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(Verlag Galiani Berlin) Schon vergessen? Douwe Draaisma weiß, warum sich Erinnerungen ständig verändern

Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens - Im Labyrinth des Gehirns

Ist das Gehirn denn nichts weiter als ein Labyrinth des Vergessens? Douwe Draaismas begibt sich in „Das Buch des Vergessens“ auf einen Streifzug durch das „kollektive Gedächtnis“ und sammelt Anekdoten über das Funktionieren und Versagen des Gehirns

Während der Konferenz hat Ihr Kollege einen brillanten Einfall – mit einem einzigen Schönheitsfehler: eigentlich stammt die Idee von Ihnen, Sie hatten sie gerade gestern noch in der Runde geäußert. Der niederländische Wissenschaftshistoriker Douwe Draaisma erklärt dies nicht durch den Geltungsdrang Ihres Kollegen, sondern durch ganz alltägliche Kryptomnesie. Dieses Phänomen, so erfährt man im „Buch des Vergessens“, komme zustande, da unsere verschiedenen Gedächtnisprozesse nur selten vollständig kongruent ablaufen. So lagert etwa das Wissen der Art „Rom ist die Hauptstadt Italiens“ im semantischen Gedächtnis, während die Erinnerung an den Lehrer, der uns das in der dritten Klasse verraten hatte, im autobiografischen Gedächtnis gespeichert wird. Im ärgerlichen Fall Ihres Kollegen, war, wie üblich, das semantische Gedächtnis stärker als das autobiografische. Die Erklärung dafür liefert die Evolution: Der Mensch im Fellgewand geriet mehrmals täglich in Lebensgefahr und musste mit seinem Konzentrationskontingent haushalten, um dem Raubtier oder dem Feuer zu entkommen. Es wäre fatal gewesen, hätte er erst noch überlegt, wer ihm die Überlebensstrategie einst beigebracht hatte.

Eine ganz und gar ähnliche Dialektik von Vergessen und Erinnern findet Draaisma in etlichen anderen Gedächtnisprozessen. In seinem Streifzug durch Medizin-, Kultur- und Alltagsgeschichte widmet er sich unter anderem dem pathologischen Gedächtnisverlust bei Alzheimer- und Korsakov-Patienten, der Flüchtigkeit unserer nächtlichen Träume oder der Unzuverlässigkeit subjektiver Erinnerungen, an denen sich Péter Esterházy in seinem Roman «Verbesserte Auflage » abgearbeitet hat. Vor allem aber geht es um das «kollektive Gedächtnis», das sich selbst verkennt, wenn es das Vergessen als seine bloße Fehlfunktion begreift. So grassiere noch immer der «Mythos vom absoluten Gedächtnis », demzufolge jedes Erleben, jede Wahrnehmung und jeder Gedanke an irgendeinem Ort im Geist verbleibt.

Draaisma setzt ganz auf sein erzählerisches Talent, um diesen Mythos zu entzaubern. Obwohl es bisweilen etwas an argumentativer Klarheit mangelt, liest man sich sofort fest in den glänzend geschriebenen Fallstudien über Hirnforscher und deren menschliche Versuchskaninchen oder in dem Porträt eines längst vergessenen medizinischen Autodidakten namens Arthur Wigan, der im viktorianischen England seine eigene schauerromantische Theorie von Geist und Gehirn aufstellte. Der von Draaisma immer wieder kritisch aufgegriffene Ariadnefaden durch dieses Labyrinth des Vergessens ist aber die Pychoanalyse. In Freud sieht Draaisma den prominentesten Wegbereiter der Idee vom absoluten Gedächtnis. Die Lehre vom Verdrängen fuße von Anfang an auf der hypothetischen Vorstellung, dass unser Hirn über eine unendliche Speicherkapazität verfüge. Auch Freud-Skeptiker, etwa die Anhänger der feministischen Recovered-Memory-Bewegung, glaubten, dass alles, was einst war, irgendwo geblieben sein müsse, und verdeckt oder verschüttet sei.

Ungefähr ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen der «Traumdeutung» erhielt die Psychoanalyse Unterstützung von einer Konkurrenzdisziplin. Der kanadische Neurochirurg Wilder Penfield hatte bis Mitte des 20. Jahrhunderts mehrere hundert Epilepsie- Patienten bei klarem Bewusstsein operiert. Nachdem die Schädeldecke unter örtlicher Betäubung abgenommen worden war, wurden die Windungen der freiliegenden Hirnoberfläche mit einer Elektrode abgetastet. Gleichzeitig musste der Patient Rückmeldung über seinen Zustand erstatten. Je nachdem, welches Hirnareal stimuliert wurde, fühlten sich manche vom OP-Tisch in ihr altes Kinderzimmer versetzt, andere hatten ein Lied so genau im Ohr, dass sie es laut mitsangen. Die Freudianer jubelten. Penfield galt ihnen nicht nur als «the greatest Canadian alive», sondern als «Proust im Operationsaal», schien er doch den neurologischen Mechanismus hinter der Theorie vom verdrängten, aber niemals verlöschenden Bewusstseinsinhalt entdeckt zu haben. Mit Knochensäge und Elektronadel ausgerüstet beförderte Penfield innerhalb weniger Minuten Erinnerungen zu Tage, nach denen Psychoanalytiker über Monate, gar Jahre bei ihren Couchbesuchern suchen mussten.

Douwe Draaisma enttarnt diesen vermeintlichen Erfolg allerdings als bloßes Wunschdenken. «Die alte griechische Vorstellung vom horror vacui, der Angst vor der Leere», heißt es am Ende des Kapitels über Penfield, sei in dem psychoanalytischen Glauben an ein «Hirn, das nichts vergisst, noch immer präsent». Angesichts der chaotisch-großartigen Überfülle an Fakten, Kuriositäten, Betrachtungen und Exkursen, die sich auf knapp 350 Seiten im «Buch des Vergessens» aneinanderdrängen, scheint es indessen so, als habe der horror vacui hin und wieder auch den Autor Draaisma selbst befallen.

Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens – Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern, Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Galiani, Berlin 2012. 341 S., 19,99 €

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