerland, da dieser Herr Tur Tur weithin sichtbar ist, aber nur wenig Platz in Anspruch nimmt.

Mit dem Scheinriesen im Hinterkopf könnte man Julia Voss’ neues Buch einen Scheinzwerg nennen: Auf den ersten Blick ist es einfach ein kompakter Kommentar zu einem Kinderbuch; doch je näher man sich damit beschäftigt, desto weiter wird Schritt für Schritt sein Horizont, desto abgründiger werden seine Themen, desto verzweigter die Kontexte, die es erschließt. «Darwins Jim Knopf», so der Titel, spannt mit der Evolutionstheorie des englischen Naturforschers und den Abenteuern des fiktiven Lummerländers zwei denkbar weit entfernte Pole zusammen, und es kreist um einen dritten. Zwischen Darwin und Jim Knopf liegt das «Dritte Reich».

Michael Ende, Jim Knopfs Erfinder, ist 1929 geboren, im selben Jahr wie Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf oder Hans Magnus Enzensberger. Die «Deutschen von 1929», schrieb kürzlich der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, haben sich «zur unschlagbar nachhaltigsten Generation der jüngeren Nationalgeschichte entwickelt»: alt genug, um die Nazizeit bewusst zu erleben, jung genug, um nicht als schuldig zu gelten, im richtigen Alter, um ein Erwachsenenleben der Aufarbeitung zu widmen. Dass Michael Endes Werk nicht weniger Prägekraft entfaltet hat als die Soziologien Habermas’ und Dahrendorfs oder auch Enzensbergers Gedichte, dürfte einleuchten: «Jim Knopf» (1960/62), «Momo» (1973) und «Die unendliche Geschichte» (1979) sind ewige Bestseller, und sie gehören – dank der Augsburger Puppenkiste und dem Filmproduzenten Bernd Eichinger – zum Bild-Inventar der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte.


Botengänge für die Pazifistengruppe

Weniger bekannt ist, dass schon Michael Endes Kindheit ihn zu einem typischen «29er» macht. 1935 brandmarkten die Nazis die Bilder seines Vaters, des Künstlers Edgar Ende, als «entartet»; 1936 wurde Michael Pimpf bei der Hitler-Jugend. Mit sieben Jahren sah er Hitler die Münchner «Große Deutsche Kunstausstellung» eröffnen, mit acht jubelte er in der Menge dem «Führer» zu, als Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich bei der Vier-Mächte-Konferenz das Sudetenland abtraten. Als der Gymnasiast die Sommerferien 1943 bei den Großeltern in Hamburg verbrachte, flogen die Alliierten die bis dahin schwersten Luftangriffe der Geschichte gegen die Hansestadt. Kurz vor Kriegsende kam der Einzugsbefehl für den 15-Jährigen. Er floh – und erledigte Botengänge für eine kleine bayerische Pazifistengruppe. Verständlich, dass Michael Ende später nicht nur Erwachsenen, sondern auch Kindern bescheinigte, mit dem System verstrickt gewesen zu sein. «Was KZ bedeutete», sagte er im Rückblick, «wussten wir natürlich.»

Zwölf Jahre nach der Kapitulation schließt der Autor ein fünfhundertseitiges Manuskript ab – und lässt darin Jim und Lukas mit der Lokomotive Emma auf eine «riesige, rußgeschwärzte Höhlenöffnung» zurollen, «aus der es ein wenig herausrauchte wie aus einem Ofenloch». Über der Einfahrt hängt ein Schild mit der Aufschrift «! Achtung ! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten».


Vom Seestern bis zu den Völkern Europas

«Jim Knopf» – so zeigt diese Studie in einem ersten Schritt – ist weder ein harmloses Märchen noch Weltflucht-Literatur; kein «Opium für Kinder», wie sozialrealistisch orientierte Kommentatoren der siebziger Jahre ätzten. Julia Voss lenkt den Blick auf Details, die Michael Ende der NS-Wirklichkeit entnommen hat. Die «Rauch- und Gasschwaden» in der Drachenstadt Kummerland erinnern an die Schlote der Todesfabriken. Das Schild, das Jim und Lukas mit ihrer Lokomotive passieren, entspricht Warnungen wie «! Juden ! sind hier unerwünscht» in zeitgenössischen Kinderbüchern wie an realen Ortseingängen. Von der Rassenpolitik in Kummerland ausgeschlossen, fristet der «Halbdrache» Nepomuk – seine Mutter ist ein Nilpferd – ein verschämtes Dasein. Dass er seinen Vul­kan nicht drachengemäß zum Brennen bringt, empfindet er als «Schande»; ein Echo der «Rassenschande» aus der Sprache des «Dritten Reiches». In der Schule von Kummerland führt der Drache Frau Mahlzahn ein terroristisches Regiment, und der Toten­kopf an ihrer Tür lässt den sensibilisierten Leser an den Totenkopf­ring von Himmlers SS denken. Eine Kindergeschichte, durchwirkt vom «bitteren Ernst von Leben und Tod».

Das «Dritte Reich» – so ein nächster Schritt der Studie – ist vom Darwinismus nicht zu trennen. Diese Verknüpfung stammt al­lerdings von den Nazis selbst: Für den Vorsitzenden des NS-Lehrerbundes hieß Nationalsozialismus nichts anderes als «poli­tisch angewandte Biologie». Was Hitler in «Mein Kampf» noch zu phantasieren schien, wurde 1933 zur herrschenden Ideologie und zwei Jahre später verbindlicher Unterrichtsstoff: Die Reinheit des deutschen «Volkskörpers» sollte durchgesetzt werden, legitimiert durch eine «Rassen- und Erblehre», die die Menschenarten in ein großes Kontinuum der Natur stellte: «Von der Eiche im deutschen Wald über den Seestern in der Nordsee bis zu den Völkern Europas und der Welt unterlag alles Organische dem ‹Gesetz der Auslese des Gesunden und Lebensstarken›.» So weit, so bekannt. Neu ist die Konstellation, die Voss entwirft: Es ist das umfassende Züchtungsprogramm der Nazis, das Michael Ende in der Schule lernte; noch im Alter machte er als letztlich Verantwortlichen den Gründer der Evolutionstheorie aus. «Die Idee des Rassismus und der Rassendiskriminierung», meinte er 1991, «entstand durch das Weiterdenken von Darwins Theorien.»


Von Rüben, die in Tränen ausbrechen

Mit seinem Antidarwinismus aber – dies der dritte Schritt – steht Michael Ende Darwin selbst näher als mancher Darwinist. Während etwa der deutsche Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919) die Entwicklung der Arten als knorrige deutsche Eiche darstellte, als organische Fortschrittsgeschichte mit der Menschheit als Krone, kennt die Evolution, wie Darwin sie konzipiert, keine Krönung, kein Ziel, sondern nur Zickzack. Sie wird durch Variation und Zufall ebenso bestimmt wie durch Auslese. Und diese besteht eben nicht in einem «Kampf ums Dasein», den Sozialdarwinisten noch aufs gesellschaftliche Feld erweitern, sondern in einem «struggle for existence», der mehr mit «sich Durchschlagen» zu tun hat als mit einer überzeitlichen «Gladiatorenarena».

Zu den anregendsten Passagen des Buches gehört der Nachweis, wie direkt Darwins «Entstehung der Arten» (1859) in der zeitgenössischen Kinderliteratur aufgenommen wurde. Dass Kinderzimmer bis heute nicht nur von Rittern oder alten Römern bevölkert werden, sondern auch von Mammuts, Säbelzahntigern und Tyrannosaurus Rex, hat seinen Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Kinderbücher wie «The Water Babies» (1863) des englischen Autors Charles Kingsley erzählen von Wesen namens «Do­asyoulikes», die einst Menschen waren, wegen ihres schlechten Betragens aber zu Affen werden – oder von sprechenden Rüben, die in Tränen ausbrechen, weil ihr Gehirn nicht groß genug ist, um Wissenschaft zu betreiben. Darwin und Kingsley schrieben einander Briefe; nicht nur deshalb liegt es nahe, in Büchern wie «The Water Babies» eine Reaktion auf Darwins Überzeugung zu sehen, «dass es nur fließende Übergänge in der Natur gebe, aber keine kategorialen Unterschiede».

Die freundlichen Mischlinge im Universum von «Jim Knopf», der Halbdrache Nepomuk, der Schildnöck Uschaurischuum oder die Meerprinzessin Sursulapitschi, müssten also nicht im Namen des Antidarwinismus auftreten, im Gegenteil: Die Evolutionstheorie, lange vor Haeckel oder Hitler, hat ihre phantastische Seite. Für Michael Ende sind die Phantasiewesen Bestandteil seiner Umschrift der liebsten Nazi-Mythen: Während Siegfried, der sagenhafte Drachentöter, in den 1930er, vierziger Jahren zum realen Heros aufstieg, lässt Michael Ende einen kleinen, schwarzen Jungen den totalitär herrschenden Drachen besiegen, welcher sich schließlich in einen chinesischen Drachen der Weisheit verwandelt. Und während Atlantis in den Jugendbüchern der Nazizeit als Eiland der Herrenrasse galt, endet «Jim Knopf und die Wilde 13» in einer kosmopolitischen Utopie. Hier heißt Atlantis Jimballa: ein neuer Kontinent, wo weiße, gelbe, schwarze Kinder Platz finden.


Die Fahrt des Jemmy Button

So weit also Darwin, wie Jim Knopf ihn sich anverwandelt. Warum lautet der Titel des Buches dann umgekehrt «Darwins Jim Knopf»? Julia Voss, ähnlich wie der Scheinriese Tur Tur, stellt die Perspektive auf den Kopf: Spezialisten mögen von der Existenz eines realen Jungen namens Jemmy Button gewusst haben – Voss erkennt in ihm das historische Vorbild für den Helden der Kindergeschichte. Kaum 14 Jahre alt, wurde der Feuerländer Jemmy im Frühjahr 1830 von Engländern für den Preis eines Knopfes (button) gekauft, nach Großbritannien verschleppt und dort, wie es in der kolonialen Logik hieß, erzogen. Im Dezember 1831 stach Kapitän FitzRoy erneut in See; an Bord des Expeditionsschiffes HMS Beagle befand sich abermals Jemmy – und ein gewisser Charles Darwin, der dem Feuerländer einige Seiten in seinem Reisebericht «Die Fahrt der Beagle» (1839) widmete. Von nun an führte der Junge ein Eigenleben in historischen Sachbüchern und Romanen. Diesem spürt Voss bis zu Michael Ende nach: Jim Knopf trägt den Namen Jemmy Buttons, auch er wird mit einem Schiff entführt und in eine Art Miniatur-England namens Lummerland verbracht, auch er wird alsbald dem König vorgestellt – nicht King William, sondern Alfons dem Viertelvorzwölften –, und Feuerland ist der Name der Wüste des Herrn Tur Tur. So wird Darwins Werk tatsächlich zum Ursprungsort der Saga von Jim Knopf.

Dieser Fund mag für Julia Voss den Anstoß gegeben haben, das kleine Buch zu schreiben. Zu Darwin selbst hat die 35-jährige Journalistin und Kunsthistorikerin bereits mehrere Studien vorgelegt; im Oktober wird sie von der Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet (der bislang in der Regel weißhaarigen Herren vorbehalten war).

Was die Autorin aus der geheimen Geschichte des Jemmy Button macht, ist jedenfalls das Ergebnis souveräner Materialbeherrschung, einer Gabe zur akribischen wie phantasievollen Kombination und einer klaren, leichten Sprache. Unter dem schlichten Titel «Darwins Jim Knopf» öffnet sich ein ganzer Assoziationsraum. Darin erscheint ein Kinderbuchautor, der, während die vermeintlichen Großautoren seiner Generation eine von den Nazis beschädigte Rationalität erneuern wollten, ein ähnliches Projekt auf einem anderen Feld verfolgte: die Erneuerung des beschädigten Mythos durch eine Gegen-Erzählung eben nicht nur für Kinder. Und die Wandlungen der Darwin’schen Theorie stimmen nachdenklich: Die NS-Politik mag die Herrschaft des Biologischen zu einem perversen Höhepunkt geführt haben; doch ist eine Gegenwart, die die Biowissenschaften zu Leitwissenschaften erklärt, dieser Herrschaft ganz entronnen?

 

Julia Voss
Darwins Jim Knopf
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 184 S., 17,95 €

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