Kurz und Bündig - Helmut Dubiel: Tief im Hirn

Helmut Dubiel mag Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman «Il Gattopardo». Im Regen auf der Autobahn fällt ihm der Fürst von Salina ein, wie dieser sich im Angesicht des Todes fragt, welche Momente er gerne noch einmal erleben würde. Es sind wenige. Zu wenige und zu sauber ausgewählt, wie Dubiel meint. «Vielleicht bin ich als Kleinbürger weniger wählerisch als der Fürst.

Helmut Dubiel mag Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman «Il Gattopardo». Im Regen auf der Autobahn fällt ihm der Fürst von Salina ein, wie dieser sich im Angesicht des Todes fragt, welche Momente er gerne noch einmal erleben würde. Es sind wenige. Zu wenige und zu sauber ausgewählt, wie Dubiel meint. «Vielleicht bin ich als Kleinbürger weniger wählerisch als der Fürst. Vielleicht bin ich auch Genosse einer Zeit, in der man gelernt hat, dass jedes Ding seine zwei Seiten hat.» Dubiels Ge­dan­ken über die Salina-Frage kommen nicht von ungefähr. Der Soziologe und ehemalige Direktor am Frankfurter Institut für Sozialforschung ist unheilbar krank. Er leidet unter der Parkinson-Krankheit. Seit dreizehn Jahren schwindet die substantia nigra in seinem Gehirn, das Dopamin produzierende Gewebe stirbt immer schneller ab. Die Hände zittern, die Körpermuskulatur versteift sich, und die Bewegun­gen verarmen. Verstopfung, Schluckbeschwerden, Rückenschmerzen, Depressionen und Schlafstörungen begleiten den Krankheitsverlauf. In Dubiels Buch wird die Krankheit nicht nur beschrieben, sie wird erzählt. Von den ersten Symptomen im Alter von 46 Jahren über die mikrochirurgische Tiefenhirnstimulation in der Klinik bis zur Gegenwart nach der Operation: ein schonungsloser Bericht. Zwischen dem Ich und der Welt klafft ein Riss; der selbstbewusste Profes­sor, der es liebte, vor Zu­schau­ern denkend einherzu­schrei­ten, verwandelt sich in ein «aus­geleiertes Auto». Zurückgewor­­fen auf seine biologische Na­tur hadert er mit der leib­lichen Bedingtheit seiner geis­ti­gen Frei­heit. Immer wieder skizziert er Vektoren von der Krankheit zu allgemeinen Gesellschaftsdiagnosen, den eigenen Geist mit der Seele suchend. Reflexio­nen über Geheimnis und Lüge wechseln mit anderen über Verdrängung und Empathie, über Natur und Soziales, über Stigmatisierung und Chaostheorie. Eine Sinnsuche in Form eines Rechenschaftsberichts vor sich selbst und vor Publikum, geschrieben als Bildungsroman einer Krankheit, als ein Abstract des eigenen Werdens, eine Éducation Parkin­sonienne. Dubiels neuronaler Schiffbruch vor Zuschauern ist stark in den poetischen Szenen wie der liebevollen Beschreibung eines winzigen New Yorker Parks und dessen In­sassen; dagegen bitter – und in seiner Rigorosität mitunter pathetisch oder banal – in seinen sozialen und psychologischen Einsichten, wenig erbauend besonders in den Passagen über den 11. September 2001. Gemessen an der Qualität der literarischen Ruhezonen geht Dubiel eher durch als begabter Beobachter und Poet mit zweit­rangigen gesellschaftli­chen Einsichten denn als renommierter Soziologe, der er ist, mit poetischen Momenten. Die eigene Befindlichkeit zu sprengen, der schwindenden substantia nigra die noch immer große Freiheit der geistigen Reflexion entgegenzusetzen – das freilich trennt Dubiel nicht von Tomasi di Lampe­dusas Helden, dem geschichtsbewussten Fürsten von Salina. Dieser ist kein Autokrat seiner Befindlichkeit. Vielmehr erweckt Tomasi ihn zu einem Vorreiter der Erkenntnis, dass jedes Ding seine zwei Seiten hat: eine Wahrheit der Emotionen und eine Wahrheit der vernünftigen Einsichten. Helmut Dubiels Wahrheit der vernünftigen Einsichten ist über­schaubar, die seiner Emotionen lesenswert.

 

Helmut Dubiel
Tief im Hirn
Kunstmann, München 2006. 144 S., 14,90 €

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