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(Gret Widmann) Hermann Hesse: Der Anwalt der Einzelnen

Ein Guru auf LSD? - Hermann Hesses romantisches Außenseitertum

Östliche Weisheitslehren, Naturverehrung und Ablehnung des bürgerlichen Establishments: Die Hippies erkoren Hermann Hesse zum Guru, danach beseelte er die Umweltbewegung – bis heute werden seine Bücher begeistert gelesen

Timothy Leary war begeistert – und doch auch irritiert: «Erreichte Hesse diesen visionären Zustand selbst? Durch Meditation? Spontan? Benutzte H. H., der Dichter selbst, den chemischen Pfad zur Erleuchtung?» In seinem Essay in der Psychedelic Review von 1963 empfiehlt der LSD-Prophet, sich nicht von literarischen Schnörkeleien ablenken zu lassen, sondern sich der Bewusstseinserweiterung und Innenschau zu öffnen, die das Werk des schwäbischen Literaturnobelpreisträgers bereithalte. «Vor deiner LSD-Sitzung solltest du ‹Siddhartha› und ‹Steppenwolf› lesen.» Ob Hesse tatsächlich Meskalin genommen hatte, konnte Leary nicht klären, aber letztlich sei das auch egal, vermerkt er generös. Entscheidend sei, dass Hesse zu jenen «Illuminati» gehörte, die quer durch alle Zeiten das große Ganze, die Einheit aller Gegensätze, erfasst hätten.

Dass Hermann Hesse in den sechziger und frühen siebziger Jahren zum unverzichtbaren Bestandteil der amerikanischen Hippiekultur avancierte, lag natürlich nicht nur an Timothy Leary. Schon in den fünfziger Jahren hatte der Schriftsteller Colin Wilson den Dichterrebell in seine große Untersuchung «The Outsider» aufgenommen und ihn damit in den USA bekannt gemacht. Ende der Sechziger röhrte dann die Band «Steppenwolf» – benannt nach Hesses Roman – im Chopper-Movie «Easy Rider» eine Ode an eine fast schon wieder versinkende Bewegung: «Like a true nature’s child / we were born to be wild / we can climb so high / I never wanna die».

Dazwischen lag ein Jahrzehnt, das man statt «wild» vielleicht besser «mild» genannt hätte, denn hier hatte sich tatsächlich eine Umwertung aller Werte vollzogen, trotz Rassenauseinandersetzungen und Vietnamkrieg. Das Harte sollte weich werden, das Kantige fließend. Vor allem nämlich durch den esoterisch-individualistischen Komplex der Hippies kam eine weltanschauliche Gemengelage zustande, die das Glück zu einer Waffe machte: Happiness is a warm gun.  

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Östliche Weisheitslehren, Naturverehrung, romantisches Außenseitertum, die Ablehnung des Vietnamkriegs und des bürgerlichen Establishments überhaupt – die ganze Palette des Flower Power-Programms ließ sich mit geradezu phantastischer Passgenauigkeit aus Hesses Büchern herauslesen. Oder war es umgekehrt? Bot das Vokabular der Selbstwerdung und Selbstfindung, das die Romane vom «Demian» bis zum «Glasperlenspiel» durchzieht, einfach nur genügend Spielraum für eine Lesart, die gar nicht am toten Buchstaben, sondern an Sinn- und Seelensuche interessiert war? Den «Werde, der du bist»-Dramen Hesses haftet ohne Zweifel ein Zug ins Sendungsbewusste an, der Literatur zum Vehikel einer lebensrettenden Botschaft macht. Über «Siddhartha», die indische Dichtung von 1922, schrieb Henry Miller 1973 in einem Brief an den Hesse-Herausgeber Volker Michels, das Buch sei für ihn «eine wirksamere Medizin als das Neue Testament».

Genau diese Art von Heilsversprechen war der Literaturkritik und einigen – möglicherweise neidischen – Schriftstellerkollegen ein Dorn im Auge: Hesses Werke seien gar keine Dichtung, sondern Bekenntnis, was der Dichter selbst schon 1926 bestätigt hatte. Gottfried Benn meldete einen typisch deutschen «Innerlichkeitsromancier», was selbstverständlich abwertend gemeint war.

Die jugendlich-inbrünstigen Fans kümmerte das wenig; in den Sechzigern allerdings, als der Boom in den USA zu Millionen-Auflagen führte, gab es in Deutschland gerade einen Absatz-Knick. Das Romantische stand zeitweilig unter Generalverdacht, und die jüngere Leserschaft, «nun an Grass-Johnson-Walser-Weiss-Prosa orientiert», wolle «von den Lebenssinnsucher-Epen Hesses nichts mehr wissen», bemerkte der «Spiegel» 1968 mit leicht hämischem Unterton. Zehn Jahre zuvor war dort schon die ziemlich süffisante Titelgeschichte «Im Gemüsegarten» erschienen, die den Nobelpreisträger als schrulligen, unpolitischen und weltabgewandten Blumenonkel porträtierte.

Trotzdem (oder womöglich gerade deswegen) erreichten «Unterm Rad», «Demian», «Siddhartha», «Der Steppenwolf», «Narziss und Goldmund» oder «Das Glasperlenspiel» zu allen Zeiten fulminante Auflagen; nach dem vorübergehenden Einbruch in den Sechzigern stiegen die Auflagen auch in Deutschland wieder enorm. «Zwischen 1973 und 1977 wurden drei Millionen Hesse-Bücher allein in den deutschsprachigen Ländern verkauft», erklärt Winfried Hörning, Leiter der Taschenbuch-Sektion im Suhrkamp Verlag. Und heute? Wenn es nicht so gut laufe, liege der Verkauf bei etwa 300.000, normal seien 350.000 bis 400.000 Exemplare im Jahr. Gerade versucht der Verlag, das Interesse auch auf anderen Schauplätzen zu erregen. «Hesse antwortet auf Facebook» heißt eine Aktion, aus der auch ein Buch werden wird. Wer bislang Social Media-Skeptiker war, dürfte sich angesichts rührseliger Fan-Ergüsse bestätigt fühlen, denn es wimmelt nur so von «Er-zeigt-mir-den-Weg-zu-mir-selbst»-Bekenntnissen. Andererseits war gerade das Lebensberaterische und Ratgeberhafte, die leichte Doktor-Sommer-Note, durchaus ein zentraler Bestandteil im Schreiben Hesses. Seine Korrespondenz, die in einer zehnbändigen Edition erscheinen wird, beläuft sich auf unfassbare 44.000 Briefe, viele davon Antwortschreiben an Hilfe suchende Jugendliche.

Was aber ist dran an der weit verbreiteten These, dass Hermann Hesse ein Autor ist, den man eigentlich nur als junger Mensch wirklich lesen kann? Muss, soll oder kann man seine Bücher abschütteln wie zu eng gewordene Schlangenhäute? Eine kleine Umfrage unter 30- bis 50jährigen Hesse-Intensiv-Lesern bestätigt ein geradezu klassisches Muster: Auf hemmungslose Hingabe im Teenager- oder Twen-Alter folgt unweigerlich (mit oder ohne Literaturstudium) eine Phase der Abstoßung, die individuell variabel in nostalgisches Belächeln, Spott, Scham, pikierte Distanznahme oder simples Vergessen übergeht. In etlichen Ex-Kinderzimmern und Elternkellern, hört man, sind staubige Hesse-Taschenbuchausgaben auf ewig zwischengeparkt. Selten scheint das Kill your Idols-Prinzip so gut zu funktionieren wie im Fall von Hermann Hesse.

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Ostern 2012: Es hilft nichts, auch bei noch so hartnäckiger Freundeskreisbefragung lässt sich die Frage nach der Wirksamkeit eines psychologischen Vokabulars – und die Frage nach der literarischen Qualität eines Werks – natürlich nur selbst beantworten. Also steigt man in den Elternkeller und zerrt, vergraben zwischen anderen Achtzigerjahre-Reliquien, vergilbte Taschenbücher ans Licht. Ein inbrünstiger, offensichtlich schwer orientierungsbedürftiger Teenager hat sich zwischen 1986 und 1988 durch das Hesse-Gesamtwerk gefräst, eine Bleistiftspur von Anmerkungen, Frage- und Ausrufezeichen hinter sich herziehend. Neben klassischer Coming of Age-Verwirrtheit (die Gegensätze mystisch in eins fallen lassen – aber wie? Oder erst mal nur der Lebens-Seite huldigen? Und ist die Geist-Seite tatsächlich ein männliches Prinzip?) stechen die Zeichen der Zeit ins Auge.

Wenn der Hesse der Siebziger ein psychedelischer Guru war, folgte in den Achtzigern ein Baum- und Innerlichkeits-Dichter; immerhin befinden wir uns in der Hochphase sowohl der Umweltbewegung wie der Betroffenheitsliteratur. Natur galt wieder etwas, war aber im konservativen Südwesten in einen selbstgewebten Mantel der Rebellion gehüllt. Mit diesem Bio-Hesse konnte man also – zumindest innerlich – die vorherrschende «Feindseligkeit gegen alles Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige» parieren. Der doppelt unterstrichene Satz stammt aus der 1903 entstandenen Hesse-Erzählung «Unterm Rad», in der das sensible Kind Hans Giebenrath mit Klostererziehungs-Methoden und schwarzer Pädagogik zur Strecke gebracht wird. 1987 konnte man sich, zumal in einem katholischen Kleinststädtchen nördlich von Freiburg, ebenfalls recht gut von schwarzer Pädagogik umstellt fühlen.

Mit seinen Erzählungen von zerrissenen, aufbegehrenden, sich selbst suchenden, wahrhaftigen Helden bietet Hermann Hesse natürlich gerade jugendlichen Lesern eine Identifikationsfläche. «Vom Camenzind bis zum Steppenwolf und Josef Knecht können sie alle als eine Verteidigung – zuweilen auch als Notschrei – der Persönlichkeit, des Individuums gedeutet werden», schreibt der Dichter über seine Figuren. Und er begreift sich als Anwalt des Einzelnen gegenüber jeglichem Kollektiv: von der Schule über den Staat und die Kirchen bis hin zu Patriotismus, Faschismus oder anderen ideologischen Sturmhauben, denen der Innerlichkeitsromancier tatsächlich immer abhold war, im Gegensatz zu anderen, vermeintlich kühleren Schriftstellerkollegen.

Wie aber wirken diese Werke rund 25 Jahre nach dem Ernstfall, also einer Lektüre, die sich um literarische Kriterien tatsächlich wenig kümmerte, sondern Leary-haft nach Innenschau lechzte? Der «Steppenwolf» etwa, Hesses 1927 erschienener Roman um Harry Haller, der von inneren Kämpfen zwischen «Geist» und «Leben» zerrissen wird? Der fast fünfzigjährige Hesse war Mitte der zwanziger Jahre in eine schwere Lebenskrise geraten und ließ seinem verzweifelten Dichter-Alter-Ego zunächst einmal die Selbstdiagnose Dualismus ausstellen. Haller versteht, woran er leidet, und will sein dichotomisches Wesen mithilfe jener «Mannigfaltigkeit» kurieren, die ihm wiederum das «Magische Theater» vor Augen führt.

Das von C. G. Jung inspirierte Symbolschauspiel aus unterdrückten Trieben und kollektivem Unbewusstem, das hier zauberteppichgleich ausgerollt wird, war 1927 eine literarische Innovation. Vor allem aber folgt der Roman mit seinem «Tractat vom Steppenwolf» einem musikalischen Prinzip, das die Motive sonatenhaft wiederholt und variiert. Thomas Mann war noch 1948 begeistert: «Ist es nötig zu sagen, dass der ‹Steppenwolf› ein Romanwerk ist, das an experimenteller Gewagtheit dem ‹Ulysses›, den ‹Faux monnayeurs› nicht nachsteht?» Joyce, Gide, Hesse, das ist doch eine eher seltsam anmutende Reihe.

Die schlichte Raffinesse, die heute – nicht nur im «Steppenwolf», sondern auch in anderen Werken Hesses – auffällt, scheint eher in einer Form der Selbst-Psychologisierung zu liegen, die erst im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre volle Wucht entfaltet. Die Soziologin Eva Illouz hat in ihren Studien untersucht, wie sehr die popularisierte Psychoanalyse zum dominanten Narrativ des modernen Individuums geworden ist. Das eigene Leben, erklärt sie etwa in «Die Errettung der modernen Seele», lässt sich nur noch in solchen psychologischen Rahmenerzählungen verhandeln. Hesses Romane und Erzählungen liefern dazu das Vokabular – vom eigenen Schicksal, das «in sich ausgelebt» werden muss, über die Emphase des „Echten und Lebendigen“ bis zur Stilisierung des schmerzzerrissenen «Suchers».

Dass Hesse sich dabei auch höchstpersönlich als Identifikationsfigur anbot und so die Wirkung seiner Bücher potenzierte, kann man in den drei soeben erschienenen Biografien von Gunnar Decker, Heimo Schwilk und Bärbel Reetz nachlesen. Der schon 1912 in die Schweiz übersiedelte Dichter war ja seit seinem ersten großen Erfolg von 1904, der Naturverherrlichungs-Erzählung «Peter Camenzind», selbst eine populäre Figur geworden, was er mit hartnäckigen Rückzugsmanövern quittierte. In der öffentlichen Wahrnehmung setzte sich allmählich der gütige Natur-Idylliker, der «Weise von Montagnola» durch, den die Kritiker zu Zeiten der «Gruppe 47» literarisch nicht mehr ernst nahmen. So viel Aquarell, Landlust, Städteverachtung und Vita-activa-vita-contemplativa-Mystik, das kam nicht nur dem «Spiegel» verdächtig vor.

Viel interessanter scheint tatsächlich der frühere Hesse der nuller, zehner und zwanziger Jahre: der Asket, Zivilisationskritiker, Indien-Reisende, Sonnenkultler, Nacktkletterer, (vorübergehende) Vegetarier und (skeptische) Monte-Verità-Besucher. Gunnar Decker nennt diesen an der eigenen Psychopathie laborierenden Grübler treffend einen «schroffen Wirklichkeitsabwehrkünstler»; Heimo Schwilk hebt die Kluft «zwischen hochfahrendem Idealismus und weltverachtendem Spott» hervor. Kein Wunder, dass dieser Hesse einen Gastauftritt in Christian Krachts jüngstem Roman «Imperium» hat: Der Kokosnuss-Fanatiker August Engelhardt trifft in Florenz auf einen schwäbischen Schriftsteller, der sich einen «Landschinken und einen Viertelliter blutroten Valpolicella» genehmigt. Gut gegeben: Bei aller Askese war Hesse nämlich durchaus an den schmackhaften Dingen des Lebens interessiert.

Die mittlerweile modische Verbindungslinie zwischen «grünen» und «braunen» Heilsversprechen lässt sich aber gerade mit Hesse recht gut widerlegen. Diese oft etwas übereilig gezogene Gleichung sieht in der Naturverklärung ganz verschiedener weltanschaulicher Richtungen denselben idealistischen Reinheits-Fetisch walten, der dann direkt in die Katastrophe führt. Aber nicht jeder Baum-Umarmer schleppt auch einen inneren Hitler mit sich herum, und nicht jeder (vorübergehende) Vegetarier will das ihn umgebende Kollektiv zwangsheilen. Gerade Hesse war, bei all seinen Sinnsucher-Attitüden, immer auch ein Gemeinschafts-Flüchtling – und dieses Misstrauen jedem Kollektiv gegenüber macht ihn dann letztlich auch heute wieder interessant.

Der leuchtende Pfad, den der «Steppenwolf»-Protagonist Harry Haller entdeckt, die Wonnen der Vielheit, die Pforten der Wahrnehmung – es war nicht alles schlecht. Die Hippies mögen produktiven Missverständnissen aufgesessen sein; eins aber scheint bei aller Verstrahlung unübersehbar: Das Licht, folgt man Hesses Pfaden, kann immer nur aus dir selbst heraus scheinen. Peace!
 

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