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(picture alliance) Vargas Krimi spielt im beschaulichen Orbec, wo Kühe reglos im Wind stehen und auf Regen warten

Kriminalroman „Die Nacht des Zorns“ - Das Böse nistet im Harmlosen

Es kann kein Ort so harmlos sein, dass nicht auch das Böse in ihm nistete. So hält in Fred Vargas neuem Roman „Die Nacht des Zorns“ das Mittelalter Einzug in der Gegenwart – Mord- und Totschlag inklusive

Ordebec in der Normandie gibt es nicht – außer im neuen Roman von Fred Vargas. Orbec aber, gelegen im Département Calvados, existiert, und es wäre sehr seltsam, wenn dieses 2400-Seelen-Städtchen nicht etliche der Eigenschaften aufwiese, die Ordebec in Vargas’ Krimi «Die Nacht des Zorns» zugeschrieben werden: gegründet im frühen Mittelalter, von politischer Wichtigkeit bis zur französischen Revolution – nun aber ein gemächliches Provinzstädtchen zwischen dem noch von einem veritablen Grafen bewohnten Schloss, einem düsteren Wald und ausgedehnten Weiden, auf denen die Kühe reglos im Wind stehen und auf den Regen warten.

Doch kann kein Ort so harmlos sein, dass nicht auch das Böse in ihm nistete. Auf jeden Fall in Orbec ist dies so. In regelmäßigen Zeitabständen wird es von einer Erscheinung heimgesucht, die eine mittelalterliche Legende «Das wütende Heer» nennt. Böse Gesellen sind das, von unerlösten, Jahrhunderte alten Übeltätern zu Pferde angeführt, die durch den Wald sprengen und in ihrem schaurigen Zug ein paar Lebende mitführen – diese werden demnächst ihr Leben lassen, zur Strafe für ungesühnte Taten. Wer das zweite Gesicht hat, kann die Mitgeschleiften erkennen, und er könnte ihnen die Chance zum Weiterleben eröffnen, würde er ihre Namen nennen. Dann nämlich könnten die Bösewichte in letzter Minute noch Buße tun. Doch wäre die Bekanntmachung auch nicht ungefährlich: In Orbec hat schon des Öfteren den Überbringer der schlechten Nachricht gerade die Strafe ereilt, die eigentlich der Missetäter verdient hätte. Was also tun, wenn eine Hellsichtige weiß, wer die nächsten auf der Todesliste des «Wütenden Heeres» sind? Könnte vielleicht die Polizei helfend eingreifen? Oder könnte sich andererseits womöglich ein Arglistiger des Mythos bedienen und den sagenhaften Gestalten Morde zuschreiben, die er selbst begangen hat?

Letzteres hält Kommissar Adamsberg in Paris für die wahrscheinlichste Lösung, nachdem eine schüchterne ältere Dame aus Orbec, für ihren ersten Besuch in der Hauptstadt festlich mit geblümter Bluse und frisch onduliertem Haar gerüstet, ihm von den Gesichten ihrer erwachsenen Tochter Lina berichtet und sogleich hinzugefügt hat, dass ein besonders brutaler Gewalttäter aus ihrer Umgebung seit Tagen verschwunden ist – eben ihn hat Lina, mitsamt drei anderen, im Zug des «Wütenden Heeres» erkannt. Adamsberg, der traumselige, nur seiner Intuition folgende und seine Brigade damit mitunter an den Rand des Wahnsinns treibende Chef der Pariser Mordkommission, stimmt der alten Dame zu: Der Killer Herbier dürfte nicht nur verschwunden sein, er ist wahrscheinlich längst tot – und der Täter eher unter den Lebenden als im Trupp der mythischen Rächer zu suchen. Folglich bricht Adamsberg nach Orbec auf, um sich die Sache von Nahem anzusehen – sehr zur Freude von Mme. Vendermot in ihrer geblümten Festtagsbluse (obzwar der dauerkonfuse Adamsberg ihren Namen nur mit Mühe korrekt zu Papier bringt, aus Ordebec «Ardebec» macht und aus dem «Wütenden» ein «Verwegenes Heer»), sehr zum Unwillen hingegen der Landpolizei – und natürlich des Mörders, der noch mehr vorhat.

Fred Vargas, Spezialistin für Mittelalterliches, das sie gern in der Gegenwart aufscheinen lässt, hat es in ihrem 14. Kriminalroman also wieder getan. Doch scheint nichts an dieser Grundfigur ihrer Bücher abgenutzt, im Gegenteil: Hier ist Vargas über weite Strecken weit lockerer im Erzählton, witziger auch als in früheren Büchern, und sie gesteht ihrem Kommissar sogar noch mehr Eskapaden zu als früher. So verhilft Adamsberg einem Verdächtigen im parallel bearbeiteten Fall eines mit seinem Mercedes abgefackelten Industrie-Magnaten zur Flucht (intuitiv weiß der Kommissar, dass der Migrantensohn unschuldig ist; aber erst seine grandiose, ebenfalls mit besonderen Talenten gesegnete Mitarbeiterin Retencourt wird es beweisen). Er holt einen begnadeten Osteopathen aus dem Knast, um einem Anschlags- Opfer ins Leben zurückzuhelfen; auch den Fall einer an den Füßen gefesselten Straßentaube bringt Adamsberg mit der ihm eigenen, leicht wirren Konsequenz zur Aufklärung.

So dass am Ende also zwar einige Leute eines gewaltsamen Todes gestorben sind, der Gerechtigkeit aber in allen Fällen Genüge geschieht – in der Hauptstadt nicht anders als auf dem flachen Land, wo eigentlich selbst die Kühe jede überflüssige Bewegung scheuen.

Fred Vargas: Die Nacht des Zorns
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze
Aufbau, Berlin 2012.
454 S., 22,99 €

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