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Diskriminierende Toleranz - Die Outing-Maschine

Toleranz gibt es in Deutschland nicht umsonst. Zwar darf sich jeder zu seiner Homosexualität öffentlich bekennen, verliert damit aber seine Würde. Denn nach den Regeln der Massengesellschaft muss er vor allen Leuten die Hosen herunter lassen

Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Ich hatte mal einen Schulfreund, der seine Homosexualität erst in seinen Dreißigern offen zu leben begann. Er tat das ohne jeden Kommentar - er brachte einfach, wenn es sich ergab, seinen Freund mit -,und er erntete auch keinen Kommentar, kaum ein Wimpernzucken, weder von seinen reizenden Eltern in der Kleinstadt, noch von seinen Kollegen, schon gar nicht von seinen Freunden. Bis auf eine Ausnahme. Bei einer Wiederbegegnung sprach eine alte Bekannte ihn an: „Du hast jetzt ’nen Freund, nä?“ Als er bejahte, grinste sie selbstzufrieden: „Hab‘ ich schon immer gewusst! Super!“

Wenn das eigene Coming-out zum Triumph der anderen wird


Mein Freund fand diesen Zuspruch widerlich. Die Einlassung der Bekannten zeigte ihm, dass sie ihn jahrelang belauert und besserwisserisch über seine Sexualität phantasiert hat, dass sie „alles“ wusste, angeblich sogar bevor er es wusste. Sein Coming-out war ihr Triumph. Und auf einmal gehörte seine Sexualität nicht mehr ihm, sondern ihr.

Wenn ein Prominenter seine Homosexualität verkündet wie kürzlich der ehemalige Profifußballer Thomas Hitzlsperger, wird das von der Öffentlichkeit mit Anerkennung, zuweilen überdrehter Bewunderung goutiert. Jeder, der was auf sich hält, nutzt die Gelegenheit, sich nun seinerseits als tolerant zu outen. Ein wenig schwingt darum auch der Vorwurf mit, dass Hitzlsperger so lange gewartet hat und den Schritt nicht schon bei laufender Karriere tat. Man hätte den narzisstischen Genuss, sich für eine Haltung bewundern zu lassen, die überhaupt nichts kostet, gefälligst auch früher haben können.

Das diskriminierende Potenzial von Toleranz


An diesem Fall lässt sich schön beobachten, dass Toleranz ein diskriminierendes Potential hat. Es gibt sie nämlich nicht umsonst. Zwar darf jeder schwul sein. Aber dafür soll er die Hosen herunter lassen, vor allen Leuten. Das ist das Ritual. Erst sein Bekenntnis wäscht ihn rein. Bis dahin steht er unter „Verdacht“. Vor allem prominente Männer, die vermeintlich nicht so ganz glaubhafte oder auch gar keine Frauenbeziehungen präsentieren, müssen sich jahrelang beäugen und ausfragen lassen. Wladimir Klitschko gehört dazu oder George Clooney und auch der arme Peter Altmaier, bevor er sich in einem „Spiegel“-Interview als asexuell darstellen musste.

Damit nicht genug. Bereits Kinder sollen Rechenschaft über ihre Sexualität ablegen. Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Storch äußert sich zum umstrittenen Programm „Akzeptanz von Sexueller Vielfalt“: „Wir wollen an den Schulen mehr Offenheit und Akzeptanz herstellen, damit sich niemand diskriminiert fühlt oder verstecken muss, sondern mit der eigenen Situation offensiv auseinandersetzen kann.“

Dabei ist gerade das Verstecken, also die Wahrung der Intimsphäre, ein Grundelement, ja die Voraussetzung von Identität und von Sexualität. Die öffentliche Zerstörung dieser köstlichen Verstecke hat darum etwas durchaus Kastrierendes.

Neben der Gruppe derjenigen, die hymnisch auf Outings reagieren, gibt es die Gruppe der Genervten. „Sollen die halt schwul sein“, stöhnen sie, „aber können sie mich nicht damit in Ruhe lassen?“ Nein, können sie nicht. Und das liegt weniger an den Erfordernissen ihrer manchmal etwas hyperaktiven Lobbyarbeit als an den geheimen Regeln der Massengesellschaft.

Denn offenbar gibt es dort keine größere Sünde als die, sexuell undefiniert durch die Gegend zu laufen. Minderheiten sind völlig ok, aber einen Zettel müssen sie sich schon draufkleben lassen. Bedenkt man, dass die Gender-Forschung uns glauben machen will, wir könnten unsere sexuelle Orientierung, ja sogar unser Geschlecht, frei wählen, ist dieser Umstand erstaunlich.

Denn wir sind keineswegs frei. Wir dürfen nur mit der Gnade rechnen, nach einem Bekenntnis nicht verachtet zu werden. Die Verachtung findet nämlich vor dem Bekenntnis statt - und ob sie danach tatsächlich endet oder ob die Akzeptanz der sexuellen Abweichler bloß den Zeitgeist bedient, ist sehr die Frage.

Toleranz ist ein Substitut von Diskriminierung


Das liegt zum einen am Wesen der Toleranz. Paradoxerweise setzt sie im ersten Schritt die Ausgrenzung voraus. Bevor die Minderheit toleriert werden kann, muss sie zunächst von der Mehrheit unterschieden werden. Die Akzeptanzbekundungen folgen erst im zweiten Schritt, und oft genug bleiben sie oberflächlich - medial, ideologisch, modisch. Und weil Toleranz ein Substitut der Diskriminierung ist, kann sie jederzeit zusammenbrechen. Ihr dunkler Kern dagegen ist stabil.

Zum anderen sichert sich die Gesellschaft mit der Outing-Maschine gegen insgeheim als bedrohlich wahrgenommene Eindringlinge ab. Der Überschwang in den Reaktionen auf Hitzlsperger lässt zumindest vermuten, dass bei vielen Bekennern der Toleranz auch die hysterische Abwehr eigener Ängste und Befremdungsgefühle mitschwingt. Die Abschaffung des vornehmen Schweigens über die weniger verbreiteten Spielarten der Sexualität ist darum ein zivilisatorischer Verlust. Erst das Schweigen ermöglicht allen, den Durchschnittlichen und den Anderen, Distanz, Privatsphäre und Würde zu wahren.

Diese Würde wird dem Homosexuellen genommen, der für sein Outing aufdringlich belohnt wird wie ein entwicklungsverzögertes Kind, das endlich etwas richtig gemacht hat. Und der Homosexuelle schützt seine Würde auch nicht selbst, wenn er sich das Leckerli überall abholt.

Als sexueller Außenseiter hängt man im Pranger


Eine Wahl hat er indessen kaum. Er kann sich für sein Schattendasein betuscheln lassen, für vermeintliche Feigheit, Verklemmtheit und Verlogenheit, oder er kann ins Licht treten, bevor ihn andere dorthin zerren. Es wird immer ein grelles Licht bleiben, auch wenn es langsam etwas wärmer wird.

Das Lob für den sexuellen Außenseiter ist zugleich sein Label. Er gehört jetzt dazu, er gehört allen. Man weiß über ihn Bescheid und hat ihn dadurch befriedet. Die Potenz des Geheimen, des Eigenwilligen ist damit eingehegt. Sein Pranger ist komfortabel, aber es bleibt ein Pranger, und er wird ihn nie mehr verlassen können. Zwar begegnen ihm die meisten Heteros mit offenen Armen. Das gehört sich inzwischen so. Aber in ihrer Toleranz schläft ein Drache. Jetzt haben wir dich, wispert er. Und wir könnten auch anders.

Wollen wir natürlich nicht.

Aber wir könnten.

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