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() Grammatik und Freiheit

Das Leben der Dichter - Grammatik und Freiheit

Heinrich von Kleist, Kindersoldat, Jurist, Journalist, Selbstmörder: Zahllos sind die Deutungen seines kurzen und zersplitterten Lebens. Zwei Biografien liefern neue Bilder des widersprüchlichsten aller deutschen Dichter

Wenn es ein genuin deutsches Thema gibt, so ist es wohl das Gesetz. Ist das Menschenleben Regeln unterworfen? In welchem Maß soll man sich in seinem Handeln von abstrakten Bestimmungen leiten lassen? Italienischen oder französischen Dichtern käme die Frage konstruiert vor, in der deutschen Literatur jedoch ist sie ebenso allgegenwärtig wie das Problem der Klasse und des sozialen Rangs in der englischen.

Der Philosoph des Gesetzes, der Denker der Unbedingtheit ist natürlich Immanuel Kant. Sein dunkler Zwillingsbruder aber, das ist der einstige Kindersoldat und spätere gescheiterte Redakteur Heinrich von Kleist. Häufig wird von Kleists Kant-Krise gesprochen, aber in Wahrheit handelt es sich wohl weniger um Einfluss als um unmittelbare Verwandtschaft: Was der eine dachte, empfand der andere, und nicht umsonst forderte Ernst Bloch seine Studenten auf, Kleist zu lesen, um sich an den Sprachduktus Kants zu gewöhnen. Den Weimarer Klassikern aber mit ihrem souveränen Zutrauen zum Humanismus scheint Kleist ebenso fern wie den Natur, Altertum und Gespenster verehrenden Romantikern. Bei ihm geht es nicht um Blumenschönheit und nicht um die verlorene Antike; bei ihm geht es um das Auseinanderklaffen von Zwang und Freiheit, von Geistes- und Naturnotwendigkeit, um die Schwere des Gesetzes einer- und die Sehnsucht nach Leichtigkeit andererseits.

Ob es nun ein rechtschaffener Bürger ist, der zum Terroristen wird, weil er nicht ertragen kann, dass man im Menschenleben keine umfassende Gerechtigkeit findet; ob ein Dorfrichter dem Zwang zur Anwendung der Gesetze nicht einmal um den Preis entkommen kann, sich selbst zu verurteilen; oder ob ein brandenburgischer Prinz, der unter Missachtung eines Befehls seines Vorgesetzten eine Schlacht gewinnt, damit seinen Kopf verwirkt hat, da der Gehorsam wichtiger ist als der Sieg – immer wird da mit juristischer Striktheit die Kluft zwischen Sein und Sollen verhandelt, immer geht es um die Größe und Absurdität, die darin liegt, das «ungenaue, vage Leben», wie Rilke es nennen sollte, dem Zwang einer Regel zu unterwerfen.


Sehnsuchtstexte von einer Freiheit ohne Grenzen

Denn stets ist da auch die Phantasie von einem Dasein ohne Grenzen, nicht mehr gebunden durch die Fesseln von Gesetz, Individualität und enger Moral. Da verzeiht die Marquise von O. ihrem Vergewaltiger und heiratet ihn, ohne dass dies eine andere Begründung fände als die unvergessliche Phrase «um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen». Da bekommt der steife Feldherr Amphitryon einen göttlichen Zwilling zur Seite gestellt, dem alles so viel leichter zu fallen scheint, und der, abgesehen davon, dass er ein Gott in Verkleidung des Feldherrn ist, eben auch dieser Feldherr selbst in freierer und größerer Gestalt ist – mit anderen Worten: Amphitryon, wie er sein sollte, wenn die Menschen vollkommen wären.

Und da sind natürlich die beiden anonymen Gesprächspartner in jenem kryptischen Wunderwerk verspielter Metaphysik, dem Traktat über das Marionettentheater: Nur die Puppe hat vollendete Anmut, da ihr Wille und das sie haltende Gesetz – die Fäden – eins sind, und auf der anderen Seite natürlich der Gott, in dessen Gestalt Gesetz und Wille nicht mehr auseinanderfallen. Dazwischen aber stehen wir: hölzerner als jede Holzpuppe, unfrei, von gebundenem Willen und hässlichen Bewegungen. Zurück können wir nicht, unsere einzige Hoffnung ist der Weg nach vorne, eine Erweiterung unserer seelischen Möglichkeiten ins Unbegrenzte: «So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.»

Immer schon hat Kleist sich dem Verständnis ins Paradoxe und ins Rätsel entzogen. Ein von der Gewalt faszinierter Humanist, der in seinen Briefen ständig die Rollen zu wechseln scheint, manchmal Pädagoge, oft pathetischer Nationalist, dann wieder Metaphysiker und noch öfter bedauernswerter Bittsteller, meist ohne festen Wohnsitz, und am Schluss sein Leben im heitersten und freiesten Selbstmord der Literaturgeschichte wegwerfend – eher ein irritierender Akt der Autonomie als eine tragische Verzweiflungstat.

Man könnte den Umstand, dass zur selben Zeit, ohne jedes drängende Jubiläum (abgesehen vom 230. Geburtstag), zwei neue Kleist-Biografien erscheinen, nun zur feuilletonistischen Gegenwarts-Analyse nutzen: Warum gerade jetzt? Was macht unsere Zeit so Kleist-tauglich? Die Wahrheit ist aber wohl, dass es sich einfach um Zufall handelt. Jede Epoche interessiert sich für Kleist; neben Kafka ist er vielleicht der einzige deutsche Autor, der seit seiner Durchsetzung nie in Gefahr war, außer Mode zu kommen. Dieser Zufall verurteilt die beiden Werke allerdings dazu, in den Besprechungen immer als Zwillingspaar vorzukommen, und fast jede Rezension wird, als wären da zwei zum Wettlauf angetreten, mit einem Sieger und einem Verlierer enden – eine Versportlichung, die man gerade, weil sie so naheliegend ist, vermeiden sollte.


Behäbigkeit gegen Knappheit und Schärfe

Da ist auf der einen Seite die Biografie des Journalisten Jens Bisky, auf der anderen die des Melbourner Emeritus Gerhard Schulz. Dass letztere die Summe jahrzehntelanger Beschäftigung ist, merkt man auf jeder Seite; das Bild ist breiter angelegt, hat aber oft einen Zug ins allzu Ruhige, ja, Behäbige, der sich schwer mit dem irrlichternden Charakter seines Objekts vereinbaren lässt. Biskys Duktus ist knapper und schärfer, das Bild des Menschen Kleist wird bei ihm deutlicher herausgearbeitet, seine Interpretationen sind kürzer, aber auch mutiger: «Es geht Kohlhaas weniger um die Idee des Rechts als um die unmittelbare Wiedergutmachung der erlittenen Kränkung. Er fühlt sich wie ein Hund getreten und wird erst dann Genugtuung erhalten, wenn seine Feinde gleiche Kränkung erlitten haben. Die Zivilrechtsangelegenheit wegen Entschädigung wird mit einer Strafsache vermengt. Kohlhaas fungiert als Kläger und Richter zugleich. Mit der Idee neuzeitlichen Rechts ist das nicht zu verbinden.»

Bei Gerhard Schulz erfahren wir, dass in der Erstfassung des berühmten Anfangssatzes der Novelle von Kohlhaas noch nicht als von einem der «rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten», sondern bloß als von einem «der außerordentlichsten und fürchterlichsten Menschen seiner Zeit» die Rede war. Seine Deutung freilich kommt nicht weit über Gemeinplätze hinaus: «Welchen Schritt Kohlhaas auch tut, er scheint ihn immer weiter in die Verwirrung zu führen, so daß jeder Versuch, Recht zu erhalten, nur neues Unrecht hervorruft. Denn der Weg von Michael Kohlhaas durch die Welt ist letztlich der Weg eines Menschen zu sich selbst.»

Jens Biskys Buch, wie es geschehen ist, als das journalistischere zu bezeichnen, ist also unfair und billig; seine Darstellung dieses kurzen und zersplitterten Lebens ist ebenso einfühlsam wie das Bild, das er von einer komplizierten Umbruchszeit in Europas Geschichte malt. Wer sicher sein will, dass ihm kein Detail vorenthalten wird, sollte eher zu Schulz greifen; wer sich aber schon mit Kleist beschäftigt hat und Anlass zum Nachdenken und Widerspruch sucht, wird Bisky anregender finden.

Denn natürlich – davon wiederum erfährt man bei Schulz eine Menge –, es hat nie eine Meinung zu Kleist gegeben, die nicht Widerspruch hervorgerufen hätte. Mehr als andere Autoren verstand jede Zeit ihn anders und projizierte ihre eigenen Widersprüche auf ihn. «Rahel Levin», so Bisky, «die Kleist am Ende seines Lebens mehrfach traf, stutzte darüber, daß sein Blick ihr keine Zärtlichkeit zuwarf, sein Auge ihr keine Sicherheit bot.» Dass der Biograf diesen Satz an den Anfang stellt, gibt programmatisches Gewicht: Auch dem genauesten Forscher entzieht sich Kleist, und da keiner sich wirklich in ihm wiederfinden kann, mag jeder das Seine in ihm sehen – jede Epoche, jeder Biograf, jeder einzelne Leser.


Kleist, ein Stilist ohne Epigonen

Aber da ist doch ein Punkt, an dem bei Kleist das Geheimste offen und die Wahrheit klar zutage liegt: seine Grammatik. Nabokovs Satz, dass die wahre Biografie eines Schriftstellers die Geschichte seines Stils ist, lässt sich nirgendwo besser anwenden als bei diesem Dichter. So viel ist gesagt worden über diese Prosa, über die festen Klammern ihrer Form und die quasi-juristische Umständlichkeit der Sätze, deren eigentliches Wunder darin liegt, dass sie dennoch so kraftvoll, federnd und lesbar sind: jeder einzelne eine Illustration des Widerstreits von Gesetz und Freiheit. Das Publikum, so Schulz etwas altväterlich über die «Kohlhaas»-Novelle, «hat wohl nicht selten gestöhnt über die langen, altmodisch klingenden Sätze, die der Sprache des Jurastudenten und Rechtspraktikanten Kleist entlehnt zu sein scheinen. Aber sie erwachen zum Leben, wenn man sie laut gelesen hört.»

Keine Sorge, möchte man da ausrufen, hier bedarf es des pädagogischen Lautlesens nicht, denn wer hätte je gestöhnt über Kleists Sprache! Man würde erwarten, dass die Leser stöhnen, aber es geschieht eben nicht; das ist ihr eigentliches und nicht imitierbares Wunder. Nicht zufällig gibt es im Deutschen keinen Kleist-Epigonen, keinen einzigen künstlerisch ernstzunehmenden Nachahmer. Und nur in der englischen Sprache findet sich ein Roman, der Kleists Stil übernimmt und fruchtbar macht: E. L. Doctorows «Ragtime», dessen Held nicht von ungefähr Michael Coalhouse heißt; dass eine so wichtige intertextuelle Auseinandersetzung mit deutscher Literatur in Deutschland nie bekannt wurde, ist eine der vielen traurigen Pointen in der Geschichte unserer Nachkriegsliteratur.

Was Kleist hier mit der Sprache tat, konnte nur er und niemand anders. In dieser eisern-schwerelosen Grammatik ist er ganz bei sich; in seiner Prosa und seinen Dramen tritt uns, mehr als in seinen Briefen und allen Berichten der Zeitgenossen, seine Persönlichkeit entgegen. Kleist ist reicher als jedes Bild, das wir uns von ihm machen, und er entzieht sich in seiner Widersprüchlichkeit allem, was man über ihn sagen kann. Die Wahrheit über ihn steht zum Teil in diesen Biografien. Ganz und vollständig aber finden wir sie in der Struktur seiner Sätze.

 

Daniel Kehlmann lebt als Schriftsteller und Essayist in Wien. 2005 erschien sein Roman «Die Vermessung der Welt».


Gerhard Schulz
Kleist. Eine Biographie
C. H. Beck, München 2007. 608 S., 26,90 €

Jens Bisky
Kleist. Eine Biographie
Rowohlt, Berlin 2007. 528 S., 22,90 €

Heinrich von Kleist (eigentlich: Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist)

1777     …    Geboren in Frankfurt/Oder
1788     …    Tod des Vaters
1792     …    Getreu der militärischen Familientradition Eintritt ins Garderegiment zu Potsdam. Teilnahme am Rheinfeldzug gegen Frankreich.
1795 Beförderung zum Fähnrich, zwei Jahre später zum Leutnant. Privat mathematische und philosophische Studien, Erwerb des Universitätszugangs
1799     …    Auf eigenen Wunsch Entlassung aus dem Militär. Studienbeginn in Frankfurt/Oder in den Fächern Mathematik, Physik, Kulturgeschichte, Latein und Kameralwissenschaften (Volkswirtschaft)
1800     …    Abbruch des Studiums. Volontariat im Wirtschaftsministerium in Berlin. Verlobung mit Wilhelmine von Zenge
1801     …    Reise mit der Schwester Ulrike über Dresden nach Paris
1802     …    Wohnsitz auf einer Aare-Insel bei Thun/Schweiz. Auflösung der Verlobung. Arbeit an den Trauerspielen «Die Familie Schroffenstein» und «Robert Guiskard» sowie am «Zerbrochnen Krug»
1803     …    Im Frühjahr Rückkehr nach Deutschland. Erneute Paris-Reise; in Paris Verbrennung des Manuskripts zu «Robert Guiskard». Entschluss, in der französischen Armee gegen England zu kämpfen – nicht realisiert. Im Dezember Rückkehr nach Potsdam. Beantragung einer Stelle im diplomatischen Dienst
1804     …    Arbeit im Finanzdepartement des Freiherrn vom Stein. In Graz wird «Die Familie Schroffenstein» uraufgeführt
1805     …    als Beamter im Vorbereitungsdienst in Königsberg. Beendigung des «Zerbrochnen Krugs», Arbeit am «Amphitryon», an «Penthesilea» sowie an den Erzählungen «Michael Kohlhaas» und «Das Erdbeben in Chili»
1806     …    Ausscheiden aus dem Staatsdienst. Entschluss, als freier Schriftsteller zu leben
1807     …    Auf dem Weg nach Berlin von den französischen Behörden als Spion verhaftet; im Kriegsgefangenenlager Châlons-sur-Marne Arbeit an der Novelle «Die Marquise von O …» und an «Penthesilea». Rückkehr nach Dresden. Das «Erdbeben in Chili» und «Amphitryon» erscheinen
1808     …    Zusammen mit Adam Müller Herausgeber des «Phöbus. Journal für die Kunst», in dessen erstem Heft Fragmente des «Robert Guiskard» wie des Trauerspiels «Penthesilea» erscheinen; Beendigung des Dramas «Die Hermannsschlacht». «Der zerbrochne Krug» wird im Hoftheater in Weimar uraufgeführt
1809     …    Reise nach Prag, dort Planung des freiheitlichen Wochenblatts «Germania» (nicht erschienen wegen der Kapitulation Österreichs). Rückkehr nach Berlin
1810     …    Erscheinen des ersten Erzählungsbands. «Käthchen von Heilbronn» wird in Wien uraufgeführt. Kleist gründet und leitet die Tageszeitung «Berliner Abendblätter», deren Ziel: «Unterhaltung aller Stände des Volkes» sowie «Beförderung der Nationalsache»; die populäre Spezialität der «Abendblätter» sind Polizeiberichte
1811     …    Verschärfte Zensur zwingt zur Einstellung der Zeitung. Kleists Versuch, eine Anstellung in der Verwaltung zu erhalten, scheitert. Der «Prinz von Homburg» erhält bis 1814 Aufführungsverbot. Erscheinen des zweiten Erzählungsbands. Am 21. November nimmt sich Kleist zusammen mit Henriette Vogel das Leben

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