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(picture alliance) Der Guns N' Roses-Sänger Axl Rose ist einer der Protagonisten, denen sich John Jeremiah Sullivan in seinen Essays widmet

Essayist John Jeremiah Sullivan - Im Innern eines Holzstoffkopfs

Nur augenscheinlich handelt es sich hier um Popjournalismus. Der Südstaatler John Jeremiah Sullivan, der Essays schreibt wie Kurzgeschichten, avanciert zu einem verkappten Chronisten der USA der Gegenwart. Er versucht, die Gesellschaft zu begreifen

Ein pulphead war in der amerikanischen Umgangssprache des frühen 20. Jahrhunderts jemand, der besessen Zeitungen und Magazine liest und überall mitredet, obwohl er von den meisten Dingen nur eine oberflächliche Ahnung hat. In dem Wort steckt der Holzstoff, woodpulp, aus dem früher das grobe, gelbliche Papier besagter Druckerzeugnisse gemacht wurde. Heute ist der Begriff außer Gebrauch. Deshalb stößt, wer pulphead in die Suchmaschine eingibt, eigentlich immer auf das gleichnamige neue Buch des amerikanischen Reporters, Schriftstellers und Essayisten John Jeremiah Sullivan. Dass Sullivan den Holzstoffkopf wieder ausgegraben hat, passt zur Obsession, mit der der Autor obskuren und teils längst vergessenen Phänomenen der amerikanischen Popkultur begegnet. 

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Mit «Pulphead» meint der Autor also auch sich selbst: Er schreibt über den Sänger Axl Rose und über 8000 Jahre alte Höhlenmalereien in Tennessee, erörtert die Frage, wie sich in Disneyworld ein Joint rauchen lässt, und denkt über Reality-TV und die Tea-Party-Bewegung nach. Natürlich kann er nicht auf all diesen Gebieten Experte sein. Er soll es aber auch gar nicht – die Experten, das sind in Sullivans Geschichten immer die anderen. Er spürt sie vor Ort, etwa in der amerikanischen Provinz, auf, oder entdeckt sie Büchern; den Gitarristen John Fahey lernt er kennen, weil er von einem Magazin mit dem fact-checking eines Artikels über Country-Blues beauftragt worden ist. Sullivan porträtiert die Sammlerleidenschaft solcher Figuren sowie ihr Auskennertum – und wird darüber zum teilnehmenden Beobachter ihrer komplexen Gedankengänge.

Zum Beispiel Dana Gregory: Sullivan begegnet ihm während einer Recherche über den Sänger der Guns’N Roses, im gottverlassenen Central Indiana, nicht weit von dort, wo der Autor selbst seine Jugend verbracht hat. Gregory, ein Sandkastenfreund von Axl Rose, hat einen Haufen Geschichten und Details aus der Frühphase der Band zu erzählen, an die sich Axl selbst garantiert nicht mehr erinnern würde. Als Sullivan einige Zeit später ein Konzert der Guns’N Roses besucht, erblickt er in der grotesken Bühnenshow des rockviechartigen Sängers («Für mich sieht er aus, als würde er eine Axl-Rose-Maske tragen.») vor allem eines: Central Indiana. «Axl Rose» ist die Überlebensstrategie von jemandem aus Central Indiana, er ist das Symptom eines geografischen Nirgendwo.

Seite 2: Das düstere Bild des gegenwärtigen american way of life

Was oberflächlich nach Popjournalismus aussieht, ist ein leidenschaftlicher Versuch, das Amerika der Gegenwart zu begreifen. «Das sind wir: ein Volk gefühlsduseliger Barbaren, weinend und Gewichte stemmend», resümiert Sullivan, nachdem er einige Zeit mit den Darstellern der TV-Serie «The Real World» verbracht hat. In den Essays und Reportagen, die sich manchmal wie Kurzgeschichten lesen, pflegt Sullivan einen emphatischen Umgang mit seinen Gewährsleuten. Ob es sich um einen Streifenpolizisten handelt, der einen Friedhof in Kentucky bewacht oder um Fans auf einem Christenrock-Festival – wer Sullivan gelesen hat, glaubt zu verstehen, wie diese Leute ticken. «Zu wissen, dass etwas nicht wahr ist, heißt nicht, dass man die Stärke hätte, daran zu glauben, wenn es doch wahr wäre,» schreibt er, als er am Ende des Creation-Festivals in ein Meer brennender Kerzen blickt.

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Sullivan zeichnet ein düsteres Bild des gegenwärtigen american way of life, kommt aber ohne jenen anklagenden, kulturkritischen Ton aus, den sein New Yorker Kollege Mark Greif und andere Autoren aus dem Umfeld der Zeitschrift «n+1» gerne anschlagen. Pulphead ist reich an Pointen und Sullivans Sprache voller schräger Bilder. «Er hing so kraftlos in seinem Sofa, als hätten Diebe seine Knochen gestohlen und ihn dort zurückgelassen», heißt es über den Schriftsteller Andrew Lytle beim Mittagschlaf. Als junger Student lebte Sullivan für ein paar Monate mit dem 92-jährigen in dessen Haus in Monteagle zusammen. 

Seine Erinnerung an diese Lehrjahre gehört zu den Höhepunkten in «Pulphead». Lytle ist der letzte Überlebende der sogenannten «Southern Agrarians», einer in den 1930er-Jahren gegründeten Literatenbewegung, und ein wirklicher bunter Vogel: «Er trug immer ein Tweedjacket, und um den Hals einen Zahnstocher mit Goldgriff, der aus dem angespitzten Penisknochen eines Waschbären gemacht war.»

Die Befindlichkeit einer Nation aus regionalen Kulturen und Geschichten abzuleiten, das ist Sullivans nicht zuletzt literarisches Projekt, und der Weg dahin führt immer über die Südstaaten. Als «tragischen Zauber des Südens» beschreibt der Autor jenes Gefühl, das ihn jedes Mal erfasst, wenn es um diese Region geht. Und so disparat die Themen seiner fünfzehn Essays aus den letzten dreizehn Jahren auch sein mögen: Immer wieder kommt Sullivan auf seine ur-uralten familiären Wurzeln in Kentucky zu sprechen, auf seine Liebe zu Faulkner und zur Mississippi-Kultur. Ihm dabei zu folgen ist ein großes Leseabenteuer.

John Jeremiah Sullivan
Pulphead
Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann. Suhrkamp, Berlin 2012. 418 S., 20 €

 

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