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() Dieter Hildebrandt
Ich war dabei! Aber ganz anders

Dass ausgerechnet Deutschlands aufrechtes linkes Gewissen Dieter Hildebrandt Mitglied der NSDAP gewesen sein sollte

Wir erleben eine Zeit, in der man offenbar fieberhaft darüber nachdenkt, wie man diese dämliche, lästige Generation der Luftwaffenhelfer treffen könnte. Das nahm seinen Anfang mit der etwas lächerlichen Geschichte über Günter Grass, dann ging es weiter mit Jürgen Habermas. Und schließlich war die nächste Welle dran: Siegfried Lenz, Martin Walser und Dieter Hildebrandt NSDAP-Mitglieder! Das alles kommt aus einer rechten Ecke, die ich bestens kenne. Deshalb habe ich mir gedacht, dass man endlich einmal darüber sprechen muss, wie es im Jahre 1945, von dem hier die Rede ist, wirklich zuging. Und unter welchen Bedingungen die angeblich skandalöse NSDAP-Mitgliedschaft zustande kam. Die erste Hälfte des Jahres 1945 war ein Chaos, doch die Gründe dafür lagen weiter zurück. Unser Jahrgang 27 war einer der letzten an das NS-Regime verkauften Jahrgänge. Früh schon waren wir in die Uniform gesteckt worden. Wir hatten ja die Hitlerjugend, und wir wussten, was wir alles durchlaufen mussten: Von zehn bis 14 war man Pimpf, von 14 bis 18 war man Hitlerjunge, und man wusste auch ganz genau: Mit 18 Jahren würde man in die Partei überführt, in einem großen, feierlichen Akt, bei dem man den Eid auf Adolf Hitler ablegen musste. Das wussten wir alles. Die beiden Historiker dagegen, von denen ich gern mal wissen möchte, wie sie überhaupt Historiker geworden sind, haben festgestellt, dass man als Hitlerjunge damals nicht ohne schriftliche Zustimmung in die Partei überführt werden konnte, weil es nicht erlaubt war. Wir waren erst im Wehrertüchtigungslager gewesen, dem sogenannten WE-Lager, in grauen Uniformen, die aussahen wie Sträflingskleidung, und von SS-Unterführern durch die Landschaft gejagt und geschliffen worden. Dann wurden wir Luftwaffenhelfer. Und schließlich, als der Luftwaffenhelfer-Lehrgang zu Ende war, wurden alle schlesischen Formationen schulklassenweise eingezogen. 1943 waren wir mit klingendem Spiel zum Bahnhof geleitet worden. Ich war gerade 16 Jahre alt. Mit unseren Koffern marschierten wir los, begleitet von einer Musikkapelle. Auf dem Bürgersteig liefen nebenher die Mütter mit, sie weinten, weil sie wussten, dass wir nach Berlin fahren würden, das bereits bombardiert wurde. Nicht gerade ungefährlich. Von diesem Moment an waren wir unseren Eltern und unserer Heimatstadt entfremdet. Wir waren nicht mehr zu Hause. Im Sommer 1943 kam ich nach Berlin, nach Oranienburg. Dort wurden wir erst ausgebildet, danach kamen wir an die Geschütze. Es wurde zwar gesagt, der Unterricht gehe weiter, die Lehrer kämen nach Berlin – doch die kamen nur genau einmal, und als die Bomben fielen, sind sie schleunigst wieder abgereist. Nach einer Weile wurden wir versetzt nach Ostoberschlesien, in die Gegend von Tarnowitz. Wieder wurden wir in eine neue Uniform gesteckt, diesmal in die Reichsarbeitsdienst-Uniform. Nach drei Monaten kamen wir für zehn Tage nach Hause, dann bekamen wir ein weiteres Mal eine neue Uniform und wurden Rekruten. Nun waren wir also Soldaten der Wehrmacht. Ich war gerade mal 17 Jahre alt. 1944 befanden wir uns bereits im Sinkflug. Wir wussten, dass der Krieg bald vorbei sein würde, weil die Russen immer näher kamen und die Amerikaner schon Teile von Deutschland besetzten. Über die­se Dinge ist schon oft geschrieben worden, und ich verstehe nicht, warum niemand sie liest; dass stattdessen Menschen über meine Generation urteilen, die keine Ahnung haben und behaupten, sie könnten schwarz auf weiß irgendetwas nachweisen. Nein. Es war nicht so. Es lief alles ganz anders. Wir hatten keine so große Lust mehr. Günter Grass behauptet, er hätte noch den Endsieg erwartet. Ich glaube es ihm natürlich, wir dagegen hatten das sichere Gefühl, dass es zu Ende geht. Die sogenannte NSDAP, deren Mitglieder wir dann noch geworden sind – wovon wir nichts wussten – diese NSDAP spielte im Leben 1944 überhaupt keine Rolle mehr. Die Parteifunktionäre traten nicht mehr so offensiv auf, auch ihre Reden waren nicht mehr so laut wie früher. Parteimitglied zu werden, schien uns ohnehin völlig überflüssig zu sein. Selbst wenn wir erfahren hätten, dass man uns aufgenommen hatte, so hätten wir gesagt: „Na ja, und? Das ist halt so.“ Als Mitglieder dieser Partei hätten wir keinerlei Vorteile gehabt. In diesen aufgelösten Zeiten gab es ein solches Kalkül überhaupt nicht mehr. Es ging nur noch ums Überleben. Die Historiker Frei und Buddrus sind, glaube ich, ungefähr Mitte vierzig. Vielleicht wäre es ganz anständig gewesen, wenn sie mal ein paar Mitglieder unseres Jahrgangs befragt hätten. Sie haben ohne Nachforschungen bei den Betroffenen aus ihren Erhebungen Schlüsse gezogen. Das finde ich unredlich. So wie ich diesen Journalismus von Focus unerträglich finde. Schon die bloßen Fakten stimmen nicht. Man hat beispielsweise ein Bild von mir veröffentlicht mit der Zeile, das sei der Hildebrandt als Soldat. Doch das betreffende Foto wurde ein Jahr zuvor aufgenommen, in Oranienburg. Das habe ich an der Luftwaffenhelfer-Mütze genau erkannt. Die Herren können offenbar nicht einmal die Mützen unterscheiden. Gleich darunter aber stand das berühmte Foto, auf dem Hitler einen kleinen Jungen tätschelt und ihm einen Orden verleiht, weil der, erfüllt von heiligem Zorn und dem Glauben an einen Endsieg, als Werwolf noch einen Panzer vernichtet hatte. So wird ein Zusammenhang mit meiner Person hergestellt, der schlicht falsch ist. Ich finde das unverschämt. Und dann hat dieser Herr Markwort, dem ich nie mehr im Leben begegnen möchte, auch noch befunden, meine Reaktion sei hysterisch gewesen. Hysterisch kann man nur sein, wenn man das Gefühl hat, richtig erwischt zu werden. Wenn man aber falsch erwischt wird, dann muss man eine heftige Reaktion nicht als hysterisch, sondern als gerecht bezeichnen. Ich habe also einen gerechten Zorn entwickelt. Und ich weiß ganz genau: Irgendwie hat die Herren dieser Zeitschrift das Sommerloch geschmerzt, es musste irgendetwas geschehen, und die Auflage war vielleicht auch nicht mehr so toll. Markwort selbst hat noch Stellung genommen und mich beschimpft. Das alles ist einfach schlechter Journalismus. Ich würde das jedenfalls nicht als eine geistige Haltung bezeichnen. Sehen wir uns die Details von 1945 an. Ich bin nach Lauban gekommen, ungefähr 30 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt. Die Rekrutenausbildung dauerte etwa vier, fünf Wochen, dann ging es zum Reserveoffizier-Lehrgang. Wir waren alle Oberschüler, die letztlich verpflichtet wurden, sogenannte „ROBs“ zu werden. Wir hätten uns auch anders entscheiden können. Man hat uns gefragt. Die eigentliche Frage war jedoch: Was passiert, wenn ich nach der Rekrutenausbildung nicht zum ROB-Lehrgang gehe? Ich kannte die Antwort: Dann wäre ich sofort an die Front gekommen. Und unsere ganze Klasse, die seit der Luftwaffenhelferzeit immer zusammengeblieben war, hat sich zusammengetan und gesagt: „Nein, wir wollen nicht an die Front.“ Die Russen waren ja schon ganz nahe, nur noch 43 Kilometer entfernt, fast schon in meiner Heimatstadt. In Görlitz wurden wir zu künftigen Offizieren erzogen. Wir mussten Löcher graben, während wir schon die Geschütze der Russen donnern hörten. Dann kam ein Führer-Befehl, die siebzehnjährigen ROBs sollten vor dem Feind bewahrt und noch weiter ausgebildet werden. In Wirklichkeit war das nichts anderes als der Versuch, alle Kräfte zusammenzuziehen und die sogenannte „Armee Wenck“ nach Berlin marschieren zu lassen, um den Führer aus dem eingekesselten Berlin zu befreien. Diese „Armee Wenck“, das waren wir! Auch wenn wir es gar nicht wussten. Wir marschierten also in die völlig falsche Richtung los, nämlich in den Westen. Und die Leute, die armen Leute, die wussten, dass die Russen kommen würden, starrten uns fassungslos an, schwer bewaffnet wie wir waren, mit unseren Maschinengewehren. Sie jammerten: „Wo wollt ihr hin? Ihr müsst in die andere Richtung! Ihr seid doch Soldaten!“ Wir konnten nur mit den Schultern zucken und beteuern, das sei ein Befehl. So marschierten wir in die Gegend von Leipzig und Bitterfeld. In diesem Raum wurde eine Armee aufgestellt. Bei unserem ersten Einsatz sind wir bis nach Potsdam gekommen. Unsere Aufgabe war es, die feindlichen Linien zu durchbrechen und einen Korridor offen zu halten, um die dort eingeschlossene Armee herauszuholen. General Wenck hatte wahrscheinlich nie vorgehabt, den Führer aus dem Kessel zu holen, sondern wollte nur diese Armee befreien. Danach sind wir sofort umgekehrt und haben in fliegender Hast versucht, den Russen zu entkommen. Wir durchschwammen die Elbe und sind in ein amerikanisches Gefangenenlager gekommen. Wir jungen Leute sind von erwachsenen, wirklich guten Offizieren vor dem Schlimmsten bewahrt worden. Sie haben uns nicht in die vorderste Front geschickt. Natürlich haben wir hier und da Feindberührung gehabt, und natürlich ist eine ganze Reihe von uns gefallen, direkt vor unseren Augen. Das ist ja immer so. Sie sehen einen, gerade lebt er noch, und dann liegt er plötzlich am Boden. Im Grunde waren wir Kindersoldaten. Im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak waren es sogar Zehnjährige, die an die Front geschickt wurden. Diese Kinder verrohen, wenn sie sich als Soldaten gebärden. Das ist bei uns nicht passiert. Man hat uns vor dieser Verrohung bewahrt. Doch durch die Berührung mit der Todesgefahr, auch schon vorher in Berlin, hatten wir eine gewisse Apathie entwickelt, wie richtige Soldaten. Unsere Vorgesetzten waren alle erfahrene Kämpfer, die an der Front gewesen waren, und hatten alle schon einen kleinen Schuss im Kopf. Sie waren alle ziemlich erledigt. Einer meiner Ausbilder war zum Beispiel ein Kommunist aus Treptow, Unteroffizier Rütze. Den könnte ich Ihnen heute noch nachspielen. Er hatte vier, fünf von uns ins Vertrauen gezogen, daher wussten wir, dass er Kommunist war. Dieser Rütze nahm mich mal beiseite und sagte: „Weeßte, ick hatte den besten Beruf der Welt – Sargträger!“ Entgeistert sah ich ihn an. „Na“, er grinste – „den janzen Tach in’n Frack!“ Er hat uns immer beruhigt, wenn die Bomben fielen. In Hennigsdorf beschützten wir das Stahlwerk. Jeden Abend, pünktlich um halb acht war Fliegeralarm. Wir hatten ein Ritual entwickelt: Schon eine Viertelstunde vorher zogen wir, damit wir nicht in Eile gerieten, unsere langen dicken Wintermäntel an, nahmen die Gasmasken, schnallten unsere Koppel um und gingen in die Flak-Stellung. Dort verbrachten wir dann die Nacht, meist bis zwei Uhr morgens, bis alles vorbei war. Wir hatten eine Art Wurstigkeitsgefühl, eine gewisse Lethargie. Manchmal ist man marschiert, irgendwohin, und hat gedacht: „Ach, scheißegal wohin.“ Irgendjemand sagte: „Da lang“, und dann ist man eben da lang gelaufen. Manchmal schlief man schon im Laufen. Komischerweise haben wir viel gelacht, vermutlich war es Galgenhumor. Besonders viel lachten wir über unsere Vorgesetzten. Mein Gott, es waren wirklich ein paar Idioten dabei. Und die hatten nun immer diese Horde von Oberschülern gegen sich. Einmal hat einer meiner Ausbilder, ein wirklich übler und primitiver Bursche, mich angebrüllt: „Sie dummes Volk, Sie!“ Der war gerade mal zwei Jahre älter als ich und ziemlich hilflos. Auch wenn wir im Grunde noch Schüler waren, sollten wir uns als Erwachsene fühlen, als echte Soldaten. Schon als Kinder mit sechzehn Jahren bekamen wir eine Zuteilung an Zigaretten. Wir rauchten wie die Schlote, und wir besoffen uns besinnungslos. Das haben wir uns einfach genehmigt. Es hat uns niemand daran gehindert. Klar, wir wollten erwachsen sein! Es war zum Beispiel verboten, die Hakenkreuz-Binde an der Luftwaffenuniform abzunehmen. Wir haben sie alle abgenommen, weil wir schon als Luftwaffenhelfer den Eindruck erwecken wollten, wir wären Soldaten. Wenn wir auf Urlaub fuhren, hängten wir uns kleine weiße Schals oben in die Uniformjacke – weil wir ja immer in der Nähe von Flugplätzen waren, wo die Luftwaffenoffiziere mit den Jagdfliegern stationiert waren. Das waren für uns die Größten, das waren unsere Helden. Sie trugen immer weiße Schals, das fanden wir unwiderstehlich, außerdem konnte man damit die Mädchen beeindrucken. Wie wenig man aus heutiger Sicht beurteilen kann, was damals geschah, sieht man auch an der Frage, warum sich so viele freiwillig gemeldet haben. Viele glauben die Erklärungen nicht, ich habe schon immer Zweifel in den Gesichtern von Jüngeren gesehen, die sicherlich dachten: Na, erzählt er jetzt wohl die Wahrheit? Es hatte aber damit zu tun, dass wir mit fünfzehn Jahren in Wehrertüchtigungslagern waren, wo viele Gerüchte gestreut wurden. Es handelte sich gewissermaßen um „Hintenrum-Mitteilungen“, die der Bannführer verbreiten ließ. Seine Untergebenen raunten hinter vorgehaltener Hand, es gebe einen Trick, sich der SS zu entziehen. Als wir noch einmal für ein paar Wochen in die Schule zurückkehrten, tauchte dort eines Tages eine Wärtergruppe der Waffen-SS auf, so wie man es uns im Lager angekündigt hatte. Und es war uns gesagt worden, der Trick bestehe darin, dass man sich vorher schon freiwillig melden und sich eine Waffengattung aussuchen müsse. Sonst käme man direkt zur SS. Also hatten wir uns geschlossen freiwillig gemeldet. Als die SS-Leute kamen, konnten fast alle nachweisen, dass sie schon eine andere Waffengattung gewählt hatten. Eigentlich hatten wir schon als Jungen völlig resigniert. Und auch unsere Eltern haben uns nicht bestärkt, darüber nachzudenken, ob das sinnvoll sei, was mit uns passierte. Wir waren einfach ziemlich dämlich. Heute weiß ich, dass das eine instinktive Überlebensstrategie gewesen ist. Und sie hat ja auch Erfolg gehabt. Umso euphorischer waren wir nach Kriegsende. Ich habe mich immer gewundert, wenn Helmut Kohl über den „Zusammenbruch“ 1945 redete. Das ist völliger Unsinn. Helmut Kohl ist vier Jahre jünger, der weiß gar nicht, was in uns vorgegangen ist. Das war kein Zusammenbruch. Wir blieben ja zusammen. Die Überlebenden, das war in meinem Fall immer noch meine Schulklasse aus Schlesien. Wir standen in Tangermünde an der Elbe, auf der anderen Seite schossen die Russen noch ein paar Mal gelangweilt über uns hinweg. Aber der Krieg war zu Ende, und es war wunderschönes Wetter, es war zwei Uhr nachmittags und sehr heiß. Es war der 8. Mai. Wäre ich auf der anderen Seite der Elbe geblieben und in russische Gefangenschaft geraten, dann wäre ich wahrscheinlich zehn Jahre später rausgekommen – wenn ich es überhaupt überlebt hätte. Dieter Hildebrandt ist einer der bekanntesten Kabarettisten der Nachkriegszeit. Gerade veröffentlichte er sein Buch „Nie wieder achtzig!“ bei Blessing. Hildebrandt lebt in München

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