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Philosoph Raphaël Enthoven - „Ich habe Mitleid mit euch Deutschen“

Der französische Intellektuelle Raphaël Enthoven findet es schockierend, dass Philosophie in Deutschland nicht überall verpflichtendes Schulfach ist. Im Cicero-Online-Interview spricht der Ex-Geliebte Carla Brunis über sein Verhältnis zur Politik, über den Tod Stéphane Hessels und über Philosophie im Internet

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Berlin-Mitte, die französische Botschaft. Philosoph Raphaël Enthoven lädt auf Initiative von arte zum Streitgespräch. Vorher dürfen aber noch die Journalisten.

Enthoven, Strubbelhaar und Lackschuhe, schwingt sich gut gelaunt in den Bistrostuhl, sieht die Interviewerin mit diesen tiefen, schwarzen Augen an, über die schon so viel geschrieben wurde. Er ist in Frankreich auch bekannt, weil er einst mit Sarkozys Gattin Carla Bruni zusammen war. Die Schöne hatte dem Philosophen das Lied „Raphaël“ gewidmet.

Kürzlich ist in Frankreich ein Film von Enthovens Ex-Frau  herausgekommen: „Mauvaise fille“, nach der Vorlage des preisgekrönten Buches von Justine Lévy, Tochter des berühmten Philosophen Bernard-Henri Lévy. Darin behauptet Lévy, dass der Philosoph seinem Vater Carla Bruni ausgespannt habe. Später verließ Bruni Enthoven für den selben Grund: seinen Vater Jean-Paul…

Ein Kollege rät vor dem Gespräch mit Enthoven, darauf zu achten, ob seine obersten drei Hemdknöpfe geöffnet seien – typisch für französische Intellektuelle. Der schmale Hals ist jedoch verhüllt: Der 37-Jährige trägt einen schwarzen Rolli und einen Schal.

Herr Enthoven, wenn wir uns die Reaktionen in Europa nach der Italien-Wahl ansehen: Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte, Italien drohe Europa gegen die Wand zu fahren, Steinbrück ätzte über die „zwei Clowns“ und die Wiener Presse über die „politische Infantilität“ eines ganzen Volkes. Was sagt das über Europas Eliten aus?
Danke für diese Frage, die ich nicht erwartet hatte. Der Populismus in diesem verrückten Land hat sicher noch schöne Stunden vor sich. Aber ich weiß gar nicht, was Sie mit den „Eliten“ meinen. Es ist schwierig, über eine Situation zu sprechen, wenn man sie nicht selbst erträgt, wenn man sich stattdessen satt essen kann, wenn man einen guten Beruf hat. Ich habe zu viel Komfort, um mich dazu glaubwürdig zu äußern.

In Ihrer letzten Sendung bei arte sprachen Sie über den Wandel – und analysierten das Bildnis des Dorian Gray oder François Hollandes Wahlwerbung „Le changement c’est maintenant“. Was ändert sich gerade in Europa?
Die Idee der Sendung war zu sagen: Nichts ändert sich weniger als der Ruf nach Veränderung. Seit 1962 hat jeder zweite französische Staatspräsident im Wahlkampf mit dem Wandel geworben. Wenn der Wandel das einzige ist, was sich nicht wandelt, hat man eine Permanenz, einen fast altbekannten politischen Ritus. In Europa ist der einzige wahrnehmbare Wandel die Verschärfung der europäischen Frage, der Solidarität. Es gibt eine Zeitschrift „Junges Afrika“, die in ganz Afrika verbreitet wird. Es gibt aber kein Journal „Junges Europa“. Europa hat weniger Geschichte als Zukunft. Jetzt gilt es, diese Zukunft zu gestalten.

Fehlt uns ein europäischer Geist?
Nein, es fehlen Staatsmänner und -frauen, die Überzeugungen vor die Verantwortung setzen. Es fehlen unverantwortliche...

Wie bitte? Unverantwortliche?
Der Soziologe Max Weber hat zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterschieden. Um in der Politik Karriere zu machen, muss man der Verantwortungstyp sein. Man verkauft Gesinnungen und fährt die Dividende ein; man ist sozusagen ein Stratege seiner eigenen Überzeugungen. Aber ein Staatsmann, das ist jemand, der in einem historischen Moment in der Lage ist, die Gesinnung vor die Verantwortung zu stellen.
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: General Charles de Gaulle war verantwortungslos, als er 1940 in London erklärte, dass Frankreich nicht erobert sei. Hätte er das nicht getan, wäre er nicht der größte Franzose aller Zeiten geworden. Helmut Kohl war verantwortungslos, als er die Westmark einführte. Große Politiker interessieren sich für mehr als für ihre kleine Karriere. Vielleicht ist es das, was in Europa fehlt. Jemand, der die Sorge um den Kontinent an allererste Stelle setzt. Vor sein eigenes Land.

Ich stelle diese politischen Fragen, weil es zwischen Deutschland und Frankreich durchaus Unterschiede gibt, was die Rolle der Philosophie in der Politik betrifft. Ihr Kollege Bernard-Henri Lévy empfahl Präsident Sarkozy, in Libyen einzumarschieren. Auch das Engagement in Mali ist auf ihn zurückzuführen.
Aber die Rolle hat er doch nicht als Philosoph gespielt. Er hat den Präsidenten der Republik davon überzeugt, dass es schlimme Folgen haben könnte, wenn wir nicht in Libyen intervenieren.

Er hat also als Politiker gehandelt?
Ja. Philosophie berät nicht die Politik. Sarkozy fand lediglich Lévys Rede klug, hat gehandelt – und das war das Ende Gaddafis. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Seite 2: Warum der Philosoph Militärinterventionen unter bestimmten Bedingungen unterstützt

Deutschland hat sich ja im Fall Libyen enthalten. Hielten Sie es für richtig, in Libyen einzumarschieren?
Ja, und für unverantwortlich, dort nicht hinzugehen. Das gilt übrigens auch für Syrien und Mali. Es gibt Bedingungen, die einen Einmarsch sinnvoll machen. Ein Diktator massakriert das eigene Volk – fast die halbe Bevölkerung im Bürgerkrieg. Ich hätte daher gerne auch gewollt, dass China und Russland sich beteiligen.

Ist es also für einen Philosophen doch wichtig, sich in der Politik einzumischen?
Nein. Ich habe mich nie eingemischt und wollte das auch nie. Bis auf eine Initiative: Ich habe versucht, den Präsidenten und den Bildungsminister davon zu überzeugen, dass es im Gymnasium drei statt zwei Jahre Philosophie braucht. Das war das einzige Mal, wo ich Politik gemacht habe.
Politik und Philosophie machen auch nicht dasselbe Geschäft. Ein Politiker vertritt Ideen – und muss sie verkaufen. Er hat nicht die Möglichkeit, seinem Gegenüber zu sagen: „Ja, hier haben Sie Recht.“ Das Glück des Philosophen aber ist die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern. Das Ziel der Debatte ist also die Debatte selbst.

In Frankreich genießt die Philosophie in den Medien und der Öffentlichkeit eine viel größere Aufmerksamkeit. In Deutschland ist Richard David Precht zum Beispiel ab und zu im Fernsehen zu sehen – und das war’s.
Das ist verrückt.

Wir waren einst das Land der „Dichter und Denker“.
Ja, und die Philosophie ist deutsch. Völlig absurd…

Sie sprachen gerade auch vom Unterrichtsfach Philosophie. Bei uns ist das in einigen Bundesländern nur ein Wahlfach. Es könnte also theoretisch Gymnasiasten geben, die nach Ende der Schulzeit nicht einen philosophischen Text gelesen haben.
Ich… bin erschüttert. Philosophie ist ein fundamentales Menschenrecht. Ich verstehe nicht, warum das nicht in der Schule gewährt wird. Ich habe Mitleid mit euch!

Wäre das also eine Sache, für die Sie Politik machen würden?
Ah. Wenn Politik machen hieße, Philosophie verpflichtend zu machen, glaube ich, wäre ich dabei. Definitiv.

Wie beurteilen Sie den zeitgenössischen philosophischen Diskurs in Deutschland?
Ehrlich gesagt, kenne ich da gar nichts. Die deutschen Philosophen, die mir bekannt sind, sind längst verstorben. Tot in einem, lebendig in einem anderen Sinne. Die deutsche Philosophie hat zwei große Strömungen: die der großen Systeme, Kant, Hegel. Sie erfassen die ganze Realität. Diesen stehen die antisystemischen Denker wie Nietzsche gegenüber. Deswegen ist die deutsche Philosophie so groß: wegen ihrer inneren Widersprüche. Ich bin davon begeistert. In Frankreich gruppieren sich selbst die Gegner Descartes wiederum um Descartes. In Deutschland aber hat Nietzsche eine radikale unerhörte Philosophie geschaffen. Ihr habt ein Descartes des 19. Jahrhundert – wir nicht.

Fehlt da nicht jemand, der diese Tradition heute fortsetzt?
Nein, wir brauchen heute keine neuen Philosophen. Ein Leben, eine Unendlichkeit reicht nicht aus, sie alle zu lesen. Alles ist gesagt, alles geschrieben, arbeitet einfach an diesen Texten! Die Philosophie ist da wie die Kunst: Es gibt keinen Fortschritt seit der Venus von Milo. In der Philosophie gibt es keinen Fortschritt seit Platon.

Welche Rolle hat für Sie die Philosophie: Sollte sie der Demokratie eher dienen oder sie kritisieren?
Das ist doch ein und dasselbe. Das beste, was man für die  Demokratie tun kann, ist, sich nicht mit ihr zufrieden zu geben. Demokratie ist wie ein Fahrrad: Wenn Sie aufhören zu treten, fallen Sie um. Platon war der beste Demokrat, als er die Demokratie als infames Regime bezeichnete. Alexis de Tocqueville attackierte und schätzte sie. Echte Demokraten kritisieren.

Seite 3: Warum Enthoven Stéphane Hessel kritisiert

Aber diese Philosophen haben die echte Demokratie doch nur erdacht und sie nie selbst erlebt. Sie wollen ernsthaft sagen, jetzt, wo wir die Demokratie haben, brauchen wir keine neue Idee?
Wenn Sie heute vor gesellschaftlichen Problemen warnen, greifen Sie auf Marx‘ Systemkritik zurück oder auf Nietzsches Nihilismus. Sie nutzen also das, was bereits ein früherer Philosoph kritisiert und thematisiert hat. Philosophie ist eine Methode, die Welt so zu betrachten, als sähe man sie zum ersten Mal. Da braucht es nichts Neues.

Jürgen Habermas sinnierte ausführlich über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ in der Moderne, aber ins Netz traute er sich nicht. Noch vor zehn Jahren warnte ein Rostocker Philosoph vor den negativen Auswirkungen des Netzes auf die Kultur. Stehen Philosophen mit dem Internet auf Kriegsfuß?
Nein. Aber nehmen Sie Facebook: der Traum der Stasi. Man muss nicht mal in den Sachen der Leute schnüffeln, um zu wissen, wer sie sind. Das ist genial. Als Facebook aufkam, warnten Philosophen bereits, Achtung, das Zeug ist gefährlich. Und siehe da: Leute, die sich wegen Facebook umbringen. Leute, die ihren Job wegen Facebook verlieren. Man wollte es nicht glauben.

Aber Internet ist mehr als Facebook.
Es gibt mehr Mitglieder bei Facebook als Chinesen auf der Welt.

Das Wort „Philosophie“ bedeutet: Liebe zur Weisheit. Sollten Philosophen daher nicht die Idee der Vernetzung lieben, der universellen Verfügbarkeit und Zirkulation von Wissen?
Der Philosoph liebt, was er möchte. Ich weiß aber wirklich nicht, ob Vernetzung ein Ausdruck von Weisheit ist. Gottfried Wilhelm Leibniz hat das Internet bereits im 17. Jahrhundert mit seiner Monaden-Theorie beschrieben. In 90 Paragrafen skizziert er ein Universum, in dem jedes Individuum eine Monade ist, eine Identität, die in sich selbst verschlossen ist. Sie hat zu anderen keinen Zutritt außer unter der Bedingung, dass sie niemals sich selbst verlässt. Was wir heute genau so sehen: Anstatt sich selbst – sein Haus – zu verlassen, schließt der Mensch sich in seinem Zimmer ein und verbindet sich mit dem Internet.
Spinoza beschreibt eine Welt, in der jedes Ding miteinander verbunden ist. Der geneigte Leser kann darin eine frühe Vision der Globalisierung entdecken. Es geht nicht darum anzunehmen oder zu bekämpfen. Es geht darum zu verstehen. Alle Ideen sind schon da.

Welche Lektion haben Sie Aurélien als wichtigste Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben?
Mein Sohn? Ich weiß nicht. Das geht nur ihn und mich etwas an.
Nun, es sind nicht er und ich, es sind Zarathustra und sein Schüler. Er sagt: Sei stets dir selbst treu. Dann beruhigst du mich. Ich mag die Idee eines Lehrers, der seine Schüler auf den rechten Weg bringt. Das ist für mich die Aufgabe der Bildung.

Wie werden Sie Stéphane Hessel in Erinnerung behalten?
Es tut mir leid, aber ich gehöre zu jenen, die Stéphane Hessel sehr kritisiert haben, als er sein Buch „Empört euch!“ herausgebracht hat. Ich fand seinen Text schlecht und den Begriff der Empörung weich genug, um konsensfähig zu sein. Weder revolutionär noch innovativ. Aber das ist nicht das Thema. Ich glaube, Hessel war ein großer Widerständler, ein mutiger Mann. Ein Mann, der am Ende des Lebens zu Recht unerreichten Ruhm erlangt hatte.

Hessel hatte vor zwei Jahren viel Unterstützung erfahren, nachdem eine Israel-Debatte mit ihm kurzfristig abgesagt wurde. Die Hochschule und der Zentralrat der Juden hatten die Veranstaltung verhindert. Das wurde als „Zensur “ bezeichnet. Sie schrieben damals in einem Zeitungsbeitrag: „Wenn es sich um Juden handelt, glaubt man nicht mehr an irgendwelche Umstände. Zufälle werden so immer zu geheimen Absprachen.“ Ist das als Warnung vor dem Antisemitismus zu verstehen?
Was da passierte, ist wirklich schrecklich. Einige Studenten der École Normale Supérieure wollen eine Debatte mit Stéphane Hessel organisieren. Die Direktion stimmt zu und gibt ihnen den größten verfügbaren Raum. Dann aber bemerkt die Direktion, dass es sich nicht um ein Treffen zwischen Hessel und einigen Studenten, sondern von fünf Pro-Palästinensern handelt, darunter Leila Schahid – die rechte Hand von Arafat. Aus Sicherheitsgründen hat die Direktion das Treffen an einen anderen Ort verschieben wollen. Die Frage war nur, wo. Schließlich schrieb der Zentralrat der Juden an die Direktion und sagte, das Treffen sei eine Schande. Also hat man es abgesagt.
Die Leute sind wahnsinnig geworden: Sie sagten, man hindere Stéphane Hessel daran zu reden. Sie schrien Zensur! Sie sind auf die Straße gegangen. Und merkten nicht, dass sie auf ihre Art dabei waren, den Antisemitismus zu reaktivieren. Es hat mich genervt, dass man jemanden zum Opfer macht, obwohl es um Sicherheit ging und obwohl die fünf Podiumsteilnehmer die exakt gleiche Meinung hatten. Wären die Menschen auch für die Meinungsfreiheit auf die Straße gegangen, wenn die ENA aus den gleichen Gründen in seinen Mauern ein pro-israelisches Treffen verhindert hätte? Hätte man auch dann nach Freiheit geschrien?

Seite 4: Enthoven überlegt, ob es in der Politik mehr Philosophie braucht

Und Stéphane Hessel? Hat er die Sache richtiggestellt?
Nein. Er hat ernsthaft geglaubt, dass man ihn am Reden gehindert habe. In diesem Fall war die Wahrheit nicht auf seiner Seite. Und er hat sich empört. Aber Hessel wurde in dieser Geschichte instrumentalisiert, sein Mut, seine Moral – wie eine Trophäe missbraucht.

Glauben Sie, dass das jetzt nach seinem Tod weitergeht?
Wissen Sie, in Frankreich gibt es ein Sprichwort: „On entre dans un mort comme dans un moulin.“ Man kann in einen Toten eindringen wie in eine Windmühle. Tote können sich nicht verteidigen. Auch Hessel kann sich jetzt nicht mehr verteidigen. Ich hoffe nicht, dass ihm das wieder passiert. Ich wünsche seinem Gedenken Frieden.

Ist Antisemitismus auch in Frankreich ein großes Problem?
Es gibt ein Amalgam zwischen legitimer Kritik an der Politik Israels – generelle Kritik, die ich als erste vertreten würde – und einem dumpfen Antizionismus, der sich den Anschein von Demokratie gibt. Dieser Antisemitismus, der da immer mitschwingt, besorgt mich. Das ist dasselbe wie die bereits erwähnte Kritik an der Demokratie: Sie zu kritisieren, heißt Demokrat zu sein. Die Demokratie zu hassen, ist etwas ganz anderes.
Ich unterscheide Antisemitismus und Rassismus immer so: Rassismus ist der Hass gegen das Andere, während Antisemitismus der Hass gegen sich selbst ist.

Wie das?
Wenn Sie Schwarze hassen, dann ist das leicht: Man erkennt sie – sie sind schwarz. Bei Juden ist das schwieriger: Er kann eine Hakennase haben – oder auch nicht. Wie der Homosexuelle. Er sieht wie alle aus. Deshalb muss man, um den Juden zu hassen, erst ein Bild von ihm erschaffen. Die Nazis haben das in etlichen Rassekursen versucht. Man musste eine jüdische Andersartigkeit erfinden.

Kann Deutschland von Frankreich heutzutage lernen, welchen Stellenwert es der Philosophie einräumen sollte?
Nein, ich glaube nicht, dass Deutschland von Frankreich irgendetwas lernen muss…

Sicher?
Sicher. Ich habe ein Problem damit, von Völkern als kollektive Identität zu sprechen. Wenn man sagt, die Deutschen sind strenger, die Franzosen einfallsreicher… Im Gegenteil. Ich glaube eher, dass Merkel Sarkozy sehr vermisst.

Vermissen Sie ihn?
Nein. Mich interessiert weniger, ob Hollande oder Sarkozy das Land regiert, als die Frage, wie sich die Institutionen ändern oder verstetigen. Das ist doch, was zählt. Zum Beispiel: Es gibt einen Punkt, da werden die persönlichen Beziehungen von Politikern wichtig. Nehmen Sie Helmut Kohl und François Mitterand: Sie hatten vielleicht nicht immer die gleichen politischen Überzeugungen, aber sie waren unbestreitbar Freunde. Und diese Freundschaft war größer als sie selbst. Sie war Tugend. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Deutschland und Frankreich Freunde sind.

Wie kann die Philosophie dabei helfen, diese Freundschaft, diese Idee, zu geben?
Ich glaube nicht, dass das die Aufgabe der Philosophie ist.

Aber als geistige Grundlage?
Vielleicht sollte sich die Politik an der philosophischen Diskursethik orientieren: sich daran zu gewöhnen, die Meinung zu ändern, statt immer Recht zu haben. Wenn Hollande zu Merkel sagen könnte: „Sie hatten Recht.“ Und Merkel würde sagen: „Nein, Sie hatten Recht.“ Das gäbe den diplomatischen Beziehungen neuen Schwung. Aber dann müsste die Politik von Philosophen regiert werden. Ich weiß aber nicht, ob das wünschenswert wäre.

Wo wir dann tatsächlich wieder beim Urvater der Staatsphilosophie wären: Platon. Er wünschte sich solche Philosophenkönige. Brauchen wir die auch heute?
Im Gorgias-Dialog, in dem er Sokrates beschreibt, sagt Platon: „Ich bin jemand, der die Meinung gerne ändert, wenn er staunt.“ Der Sieg über sich selbst, wenn er seine Meinung ändert, ist stärker als der Sieg, den er über den Anderen wegen dessen Schwäche davonträgt. Anders gesagt: Er bevorzugt, von anderen überzeugt zu werden, als über den anderen zu triumphieren.

Herr Enthoven, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Petra Sorge

Von Raphaël Enthoven ist vor einem Monat das Buch „Matière première“ auf Französisch erschienen. Editions Gallimard, 160 Seiten, 14,90 Euro oder 12,99 als E-Book.

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Silvana Zehnpfennig | Mo., 24. Juli 2017 - 11:49

Platons Verwunderung ist ein Ausdruck seiner Position: Er empfindet sich in seiner Meinung zu den äußeren Verhältnissen ungebunden. Heute ist die Realität, dass die äußeren Verhältnisse in Erwartung zum Einzelnen stehen: Es gilt sich zu positionieren, weil die Positionen festgelegt sind. Eine Meinung zu etwas zu haben bedeutet immer gleichzeitig, andere nicht darin zu vertreten. Dies beschreibt ein Abhängigkeitsverhältnis bei gleichzeitiger Anforderung der Individualität. Es wird maximale Aufmerksamkeit erfordert bei maximaler Präsens. Und das ist nicht möglich. Möglich aber ist, die Philosophie als Chance zu betrachten in andere Richtungen zu denken. Darum muss sie auch ausgenommen sein von der Politik, auch wenn sie sich mit ihren Feldern beschäftigt. Denn ihre Betrachtung der äußeren Dinge ist eine Möglichkeit neue Verhältnisse zu schaffen. Und in der Politik ist dies beschreibend, denn Beziehungen leben vom Austausch. Und letztlich dient sie zur Kommunikation.