Bücher des Monats - Gefundener Ort, gemiedene Zeit

Wie Botho Strauß als Klausner in der Uckermark über die Natur­gegenwart, die Einsamkeit und das Älterwerden grübelt

Es gibt Schriftsteller, die wirken nicht nur über ihre Bücher, sondern gleichermaßen über ihre Existenz. Ihr Schreiben, obwohl bild- und figurenschaffend wie das anderer auch, ist vor allem Ausweis eines geistigen Weltverhältnisses. Autoren dieses Typs – wie Jünger, Cioran, Pascal oder Nietzsche, wie Gómez Dávila oder Simone Weil – folgen nicht der Form-Konvention literarischer Gattungen, sondern dem Stilgesetz ihres Lebens, eines gedankenbezogenen, klaus­nerischen Daseins, fern vom Getriebe der Welt: einer Art Leben im Verzicht, aber in einem Verzicht, der nicht nimmt, sondern gibt. Es ist diese rigorose Montaignade, dieses Allein-Stehen-Können, das ihrer Existenz das Kraftvolle verleiht. Botho Strauß gehört in diese Reihe. Als Prosa-Rhapsode in «Paare Passanten», als Moralist im «Anschwellenden Bocksgesang», als Wissens­archäologe in «Beginnlosigkeit». Und auch jetzt wieder als Adnotenschreiber im «Untenstehenden auf Zehenspitzen».

Strauß’ Autorschaft steht für die Suche nach geistigen Kontrapunkten in einer eben davon leergeräumten Welt, eine Suche, die auch Ächtungen nicht fürchtet. Seine Gegenmächte existieren nicht im politischen Raum, es geht um mentalen Widerstand. Strauß ist ein bekennender Unpolitischer, der geschichtlichen Heilsversprechen nie verfallen ist.

Wohin also den Blick richten? Wo den Fluchtpunkt finden in einer Fluchtpunkte nur widerwillig duldenden Welt? Auch im neuen Buch lautet die Antwort: außerhalb der Zumutungen der Gegenwart, jenseits des soziozentrischen Horizonts, in anderen Räumen: im Verlorenen, Vermiss­ten, im Verborgenen und Versäumten. Aber wie ihrer habhaft werden? In der Imagination, der Erinnerung, im Schweigen, im Dia­log mit den Dingen, den Tieren, den Göttern, den Toten – Gegenkommunikation. «Wie vielen Künstlern», schreibt Strauß, «gelang ihr Werk, indem sie auf radikale Weise zurücksahen! Es gibt eine Kraft der Abwehr von Gegenwart, die einer Zeitgenossenschaft überhaupt erst Gewicht verleiht. Und es gibt eine Zeitgenossenschaft, die an sich selbst so verfallen ist und so an sich selbst vergeht, daß Flucht daraus wahrhaftig alles andere als Bequemlichkeit ist, daß sie vielmehr einem Akt der Befreiung und der Auflehnung gleichkommt.»

Anfang der neunziger Jahre hat Botho Strauß ein Haus in der Uckermark, im Nordosten Brandenburgs, inmitten einer hügeligen Landschaft gebaut und damit demonstriert, dass Schreiben allein nicht genügt und ihm eine andere Art zu leben notwendig ist: «Seit zwanzig Jahren habe ich nach einem solchen Ort gesucht, wo niemand mir zu nahe wohnt, der Ausblick weit und wunderbar gestaffelt ist, Wiese, Senke, Brüche, Solitäre, Wald und Himmel. Nicht mal ein Dorf, nur ein Vorwerk ohne Kirche.» Schon 1987 in «Niemand anderes» war zu erfahren, er sei nicht für die Gemeinschaft geboren: «Die Rücksichten, mit denen andere gesellschaftsfähig werden, das heißt: die zahllosen Infamien, die ihren Zusammenhalt garantieren, sind mir daher, als dem Ungeselligen, aufs schärfste bemerkbar und unerträglich.» Ein Zug von Gesellschaftsekel, Menschenscheu und ästhetischer Misan­thropie scheint hier seinen Grund zu haben.


Einsam im «niederträchtigen Norden»

Die Abwendung von der Stadt hat Strauß bis an den Rand der Zivilisationsaskese geführt. Das war vielleicht nicht unbedingt das Ziel, doch es entsprach ganz seiner Intention: «Ja, die Stärkung des Einzelnen; des armen Kierkegaardschen Einzelnen. Vielleicht geht es mir überhaupt nur darum. Vielleicht bin ich nur zur Schrift gelangt, um der sozialen Aufgabe zu genügen, etwas zur Empirie und zur Zuversicht des Einzelnen beizutragen.»

Naturgegenwart, Einsamkeit und Älterwerden sind jetzt die Erfahrungen. Schon in den «Fehlern des Kopisten», einer Sammlung von Prosastücken, in denen der Autor das Konzept nicht auto­biogra­fischen Schreibens über Bord warf und Freiheit zur Selbstauskunft gewann, hat sich der Point of View des Neu-Eremiten eindrucksvoll niedergeschlagen. «Der Untenstehende auf Zehenspitzen» schließt formal und thematisch unmittelbar an diese Aufzeichnungen an.

Natürlich, der hohe Anfang und der Glanz der ersten Blicke, die Sonntage der Naturkommunion, sind vergangen. Der Alltag, des Menschen treuester Begleiter, zersetzt jedes hymnische Ja. Zweifel melden sich: «Grau und trüb, Frost und Milde wechseln nervös, Schnee stiebt unter das Dach des Kornspeichers. Ich hadere mit meinem Ort. Monatelang dieser unreife Winter, der nicht zum Austrag kommt, sich hinschleppt wie ein Krüppel, eine kranke Jahreszeit. Ich, der ich so viele Male beteuerte, der Ort sei bei jedem Wetter, zu jeder echten oder falschen Temperatur unvergleichlich und groß, verfluche ihn nun, fühle mich an einen dreckigen, niederträchtigen Norden gefesselt, dem jede Lebensart abgeht.»


Die bedrohte Wahrheit stützen

Wie so häufig besteht auch hier der Sinn des Zweifels darin, die bedrohte Wahrheit zu stüt­zen. Zu den schönsten Passagen gehört das Zwiegespräch mit der freien Natur. Jeder von uns hat es wohl schon erfahren: Je einsamer der Mensch, desto stärker die Anteilnahme der Landschaft. Das Bewusstsein reinigt sich wie bei Musik oder angesichts der findigen Tiere, die merken, dass wir nicht ganz verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt.

Hier schreibt Strauß Rilke fort, allerdings weder flehentlich noch elegisch, sondern nüchtern und mit einem Stoizismus, den man sich nicht einfach zulegen kann oder durch Älterwerden automatisch erwirbt. Zwar mag eine gewisse Affekt-Beruhigung zu den Vorzügen des In-die-Jahre-Kommens zählen. Aber gerade die hat es literarisch in sich, muss man doch die Welt ihrer Banalität entreißen und sie im selben Moment genau darin gelten lassen, zu nichts aufblasen und keinem Ansinnen unterwerfen. Man ignoriert nicht nur die Gesten der Widersacher, man unterlässt auch die eigenen erprobten Gesten. Cioran nennt das «eleatische Stimmung», eine Art produktiver Versteinerung, in der das Bewusstsein die Zeit auslöscht und sich in der Wahrnehmung des Raumes verausgabt.

In Bildern wie diesem zeigt es sich: «Auf dem weißen See sitzen die Angler vor ihren Eislöchern wie Gaukler, die ihre Kunst­stücke vergaßen. Es wird auf nichts hinauslaufen. Wie die starren Krusten und Skulpturen des Frostes. All diese Seiten, Einspreng­sel eines nie erzählten Romans, werden auf nichts hinauslaufen, wie das Leben selbst, Abschnitt und Stückwerk vom Endlosen.»

 

Sebastian Kleinschmidt lebt in Berlin und ist Chefredakteur der Zeitschrift «Sinn und Form».

 

Botho Strauss
Der Untenstehende auf Zehenspitzen
Hanser, München 2004. 160 S., 17,90 €

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