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Gladbeck - Eine Geiselnahme verändert ein ganzes Land

Vor 25 Jahren hielt das Geiseldrama von Gladbeck die deutschen Fernsehzuschauer in Atem. Peter Henning erinnert sich in seinem Buch „Ein deutscher Sommer“ an das Versagen der Polizei und an Journalisten, die zu Handlangern wurden. Bei seinen Recherchen ist er auf heftigen Widerstand gestoßen

Peter Henning

Autoreninfo

Peter Henning lebt als Schriftsteller in Köln. Im September erscheint bei Luchterhand sein neuer Roman „Bis Du wieder gehst“.

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Meine schreckliche Faszination begann vor 25 Jahren, am 16. August 1988. Ich war damals 29 Jahre alt und davon überzeugt, dass Bilder nicht lügen. Eine Hitzewelle hielt das Land seit Wochen im Griff, als sich in der nordrhein-westfälischen Stadt Gladbeck in den frühen Morgenstunden zwei Männer anschickten, jenes Verbrechen zu begehen, das zum öffentlichsten der deutschen Nachkriegsgeschichte werden sollte.

Bis zu jenem unheilvollen 16. August war der Name Gladbeck den meisten Westdeutschen eher unbekannt. Wie die Wasser der bei Holzwickede entspringenden Emscher, die auf ihrem Weg zur Mündung in den Rhein bei Dinslaken-Eppinghoven einen Bogen um Gladbeck macht, war auch sonst alles Dramatische bis dahin an dem 67 000 Einwohner zählenden Ort vorbeigezogen. Doch dann, gegen 7.45 Uhr jenes abermals hochsommerliche Temperaturen versprechenden Tages, fiel das Dramatische mit lautloser Wucht in Gladbeck ein. Was sich von dort ausgehend in den folgenden 54 Stunden ereignen sollte, sollten nicht nur jene, die direkt oder indirekt an den Geschehnissen beteiligt waren, anschließend für immer mit dem Namen Gladbeck verbinden.

Die beiden 31 und 32 Jahre alten, in Gladbeck aufgewachsenen Männer Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski setzten sich am Morgen des 16. August auf ein gestohlenes Motorrad und fuhren von der City aus schwer bewaffnet in Richtung Nordwesten, nach Rentford-Nord, um eine Filiale der Deutschen Bank zu überfallen.

Was folgte, ging als „Geiseldrama von Gladbeck“ sowohl in die europäische Kriminal- als auch in die bundesdeutsche Fernsehgeschichte ein: Zwei Berufskriminelle hielten das Land zweieinhalb Tage lang in Atem, nahmen Geiseln und kaperten einen Bus, töteten einen 15-jährigen Jungen, gaben ungezählte Radio- und TV-Interviews – und ein Millionenpublikum sah ihnen vor dem heimischen Fernseher
live zu: staunend und irritiert, erregt und ungläubig, abgestoßen und fasziniert. Zwei ehemalige Sonderschüler mutierten zu Feldherren im Bilderkrieg, Reporter wurden zu Handlangern. Auch ich saß gebannt vor dem Fernseher, bis zum blutigen Showdown auf der Autobahn A 3.

Das Geiseldrama hatte innerhalb von 54 Stunden ein ganzes Land verändert, hatte die Fratze des Journalismus und der Medien ans Licht gezerrt, hatte auch meine Art zu sehen und zu fühlen erschüttert.
Journalisten machten sich mit Verbrechern auf irritierende Art und Weise gemein, holten ihnen Kaffee, Eis und Zigaretten. Die Polizei schaute tatenlos zu.

Ich wollte verstehen, was damals in Gladbeck und mit mir geschah. Aber erst 2009 konnte ich beginnen, im Internet zu recherchieren; auch trieb ich mich stundenlang in den Zeitungsarchiven des Hessischen Rundfunks und des WDR herum, kopierte Hunderte von Artikeln und lud immer neue Videos hoch. Einen Plan aber, wie ein Gladbeck-Roman aussehen könnte, hatte ich nicht. Bis ich im Netz auf das knapp fünf Minuten lange Video des Kölner Filmemachers Florian Jung stieß, in welchem ich den ehemaligen Dortmunder SEK-Beamten Rainer Kesting unter Tränen den Satz sagen hörte: „Ich bin schuld, dass Silke Bischoff tot ist!“

Ich blickte in das Gesicht eines Mannes, der nicht fertig wurde mit seiner Schuld. Er, der am 18. August, gegen Mittag, in der Kölner Breiten Straße am Geiselwagen zwischen den Journalisten, die den Gangstern ihre Mikrofone hinstreckten, gestanden und seinen Arm um Rösners Schulter gelegt hatte. „Ich hätte bloß nicken müssen“, erzählte Kesting mir später, „und der auf dem Kofferraum sitzende Kollege hätte Degowski auf mein Zeichen hin per Kopfschuss eliminiert. Gleichzeitig hätte ich Rösner ausschalten und durchs offene Fenster aus dem Wagen ziehen können. Doch die Einsatzleitung in Recklinghausen hat es mir unter Androhung eines Disziplinarverfahrens strikt verboten. Ich habe nie verstanden, weshalb.“

Gestorben ist die 18-jährige Bremer Anwaltsgehilfin Silke Bischoff auf der A 3 in Fahrtrichtung Frankfurt beim Zugriff des Sondereinsatzkommandos der Kölner Polizei, das auf Höhe der Raststätte Siegburg unkontrolliert das Feuer auf das Fluchtfahrzeug eröffnete und dabei mehr als 60 Schuss auf den von Hans-Jürgen Rösner gesteuerten BMW abfeuerte.

Ich nahm Kontakt auf mit dem aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen ehemaligen SEK-Beamten. Wir trafen uns mehrfach in Köln und Dortmund. Und als ich später eine Telefonnummer in Hamburg-Harburg wählte, um den Fotografen Peter Meyer um Mithilfe zu bitten, begann der geplante Roman Konturen anzunehmen. Doch Meyer, der im August 1988 für AP und den Stern fotografierte und in seiner Funktion als freiwilliger Mittler zwischen Rösner und der Polizei als Erster in den von den Gangstern gekaperten Linienbus stieg, um Bilder zu machen, lehnte meine Anfrage kategorisch ab.
 
Mit den Worten „Lassen Sie mich mit dem Scheiß in Ruhe!“ erteilte er meiner Bitte eine schroffe Absage. Meyer war die erste, wichtigste Verbindung zwischen den damals involvierten Journalisten und den Geiselnehmern. Er hatte eine wichtige Rolle gespielt. Trotzdem trieb ich mein Vorhaben voran.

Als ich mich Anfang 2013 wieder bei Meyer meldete und ihn bat, das bislang Geschriebene vorlesen zu dürfen, willigte er zu meiner großen Erleichterung ein. So erzählte ich ihm die Geschichte von Menschen, die direkt oder indirekt in die Ereignisse hineingezogen wurden – und deren Leben sich dadurch innerhalb von 54 Stunden für immer veränderten. Rainer Kesting, der im Buch Rolf Kirchner heißt, war einervon ihnen, Peter Meyer, dem ich den Namen Peter Ahrens gab, ein weiterer. Hinzu kamen eine Kölner Schriftstellerin und eine Bremer Taxifahrerin sowie der Busfahrer, der den gekaperten Linienbus von Bremen bis nach Enschede steuerte, wo es zum Schusswechsel mit der holländischen Polizei kam.
Die Ereignisse ließen sich anhand der Bild-, Ton- und Printdokumente, die während der 54 Stunden entstanden waren, nahezu lückenlos rekonstruieren. Doch als ich versuchte, über das Material hinaus Kontakt zu dem zu lebenslanger Haft plus anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilten, seit Jahren in der Justizvollzugsanstalt Bochum einsitzenden Hans-Jürgen Rösner aufzunehmen, begannen die Probleme, Ungereimtheiten und Widersprüche.

Mit der Formulierung „Ich kann es rein juristisch betrachtet nicht verhindern, dass Sie Rösner besuchen, doch ich werde alles tun, damites Ihnen nicht gelingt“, schmetterte der zuständige Gefängnispsychologe, der Rösner seit seinem 17. Lebensjahr kennt, mein Ansinnen ab, den inzwischen 56 Jahre alten Straftäter, der die interne Poststelle der Vollzugsanstalt leitet, zu besuchen. Auf die Frage, weshalb er den Zugang verweigere, erhielt ich zur Antwort: „Weil wir nicht wollen, dass der noch mehr überschnappt. Außerdem ist der Typ eiskalt. Um es Ihnen zu illustrieren: Für den ist ein Menschenleben genauso viel wert wie eine Schnake, die Sie in den Arm sticht. Da haut man drauf und schnippt sie weg.“

Auch mein Versuch, über Rösners Aachener Anwalt Rainer Dietz Kontakt zu seinem Mandanten zu bekommen, schlug fehl. Auf die Frage, welche Chance bestünde, zu Rösner vorzudringen, antwortete Dietz unmissverständlich: „Keine! Die halten ihn total unter Verschluss. Außerdem gab es für Rösner in 25 Jahren nicht die geringste Hafterleichterung, nichts! Die behandeln ihn, als sei er gestern eingefahren. Warum wohl?“

Ja, warum wohl? Weil er es mit seiner bornierten Unnachgiebigkeit vermochte, in nur 54 Stunden ganze Zünfte – nämlich die der Polizei und jene der Journalisten – in bis heute anhaltende Krisen zu stürzen? Weil er einen ganzen Polizeiapparat an seine Grenzen führte, indem er dessen Schwachstellen aufdeckte?

Tatsächlich erweist sich das damalige Vorgehen der Polizei bei genauerer Betrachtung als eine Serie vermeidbarer Fehler und Pannen, die unverändert Fragen aufwirft: Weshalb etwa gewährte die Polizei den Geiselnehmern in Gladbeck freien Abzug aus der Bank, wo doch ein ungeschriebenes Polizeigesetz lautet: Geiselgangster dürfen den Ort der Geiselnahme nicht verlassen!

Weshalb war kein Krankenwagen vor Ort, als der 15-jährige Emanuele de Giorgi auf der Autobahnraststätte Grundbergsee bei Bremen durch eine Kugel aus Dieter Degowskis Colt lebensgefährlich verletzt wurde? Wieso verweigerte die Polizei den Geiselnehmern ab Bremen jeglichen Kontakt? Weshalb griff sie nicht zu, als Dieter Degowski sich minutenlang von dem nur noch mit den beiden Geiseln besetzten Fluchtfahrzeug zum Wasserlassen entfernte, während Hans-Jürgen Rösner zeitgleich mit seiner Freundin Monika Löblich einen Einkaufsbummel durch die Stadt unternahm? Und warum stoppte das Mobile Einsatzkommando das Fluchtfahrzeug tags darauf bei Siegburg unter willentlicher Inkaufnahme der Tötung der beiden weiblichen Geiseln mit Dutzenden von scheinbar wahllos abgefeuerten Schüssen? Und zuletzt: Verschwand, wie Gerold Bischoff, der Onkel der getöteten Silke Bischoff später behauptete, das angebliche Projektil aus Rösners Waffe, mit dem sie getötet worden sein soll, tatsächlich im Zuge der Obduktion, ehe es Stunden später bis zur Unkenntlichkeit verformt wieder auftauchte?

Fragen an die Kölner Pressestelle dazu wurden abgeblockt, und die beim SEK Köln vorliegenden Akten, die Antworten auf einige der hier gestellten Fragen geben könnten, sind bis auf den heutigen Tag nicht zugänglich für Zivilpersonen. Die Verlagsleitung des Kölner Express, der seinerzeit das Kunststück fertigbrachte, in drei Tagen fast 40 Sonderseiten zum Thema zu produzieren, hat die entsprechenden Seiten hausintern gesperrt: Einsichtnahme nicht möglich! Warum? Allein aus Scham über die unrühmliche Rolle, die der damalige stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Udo Röbel, spielte, indem er in der Breiten Straße zu den Geiselgangstern ins Auto stieg und sie aus der Stadt auf die A 3 in Richtung Frankfurt lotste? Oder steckt mehr dahinter?

Das Verbrechen forderte damals in zuvor nicht gekannter Weise die Phantasie der Berichterstatter heraus. Und ob Fernsehen, Rundfunk oder Presse: Im aufgeregten Eifer der Journalisten geriet das Verbrechen zur Tragödie, zur makabren Inszenierung, zur gefälschten Wirklichkeit. Kleinkriminelle wurden zu Archetypen stilisiert, durch Schlagzeilen verzerrt, aufgebläht ins Monströse; Wesen, die dem Wunsch der Angepassten nach Chaos, Anarchie und Zerstörung scheinbar ein Gesicht geben, tatsächlich aber nichts anderes waren als abgestumpfte Menschen hinter viel zu großen Masken.

Inzwischen bin ich 54 und habe die Bilder nie vergessen. Doch meine schreckliche Faszination für sie ist verflogen.

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