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Gentrifizierung - Städter, stresst euch mal nicht so

Rote Flora, Esso-Häuser, steigende Mieten: Veränderung in der Stadt ist schnell, Großstadtmenschen macht sie krank und wütend. Aber auch auf dem Land lässt sie uns nicht kalt. Nur gibt es hier etwas, das uns beruhigt

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Sie leben in der Großstadt? Sie leben gefährlich. Das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, ist bei Ihnen doppelt so hoch wie bei uns Landmenschen. Die Aussicht auf Depressionen summiert sich auf das 1,4-fache. Woran das liegt? Städte engen räumlich ein, isolieren aber gleichzeitig. Sie verändern die „stressabhängige Emotionsverarbeitung“, so Mazda Aldi. Er leitet den Forschungsbereich für Affektive Störungen an der Berliner Charité und erforscht die psychische Gesundheit von Großstadtbewohnern. Was Menschen zwischen Häuserblöcken vor allem krank macht: Das Gefühl, seine Umgebung nicht kontrollieren zu können. Und Aldi ist nicht der einzige, der das herausgefunden hat. Auch das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim bescheinigt Stadtmenschen eine geringe Emotionskontrolle.

An diesem Samstag gingen einige Tausend Großstädter in Hamburg auf die Straße. Es vereinigten sich friedliche Fahnenschwenker, Dreadlockhippies und Steineschmeißer zum weihnachtlichen Gebet gegen Gentrifizierung und Ungerechtigkeit in der Sternschanze. Das Motto: Einforderung ihres Rechts „auf Stadt“. Der Anlass: Die Räumung der Roten Flora, Wahrzeichen der linken Szene und die Evakuierung der einsturzgefährdeten Esso-Häuser, die einen Rest von bezahlbarem Wohnraum auf der Reeperbahn symbolisieren. Hamburg soll den Hamburgern gehören. So demonstrierte man gegen den Kontrollverlust im Angesicht sich stetig vorangentrifizierender Wohngebiete. Da war Emotionskontrolle gefragt.

Die Wut wächst in Berlin, Frankfurt oder Hamburg, die Zahl bezahlbarer Wohnungen schrumpft. Neben dem Ärger über die soziale Ungerechtigkeit geht es auch um sich wandelnde Ästhetik. Wo zuvor im Berliner Prenzlauer Berg rustikal abgeblättertes Gemäuer stand, blitzt nach der Sanierung kokettes Toskana-Orange durch die Häuserfluchten.

Und ich sag Ihnen jetzt mal was: Bei uns auf dem Land läuft das alles irgendwie ähnlich ab. Nicht nur die Struktur in den Stadtvierteln wandelt sich, auch jene in den ländlichen Gegenden. Hier wird zwar nicht demonstriert, sondern man schimpft hinter geklöppelten Spitzengardinen. Zum Beispiel über den neuen Nachbarn, der sein Haus aus Stahl und Beton genau vor das Naturschutzgebiet gebaut hat. Wir haben Glück, unser Bauernhof liegt am Moor, der Blick geht hinaus in den Wald oder über die Weiden – kein Bauland weit und breit. Aber fährt man die Straße weiter, sieht man sie: Bagger und Dixiklos. Sie nennen es „Ground Zero“. Die Büsche platt gemacht, der Wald gerodet. Autochthoner Feuersalamander gegen gepflegte Rasenfläche. Die Nachbarn sind aufgebracht. Selbst bei jenen, die sich mit den Zugezogenen vermeintlich gut gestellt haben, bricht sich nach dem letzten Bier auf dem Dorffest der Ärger in Form von wüsten Pöbeleien Bahn. Hier echauffiert man sich nicht darüber, dass der kleine Spätkauf einer Videothekskette weichen muss, bei uns geht es um altehrwürdige Bäume, die plötzlich der Kettensäge zum Opfer fallen und nun in ihren eigenen Spänen darniederliegen. Veränderung tut weh. Offensichtlich.

Aber Tatsache auf dem Dorf bleibt auch: Bäume, Flusslauf und Wiesengrund geben uns das Gefühl, dass etwas bleibt. Hier kann man beobachten, was passiert, wenn der Mensch ein einst bewirtschaftetes Gebiet aus der Hand gibt. Wie schnell sich das Moos den Holzpflock einverleibt. Wie der eben noch sauber gefegte Weg von Matsch und Blättern bedeckt wird und sich die einst so fein beschnittene Hecke in eine Dornröschenmauer verwandelt.

Wenn die Menschen – dieser Fliegenschiss auf der Historie der Erde – längst wieder verschwunden sind, wenn Gentrifizierung, Stadtplanung und Sozialbau nur noch unbedeutende Wörter auf der Müllhalde der Menschheit sind, dann lacht sich die dicke Eiche ins Fäustchen, atmet beruhigt aus und streckt wohlig ihre Wurzeln in die tiefe Muttererde. Davon hat man eine Ahnung, wenn man auf dem Land lebt. Und das beruhigt.

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