Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
(picture alliance) „Die Mona Lisa sieht seit Jahrhunderten gleich aus. Wagner klingt jeden Abend anders“

Dirigent Christian Thielemann - „Ich will manipulieren“

Der Dirigent Christian Thielemann spricht im CICERO-Interview über Rauschzustände in der Musik, den Maestro als Menschen und einen Haufen Vorurteile und sagt „Tristan ist gesünder als LSD“

Probentag in Bayreuth: Fliegender Holländer. Wir treffen uns in der getäfelten Festspielkantine. Christian Thielemann kommt gerade von einer Massage – der Rücken macht Probleme. Das viele Proben. „Draußen oder drinnen?“, fragt er und sagt dann, ohne eine Antwort abzuwarten, „draußen, oder?“ Schon vor dem Gespräch wird klar, wie er bekommt, was er will: offen, charmant, bestimmt. Dieser Christian Thielemann hat nichts mit dem Mann zu tun, der in der deutschen Presse gern als ewig Gestriger, als Hans Dampf, als Urdeutscher beschrieben wird. Dieser Christian Thielemann ist ganz bei sich. „Hier in Bayreuth fühle ich mich zu Hause“, sagt er. „Hier sind wir eine Familie.“ Im September wird er noch eine Familie dazubekommen. Eine Wunschfamilie. Thielemann wird offiziell die Sächsische Staatskapelle Dresden übernehmen. Das Orchester Webers und Wagners – seiner Idole. Und, so sagen viele, eine der besten Musiktruppen Deutschlands.

Herr Thielemann, warum machen Sie eigentlich Musik?
Um ehrlich zu sein, darüber habe ich nie nachgedacht. Das war immer so.

Sie meinen, man muss für die Musik geboren sein?
Wahrscheinlich schon. Im Idealfall wird man in ein Umfeld der Musik hineingeboren. Bei uns zu Hause war das Musizieren immer selbstverständlich. Der Beruf Musiker war klar wie Kloßbrühe. Ich habe als Kind Beethovens Egmont-Ouvertüre gehört. Das hat einen gewaltsamen und mächtigen Eindruck auf mich gemacht. Zwei komische Worte, oder? Gewaltsam und mächtig! Aber es war irgendwie schön gewaltsam. Und es war schön mächtig.

Haben Sie so große Gefühle jemals außerhalb der Musik empfunden?
Och ja, irgendwann schon – natürlich im Privatleben. Wenn man mit anderen Menschen zusammen ist und dankbar ist, eine bestimmte Situation gemeinsam zu erleben. Oder wenn ich eine Landschaft anschaue – wie die Sonne untergeht oder die Vögel zwitschern. Das ist auch schön. Aber ich habe auch festgestellt, dass das, was mir in der Musik so gewaltsam und mächtig und dabei gleichzeitig so schön vorkam, im Privaten manchmal nur gewaltsam und mächtig ist – und manchmal enttäuschend und unschön.

Sie meinen, dass die Musik selbst dem menschlichen Abgrund eine gewisse Ästhetik gibt?
Darin liegt ihr großer Reiz. Und genau darin liegt auch ihre Gefahr. Musik schafft es, selbst das Böse schön erscheinen zu lassen. Ich habe lange gebraucht, um zu lernen, diese Gefühle zu kontrollieren. Es ist ein langer Weg, bis man feststellt, dass die Musik so groß ist, dass sie einen auch kaputtmachen kann. Dass man sich in ihr verlieren kann. Dass sie zerstörerisch wirkt.

Wie meinen Sie das?
Das ist eine psychische Sache. Manchmal scheint die Musik mehr über mich zu wissen als ich selbst. Was sie mit mir anstellt, ist so privat, so intim, so nackt, dass ich Angst habe, es zuzulassen. In diesen Augenblicken ist sie wie ein Dämon, der das Archaische in mir berührt und mich dazu zwingt, mich ihr vollkommen auszuliefern. Sie saugt alles aus mir heraus. Ich hatte etwa oft Angst, unter dem Einfluss von Musik in Situationen zu geraten, in denen ich alle Grenzen verliere. Zum Beispiel Drogen zu nehmen oder zu schnell mit dem Auto zu fahren und am Baum zu landen. Inzwischen habe ich das etwas besser im Griff. Ich weiß, dass ich an dieser Stelle sehr angreifbar und verführbar bin. Dass die Musik mich aufputscht, mich antreibt und aufbaut. Und dass all das, was sie schafft, auch in sich zusammenfallen kann. Die Intensität, mit der man in der Musik lebt, ist so hoch, dass man selbst irgendwann leer ist.

Musik kann also lebensgefährlich werden?
Jede Kunst ist selbstverständlich eine Gefahr für das Leben. Alle Formen der Kunstvermittlung haben ja etwas Existenzielles. Denken Sie an Maria Callas, an Wilhelm Furtwängler, an Dietrich Fischer- Dieskau. Um mit der Musik ein großes Publikum zu erreichen, müssen Sie all ihre Konzentration sammeln und befinden sich automatisch an der Grenze der Selbstaufgabe. Kunst entsteht auf jeden Fall immer nur an dieser Grenze. Um auf ihr zu balancieren, braucht der Künstler Bauch und Kopf. Und ein Bewusstsein von der Gefahr des Rausches und für die wahre Welt.

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie, während Sie dirigieren, auch private Bilder zu der Musik im Kopf haben?
Selbstverständlich.

Umso verwunderlicher ist, dass Sie Ihr Privatleben komplett aus der Öffentlichkeit heraushalten.
Ja, weil es sich ja um meinen persönlichen Film handelt! Welche Bilder, Situationen und Gefühle man zur Musik erlebt, ist individuell. Diese Nacktheit entsteht nur im eigenen Kopf – aus dem eigenen Leben. Meine Aufgabe als Dirigent ist, das Persönliche zum Allgemeinen zu erheben. Erst so kann die Musik in Kommunikation mit einem Publikum treten. Deshalb rede ich bei den Proben ja auch nicht viel. Bei den Musikern ist es ja genauso: Sie müssen ihren eigenen Zugang, ihre eigene Existenz in den gleichen Noten finden. Und letztlich ist das doch auch bei den Komponisten so: Sie werden vom eigenen Leben inspiriert, aber ihre Sinfonien und Opern sind Werke der allgemeinen Menschlichkeit. Ganz abgesehen davon, dass die Sichtbarkeit des allzu Privaten meiner Erziehung widerstrebt. Es ist nicht meine Sache, mein privates Empfinden in der Zeitung auszubreiten.

Vielleicht machen sich die Leute deshalb so viele Gedanken um Ihr Leben? Weil Sie in der Öffentlichkeit so exzessiv wirken?
Mag sein. Sollen sie ruhig.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Musik auch ein Experimentierfeld für das Leben ist

Ist die Musik für Sie auch ein Experimentierfeld für das Leben?
Das muss sie sein, weil sie uns einen risikofreien Raum schenkt, in dem es kein Gesetzbuch gibt. Auf der Opernbühne muss ich dafür sein, dass Tosca von der Engelsburg springt. Gleichzeitig muss ich aber auch einer Meinung mit Scarpia sein, der sie vergewaltigen will. Daran sehen Sie die Schizophrenie der Musik. Man bewegt sich – ob man will oder nicht – Takt für Takt in einem vielfältig zwiespältigen Kosmos. Zum Wahnsinnigwerden eigentlich, das alles.

Und wie genau kühlen Sie sich wieder ab?
Ich habe mir Dinge gesucht, mit denen ich von der Musik loskomme. Ich beschäftige mich mit Geschichte und bildender Kunst. Gestern zum Beispiel war ich im Neuen Schloss in Bayreuth und habe nach Gemälden gesucht, die ich unbedingt finden wollte. Das sind Unternehmungen, um der Macht der Musik wenigstens zeitweise zu entkommen. Ganz nach dem Motto von Tannhäuser: „Aus deinem Reiche muss ich fliehn!“

Merken Sie eigentlich, dass Sie durch die Musik auch selbst mächtig werden?
Orchestermusiker schwärmen von Ihrer Inspiration, von Ihrer Art zu bekommen, was Sie wollen … Das ist ja keine Macht im eigentlichen Sinne. In den Proben geht es darum, das Feuer, das in den Partituren steht, zu entzünden. Tatsächlich gibt es nur wenige Menschen, die das können. Die diese Prometheus-Qualität haben, weil sie selber brennen. Aber das ist eine naturgegebene Begabung.

Und wie steht es mit dem Publikum – merken Sie, dass Sie eine Macht über Ihre Zuhörer haben?
Natürlich will ich das Publikum manipulieren. Mir ist es wichtig, dass mein Publikum das Theater in einem guten Sinne manipuliert verlässt. Nicht, dass ich sie zu Dingen treiben will, die sie nicht wollen. Aber ich möchte sie günstig beeinflussen – und vielleicht auf sich selbst, auf ihre Nacktheit, zurückwerfen. Ich möchte ihnen jenen Raum öffnen, der sich auch mir durch die Musik öffnet: eine Welt, in der man hemmungslos und ohne Rücksicht auf die Regeln der Welt denken und fühlen darf. Ich möchte den Menschen mit der Musik zeigen, dass wir in einer Sinfonie oder einer Oper Grenzen überschreiten können, die im Leben unmöglich wären. Würden wir zehn Flaschen Wein trinken, hätten wir eine Alkoholvergiftung. Hören wir zehn Mal den „Tristan“, erweitert der Rausch unser Bewusstsein.

Jetzt hören Sie sich an wie ein Alt-68er! Sie meinen, „Tristan“ ist besser und gesünder als LSD?
Aber natürlich! Grundsätzlich hat der Mensch Rauschzustände ja sehr gern. Weil es im Rausch um das Gleiche geht wie in der Musik, um die Erweiterung des Bewusstseins. Ich finde es immer ein bisschen lustig, dass die 68er gegen den Rausch von Hitlers Reichstagsgedöns waren – völlig zu Recht natürlich – und sich zu Hause ihren eigenen Rausch geschaffen haben, indem sie sich mit LSD vollballerten, bis sie ihren privaten Lichtdom gesehen haben. Beide Arten von Rausch sind mir suspekt, weil sie entweder manipulativ sind oder man in ihnen jede Kontrolle verliert. Mir ist die Bewusstseinserweiterung durch eine „Tristan“- Aufführung lieber.

Und welche Wirkungen hat diese Erfahrung auf Ihr Leben?
Jeder Rausch beeinflusst uns – weil wir in ihm Dimensionen erfahren, die wir im echten Leben nicht erreichen.

Macht „Tristan“ uns etwa zu besseren Liebhabern?
Das kann durchaus sein. Ich glaube schon, dass Menschen, die „Tristan“ kennen, potenziell bessere Liebhaber sein könnten. Diese Musik kann einen fantasiemäßig beflügeln. Sie zeigt einem die Sinnlichkeit und das Existenzielle. Auf jeden Fall macht dieses Erlebnis freizügiger und regt an. Das ist schon irre. Ich finde, wir müssen überhaupt bessere Musikliebhaber und bessere Liebhaber werden. Sicher ist: Die Kunst ist eine sinnenfrohe Angelegenheit. Und davon können wir im Leben nur lernen.

Erkennen Menschen, die Ihnen nahestehen, eigentlich den Christian Thielemann auf der Bühne wieder, den sie auch von zu Hause kennen?
Oder sind Sie vor dem Orchester ein anderer Mensch? Leute, die mich gut kennen, sagen oft, dass mein eigentliches Wesen beim Dirigieren am besten zu sehen ist. Letztlich ist das Künstlerische ja nur eine Ausblühung des Menschen, der diese Kunst betreibt. Und es ist egal, was jemand tut, ob er sich für Topfbegonien interessiert oder Streichholzschachteln sammelt – in dem Moment, in dem Sie sich in einer Sache auflösen, sind Sie ganz bei sich. Dann entsteht ein positiver Fanatismus, der andere nicht behindert. Ich liebe diese Spinner. Und, ja, ich bin einer von ihnen. Ich habe immer etwas für Leute übrig, die eine gepflegte Macke haben. Aber sie soll, bitte schön, gepflegt bleiben.

Lesen Sie auf der nächste Seite, warum Wagner nichts dafür kann, dass er von Hitler vereinnahmt wurde

Wegen Ihrer Macken wurden Sie lange angefeindet. Inzwischen sind Sie Everybody’s Darling. Was hat sich geändert?
Für mich persönlich nur, dass ich vor 15 Jahren dachte, mich und mein Leben vorhersehen zu können. Inzwischen genieße ich es, wie unvorhersehbar ich für mich selber geworden bin.

Sie müssen sich also immer neu erfinden?
Der Kern bleibt wahrscheinlich. Aber ich befrage mich gern neu und definiere meine Position in der Welt. Ich arbeite ja nur mit Partituren ohne Einzeichnungen. Ich sehe also nicht, wie ich einen „Holländer“ vor einigen Jahren gemacht habe. Ich muss diese Opern immer wieder neu entdecken. Und manchmal denke ich an einer Stelle: „Da steht zwar kein Ritardando – aber ich fände es schön.“ Das sage ich dann den Musikern. Und manchmal fragen die mich: „Aber warum denn, das steht doch gar nicht drin.“ Und ich antworte: „Weil ich das schön finde.“ Dann schmunzeln sie – und machen es.

Früher wurden Sie noch angefeindet, weil Sie Werke von Hans Pfitzner aufgeführt haben, der in das Nazi-System verstrickt war. Davon ist heute nicht mehr die Rede.
Weil es mir nie um Politik ging, sondern um die Musik. Ich habe Pfitzners Kompositionen studiert und geschaut, ob sie etwas taugen. Das tun sie! Also habe ich sie aufgeführt. Heute kann ich zurückblicken und feststellen, dass ich mir in diesen Fragen treu geblieben bin. Und dass die Zeit und der Zeitgeist mir entgegengekommen sind.

Sind denn am Ende alle Werke legitim? Egal, wie ein Künstler gelebt hat?
Schauen Sie, wir hatten das doch schon einmal, dass Komponisten aufgrund ihrer Überzeugungen oder Religionen nicht aufgeführt wurden. Und nun wollen einige Leute sich noch immer als moralischer Wächter aufspielen? Wir können doch nicht auf der einen Seite Ressentiments und Rassismus anklagen und auf der anderen Seite Rassismus in einen guten und in einen schlechten unterteilen. Ich war immer der Meinung, dass wir ohne Ressentiments an die Musik herangehen müssen. Und, ja, auch dass wir es uns gerade als Deutsche nicht so leicht machen dürfen und einige Musiker von vornherein aus dem Kanon streichen, weil uns die Auseinandersetzung mit ihrer Musik auf ein gefährliches Feld führt. Das gehört zu unserer Kulturtradition.

Es ist also nichts verboten?
Ich weiß nicht, wie Sie sich so einen Kanon vorstellen. Sollen wir jetzt zum Wagner- Jahr eine Liste der politisch unbedenklichen Wagner‑Werke herausgeben und eine der politisch belasteten Stücke? Also, mit Verlaub: ohne mich!

Im Falle Wagner geht es ja auch um die Vereinnahmung durch Adolf Hitler. Eine Frage, die sich gerade wieder in Israel gestellt hat.
Aber was kann Wagner denn dafür? Sicher, wir müssen uns mit seinem Antisemitismus auseinandersetzen. Aber in den meisten seiner Werke ist davon nichts zu lesen. Wir können doch nichts für die Verbrecher, die im Festspielhaus gesessen haben. Unten im Graben wird C‑Dur gespielt. Und dieses C‑Dur klang 1944 genauso wie heute. Musik ist stärker als ihre Vereinnahmung.

Es gab eine Zeit, da haben Sie Ihre Meinung provokanter vorgetragen.
Auf jeden Fall habe ich unterschätzt, wie provokant meine Thesen aufgenommen wurden. Und wie ideologisch die Situation damals war. Das ging ja so weit, dass sogar über meinen Scheitel geschrieben wurde. Auf dem Höhepunkt dieser Stimmung hätte ich meine Haare zerwühlen müssen, damit mein Wagner politisch korrekt gewesen wäre.

Und heute?
Schauen Sie – ich ruhe in mir. Und vielleicht ist das die größte Veränderung. Ich merke, wie die Ruhe in meinen Körper kommt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich habe auch immer gewusst, dass das vorbeigehen würde. Weil ich wusste, dass ich die zeitlose Wahrheit der Noten auf meiner Seite hatte und nicht die schwankende Wahrheit der modischen Politik. Mich hat es wirklich irritiert, dass die Leute gesagt haben, ich wollte provozieren. Aber irgendwann haben sie dann festgestellt: „Ach Gott, der ist ja wirklich so.“ Ich war glaubhaft in dem, was ich getan habe. Und deshalb haben die Menschen aufgehört, sich aufzuregen.

Vielleicht auch, weil Sie offener geworden sind?
Es hat bei mir vielleicht etwas gedauert, dass ich Meinungen, die nicht meine sind, akzeptiert habe. Heute weiß ich, dass ich sie nicht teilen muss, dass ich sie rhetorisch erwidern kann – und dass es wichtig ist, jede Meinung als gegeben zur Kenntnis zu nehmen. Aber dieses Recht fordere ich auch für mich ein. Darum ging es letztlich auch in Israel: Ich finde, dass man niemanden dazu zwingen darf, etwas zu hören, was er nicht hören will. Aber ich finde auch, dass man niemandem verbieten sollte, das zu hören, was er gern hören möchte. All das ist eine Frage der Toleranz. Ich beobachte, dass unsere Musik gerade in diesen Zeiten immer besser verstanden wird. Weil sie den Menschen auf das eigentliche Ziel der Politik zurückführt: den einzelnen, freien und selbstbestimmten Menschen.

Lesen Sie auf der nächste Seite, wie politisch Musik ist

Wie politisch ist die Musik denn wirklich?
Musik sind zunächst einmal Noten. Ob Wagner Revolutionär war oder Beethoven seine Sinfonie Napoleon widmen wollte – das sind Fragen für Musikhistoriker. Für einen Musiker sind sie weniger entscheidend. Die Sprache der Musik ist Politik einer anderen Art: Es ist die Politik des Unterbewussten, des Menschlichen, des Individuums. Und es macht mich wütend, wenn ich Traktate der Musikwissenschaftler lese, die versuchen, eine Partitur einer Ideologie unterzuordnen. Keines dieser Bücher zeigt mir, wie ich die „Meistersinger“ besser dirigieren kann. Mir ist es auch unmöglich, aus einem späten Beethoven-Quartett abzulesen, ob er gerade Probleme hatte, schlechte Laune oder Hunger. Inzwischen beobachte ich, dass die Ideologisierung der Musik schwindet.

Können Politiker denn trotzdem etwas von Musik lernen?
Angela Merkel ist Stammgast in Bayreuth, kommt nach den Konzerten zu Ihnen hinter die Bühne … Ich glaube, es geht in der Musik um Authentizität. Und darum, dass Politik immer beim humanistischen Individuum anfängt. Das ist bei Wagner genauso wie bei Mozart. Das Private macht nicht nur die Musik, sondern auch die Politik. Und es geht um Wahrhaftigkeit. Als Dirigent kann ich nicht heute weniger Steuern versprechen und dieses Versprechen morgen nicht einlösen. Ich muss mir, bevor sich der Vorhang hebt, eine Position erarbeiten. Die muss nicht allen gefallen, aber sie muss kongruent mit mir sein – und das wünsche ich mir zuweilen auch von der Politik.

Sie gelten als konservativ. Gleichzeitig geben Sie sich aber auch revolutionär. Wie ordnen Sie sich selbst politisch ein?
Wenn Sie mir ein Quäntchen Selbstherrlichkeit erlauben, antworte ich Ihnen, dass ich die neue Avantgarde bin. Ich bin ein geläuterter Konservativer. Ich bin nicht engstirnig und trotzdem traditionsbewusst. Ich fühle mich sehr in meiner Tradition verwurzelt und bin gerade deshalb in der Lage, neugierig auf anderes zu sein.

Ist die konservative Politik schon genauso weit wie Sie?
Nein, wahrscheinlich nicht. Deshalb rede ich ja von Avantgarde.

Und was ist der Unterschied zwischen einem geläuterten 68er und einem geläuterten Konservativen?
Die können sich inzwischen gut begegnen. Es ist doch so, dass die wahren Konservativen die Grünen geworden sind. Wir befinden uns ja in einer Umwertung sämtlicher Begriffe. Konservativ bedeutet nicht mehr: engstirnig, ausländerfeindlich und rechtsradikal. Konservativ bedeutet: das Alte ehren und daher neugierig auf das Neue sein. Ich habe durch meinen Beruf gelernt, dass die alten Stereotype nicht mehr greifen. Für mich ist es politisch wie künstlerisch dort am spannendsten, wo große Persönlichkeiten mit eigener Meinung zusammenarbeiten. Schlechtes Benehmen und mangelnde Qualität sind für mich Zeitverschwendung. Und überall gilt die Regel: Je höher das Niveau ist, desto gelassener kann man miteinander umgehen. In der Musik sind wir an diesem Punkt angekommen, in der Politik vielleicht noch nicht ganz.

Spielt die Zeit, in der ein klassisches Werk interpretiert wird, eigentlich eine Rolle für den Klang?
Der große Vorteil der klassischen Musik ist, dass die gleichen Noten in vielen unterschiedlichen Zeiten und in vielen unterschiedlichen politischen Kontexten interpretiert wurden. Klar, wenn Furtwängler 1942 Beethoven zwischen zwei Bombenangriffen dirigiert hat, klang das anders als ein Beethoven, bei dem uns höchstens der EU-Rettungsschirm beschäftigt. So gesehen verschmelzen in der Zeitmaschine Musik Vergangenheit und Gegenwart immer wieder aufs Neue. Die Noten bilden den historischen Fixpunkt. Das ist der Unterschied zwischen Musik und einem Museum. Die Mona Lisa sieht seit Jahrhunderten gleich aus. Wagner klingt jeden Abend anders.

Sie werden mit der Staatskapelle in Dresden nun ein Orchester mit langer Tradition übernehmen – Weber und Wagner haben hier dirigiert. Und die Staatskapelle wird bis heute für ihren deutschen Klang gefeiert …
Ich treffe in Dresden auf eine historisch einmalige Situation: Neben vielen negativen Dingen ist im Osten ein historischer Vorteil auszumachen. Während im Westen, ausgelöst durch die 68er-Bewegung, versucht wurde, möglichst viele Traditionen über Bord zu werfen, ist diese Mode am Osten vorbeigezogen. So hat sich vieles erhalten, was wir heute sehr schätzen. Und das hört man auch heute noch im Klang der Orchester.

Daniel Barenboim hat einmal gesagt, dass man in der Staatskapelle in Berlin noch den Klang von 1932 hört …
Das trifft für Dresden ebenfalls zu. Das liegt auch daran, dass es lange Zeit kaum einen Zuzug von frischem Fleisch gab, dass das Orchester auf eine merkwürdig wohltuende Art im eigenen Saft gekocht hat. Heute sehen wir, dass in Dresden eine alte Tradition lebt. Und das ist in einer Zeit, in der große Orchester Gefahr laufen, gleich zu klingen und ihren Klang zu globalisieren, ein großes Pfund.

Lesen Sie auf der nächste Seite, in welchen Momenten Christian Thielemann vor einem Konzert am liebsten fliehen würde

Es fällt auf, dass Sie wenig mit fremden Orchestern zusammenarbeiten …
Ich mag es lieber, mit Menschen zu arbeiten, die ich kenne – und da hat sich in den vergangenen Jahren einfach die Achse Dresden-Wien-Bayreuth ergeben. Das ist ein überschaubares Areal, in dem ich machen kann, was ich will. Und wenn ich die Welt sehen will, fahre ich eben mit meinen Dresdenern oder den Wienern los.

Die Wiener Philharmoniker scheinen es Ihnen besonders angetan zu haben.
Von denen heißt es ja immer, dass sie so verstockt seien. Aber ich erlebte immer wieder ein unglaublich offenes Orchester. Ich glaube, das liegt daran, dass es sich seiner Tradition bewusst ist. Die Wiener wissen, woher sie kommen, und können deshalb offen für anderes sein. Sie verkörpern den offenen Konservativismus – und, ja, das gefällt mir sehr. Andererseits gibt es keine andere Stadt, in der die Erwartungen so hoch sind. Das geht so weit, dass ich Wien manchmal meiden muss, weil der Druck mir zu groß wird. Nicht nur vom Publikum, sondern auch vom Orchester. Ich kann so langsam nachvollziehen, dass der legendäre Carlos Kleiber manchmal vor einer Aufführung die Flucht ergriffen hat.

Gibt es diese Momente bei Ihnen auch, dass Sie vor einem Konzert am liebsten fliehen würden?
Ja, das gibt es. Ich denke dann: Jetzt ins Auto und einfach nur weg. Aber meine preußische Erziehung verbietet mir das. Dann gehe ich da hin und dirigiere. Manchmal macht mir meine Nervosität auch Angst. Ich verstehe mich da selbst nicht.

Gibt es denn einen Moment, in dem Sie keine Musik mehr machen würden?
Nein – weniger, das kann ich mir gut vorstellen. Aber gar keine Musik? Nein! Auf keinen Fall. Was hat Loriot gesagt? Ein Leben ohne Möpse wäre möglich, aber sinnlos. So verhält sich das auch mit der Musik.

Das Gespräch führte Axel Brüggemann

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.