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Europa und die Flüchtlinge - Heimat ist nicht nur ein Ort

Europa reagiert auf die Flüchtlinge mit Abwehrreflexen. Die Menschen haben Angst um ihre Heimat. Doch das ist überzogen: Viele Flüchtlinge werden zurückwollen, wenn der Krieg vorüber ist

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Das Lesegerät ging nicht. Der fangfrische Wolfsbarsch vom Grill war köstlich, der Vinho Verde dazu auch, der Blick auf den anbrandenden Atlantik fantastisch. Aber jetzt, bei der Rechnung, ging das Lesegerät nicht. „Da haben sie den Radar wieder angeschaltet, denn dann sind immer alle Lesegeräte tot hier unten am Strand, alle“, sagte der Wirt. „Sind wohl wieder welche im Anmarsch“.

Das riesige graue Radar an der Kante der Steilküste war mir schon aufgefallen auf der Fahrt zum herrlichen Strand von Caparica südlich von Lissabon. Daneben große Schlauchboote der Marine oder Polizei, so gebaut, dass sie den teilweise haushohen Wellen der Brandung trotzen können.

Der Wirt erzählte von den Booten, die kommen, Boote wie die Fischerkähne, von denen aus die Fischer direkt am Strand ihren Fang verkaufen. Es kämen immer mehr. Manchmal würden auch Leichen angespült. „Bodies“.

„Ich mag sie nicht“, sagte der Wirt in einfachem Englisch und mit abschätziger Miene, tippte sich auf die Brust und setzte hinzu: „Sieben Kinder.“

Der Sommer der Flüchtlingsströme


Das große Thema dieses Sommers holte uns im Urlaub ein. Drastisch, plastisch, konkret. Dort, wo die Kitesurfer ihre tollkühnen Kapriolen schlugen, genau dort landen auch die Flüchtlinge an Portugals Küste an. Erholung und Überlebenskampf zeitgleich auf engstem Raum.

Dieser Sommer ist der Sommer der Flüchtlingsströme. Sie speisen sich aus drei Quellen. Afrika, das Kriegsgebiet um Syrien und den Balkan. Europa, dieser Kontinent, den wir gleichzeitig so erfolgreich schlechtreden, dieses angeblich zugrunde gehende Europa ist für Hunderttausende das angestrebte Paradies. Und das Paradies reagiert wie der Wirt am Strand von Caparica: mit Abwehrreflexen. Der britische Premier David Cameron lässt die Flüchtlinge im Tunnel zwischen Calais und Dover von Hunden jagen. Victor Orbán aus Ungarn lässt riesige Zäune errichten. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sucht sein Heil in Abschreckung. In Bayern soll es nur noch das Allernötigste für Flüchtlinge geben. 

Das wird alles nichts nutzen. Schimpfen hilft nicht, Hunde helfen nicht, Zäune auch nicht. Europa und insbesondere das Lieblingsziel Deutschland müssen sich konstruktiv mit diesem Thema befassen.

Zum ersten müssen tatsächlich mehr Länder zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Denn so populistisch es klingt, so wahr ist es auch: Wir können nicht alle aufnehmen, denen es in ihrem Land schlechter geht als hierzulande unter einfachsten Bedingungen.

Viele werden zurück in ihre Länder wollen


Zweitens muss ein neues Einwanderungsrecht her. Denn das Leid dieser Menschen trifft auf einen dringenden Bedarf an qualifizierten Arbeitsplätzen: Das komfortable Leben in Deutschland hat viele zu bequem gemacht, noch Kinder in die Welt zu setzen. Vielleicht ist es auch falsch verstandener Ehrgeiz im Beruf, bei dem Kinder stören, oder aus welchen Gründen  auch immer Menschen in Deutschland dem größten Glück entsagen: Kinder zu haben.

Dieses Einwanderungsgesetz wird kommen, auch wenn die CSU noch dagegen ist. Für manche Erkenntnisse brauchen unsere Freunde im Süden immer etwas länger. Das ist bei Stromtrassen so, das ist bei Einwanderern so. Aber sie folgen dann schon. Das war bei den Stromtrassen so, das wird bei den Einwanderern so sein.

Drittens schließlich muss ohne wenn und aber klar sein, dass alle Menschen aus dem Bürgerkriegsgebiet des IS zunächst hier bleiben können. Dass wir sie gerne aufnehmen, ihnen Schutz und Erholung gewähren. Bei jenen müssen wir auch nicht reflexhaft davon ausgehen, dass sie alle bleiben wollen. Die meisten werden zurückwollen, wenn der Krieg vorüber ist. Denn Heimat ist nicht nur ein Ort. Heimat ist ein starkes Gefühl. Ein sehr starkes Gefühl.

Das zeigt sich nicht zuletzt an den Reflexen des portugiesischen Wirts, die in uns allen mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Das Gefühl, dass die Heimat diesen Ansturm an Leuten nicht verkraftet.

Wir sollten diesem menschlichen Reflex die Vernunft entgegensetzen: Den sieben Kindern des Wirts geht es nicht schlechter, wenn wir Arbeitskräfte willkommen heißen und Kriegsflüchtlingen Schutz gewähren. Im Gegenteil: Es geht ihnen besser. Ökonomisch und ethisch-moralisch.

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