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(picture alliance) Ihre erfundene Kindheit verlegt Hoppe nach Kanada

Literatur - Felicitas Hoppe erfindet sich ein neues Leben

Für ihre „sensible und melancholische Erzählkunst" hat die Schriftstellerin Felicitas Hoppe von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung den Georg-Büchner-Preis erhalten. Weil sie genug von fremden Geschichten hatte, widmete sie sich in ihrem aktuellen Werk ihrer eigenen. Statt aber einfach eine schlichte Autobiografie zu veröffentlichen, erfindet sie ihre Lebensgeschichte lieber neu

Felicitas Hoppe wurde 1960 in Hameln geboren und lebt seit 1996 als freie Autorin in Berlin. Dies jedenfalls besagt ihre Biografie auf Wikipedia. Im Roman „Hoppe“ sieht es ein bisschen anders aus. Hiernach verbrachte sie einige Kinderjahre in Kanada und verliebte sich als Sechsjährige in den Nachbarssohn, den nachmalig besten Eishockey-Spieler aller Zeiten, Wayne Gretzky.

Weltweit, egal welcher Zeitung, hat Hoppe immer dieselbe Geschichte erzählt: wie sie als Ratte mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus aller Welt ein Taschengeld zu verdienen. Wie sie das eben Verdiente sofort auf den Kopf haut, Blumen für ihre Mutter („die Gastgeberkönigin“) und ein Päckchen Zigaretten für ihren Vater („den Erbauer des ersten Kaspertheaters“) kauft, um danach mit dem verbliebenen Rest ihre vier Geschwister zu einem Ausflug ins Miramare zu überreden, eine Hamelner Eisdiele, „die sommers floriert und sich winters‚ wenn sich die Italiener saisonbedingt nach Süden verziehen, in einen Ausstellungsraum für Pelze verwandelt“. Bis Hoppe sich dreißig Jahre später „endlich erhebt“, um ein Schiff von Hamburg nach Hamburg zu besteigen und die Welt mit eigenen Augen zu sehen: „Ein Ausflug, nichts weiter, in ein paar Tagen bin ich zurück, sitze wieder am Tisch, der zweite Esser von rechts.“ (Pigafetta,1999)

So wenig beglaubigt ist, dass Hoppe jene viel zitierte Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff tatsächlich persönlich unternahm, ist bekannt, dass sie bereits als Kind mehrfach die Weltmeere befuhr. Allerdings nicht als zweiter Esser von rechts, sondern als einzige Tochter eines Patentagenten, der das deutsche Kaspertheater vermutlich niemals von innen sah. Die Hamelner Kindheit ist reine Erfindung. Das Tagebuch des einzigen Vaters seines einzigen Kindes, akribische Auflistung äußerer Ereignisse unter entschiedener Weglassung der inneren, gibt Aufschluss über Arbeitsaufenthalte auf höchst unterschiedlichen Kontinenten. Dass die Tochter (Felicitas) dabei fast zwanzig Jahre lang mit von der Partie war, findet in seinen Aufzeichnungen vor allem dann Erwähnung, wenn es um Ausgaben geht, angefangen bei unnötigen Extras im Reiseproviant („Nüsse und Schokolade“), über kindgerechte Reiselektüre („Schiffsbibliotheken sind ein Desaster!“) und um die Erfüllung „vollkommen überflüssiger Wünsche“ während zu kurzer Landgänge („Wozu plötzlich ein Fernrohr?“), bis hin zu der Last, nach der Ankunft in wechselnden Wohnungen und Häusern ein Kinderzimmer einzurichten. („Hausaufgaben kann sie auch am Küchentisch erledigen.“) „Man will hier eine Art Schulgeld“, notiert missmutig der Agent in Übersee, oder: „Felicitas braucht einen Ranzen. Optische Täuschung. Schließlich hat sie einen Rucksack, in den praktisch alles hineinpasst.“ Und er fährt fort: „Heute Abend wieder ein weinendes Kind. Lästig. Felicitas verweigert den Schulbesuch, man verspottet sie, sagt sie, wegen des Rucksacks. Kinderklage. Ein Lederranzen kommt gar nicht in Frage.“ Es folgen Auflistungen alltäglicher Ausgaben für Kleidungsstücke: „Gott sei Dank wächst sie langsam, der Mantel, an den Ärmeln ausgelassen, hält durchaus noch einen zweiten Winter.“

Es ist weder der fehlende Schreibtisch, noch die Schokolade, auch nicht das Fernrohr, sondern der Rucksack, der zu Hoppes Erkennungsmerkmal werden wird, zu ihrer höchst persönlichen Rüstung. Bis zum Schluss ihrer Laufbahn (in rund vierzig Jahren weit über fünftausend Auftritte in über zweihundert Ländern in unterschiedlichen Kostümen und Rollen), ist kein einziger Auftritt ohne Rucksack vermerkt. Bis heute unvergessen ein frühes Eishockeyturnier in Edmonton, von dessen Teilnahme die damals zwölfjährige und überaus hoffnungsvolle Hoppe („Superpuck“) ausgeschlossen wird, als sie sich beim entscheidenden Endspiel so unvermutet wie beharrlich weigert, auf dem Eis ihren Rucksack abzulegen. Sieben Jahre später die Verweigerung der Aufnahme in die Dirigentenklasse eines Konservatoriums in Adelaide: „Man dirigiert bei uns immer noch mit den Armen, nicht mit dem Rücken“, so die Begründung des Vorsitzenden der Auswahlkommission Melville Drugs, dem gegenüber Hoppe behauptet haben soll, sie brauche den Rucksack als Gegengewicht, da sie sonst von der Musik „weggetragen“ werde. Und, last but not least, zwei Jahrzehnte später, Hoppes legendärer Auftritt auf einem Podium in Tokio, als sie aus dem Stegreif einen knapp zweistündigen Vortrag zum Thema Rucksack, Buckel, Fetisch hält. Die Presse spekuliert über den Inhalt des mittlerweile angewachsenen Gepäckstücks: „Reine Leere. Verbergungsstrategien. Warum macht sie nicht einfach den Reißverschluss auf und lässt uns einen Blick ins Innere werfen?“

Hoppe selbst, eine ausgewiesene Meisterin praktischen Packens, wusste genau, was sich in ihrem Buckel befand und machte auch nie ein Geheimnis daraus: „Taktstock, Schläger, Lippenstift.“ Und, so ist man versucht zu ergänzen, vier deutsche Geschwister, die das Einzelkind auf seinen Schiffsreisen erfand und denen sie mit einer bis heute unveröffentlichten Erzählung (Fünf zur See) ein eigensinniges Denkmal gesetzt hat: „Wir liebten uns, weil wir uns nicht ausweichen konnten, weil wir darauf angewiesen waren, einander ständig zu unterhalten. Das Wetter war schlecht, die Mannschaften rau, das Essen miserabel, die Kapitäne Analphabeten. Abends saßen wir in unserer Kabine, ich seekrank, sie aufrecht und unanfechtbar. Gegen das Wetter hielten wir uns an Erinnerungen fest, wobei sie mehr Halt bewiesen als ich. Im Gegensatz zu mir waren sie seetauglich und unanfechtbar.“

Während der Vater Listen und Abrechnungen schreibt, widmet sich Felicitas ganz der Erfindung ihrer vier Geschwister, um sich die Zeit an Bord zu vertreiben und um ein für allemal in der Mitte zu sein, denn „die ersten werden die letzten sein und die letzten die ersten“. Warm ist es folglich nur in der Mitte, „erzogen, beschützt und verteidigt von oben, geliebt und verstanden von unten“. Es sind Fünf zur See, die das Werk des Einzelkindes von Anfang an unterirdisch bevölkern. Je länger Hoppe schreibt, umso mehr gewinnen die Geschwister Gestalt, gleich in welchem Kostüm Hoppe sie auftreten lässt. Der faktische Vater des faktischen Einzelkindes dagegen verliert sich im Vagen: „Er mietete Häuser an, die er niemals bewohnte. Ich saß mutterseelenallein auf hohen Veranden in Schaukelstühlen, verhandelte mit Putzfrauen, Gärtnern und vorübergehenden Hauslehrern. Meinen Erfindervater habe ich nie gesehen.“

Das dürfte, in Abgleichung mit dem Tagebuch ihres Vaters, kaum der Wahrheit entsprechen. Die Mittel des reisenden Patent-agenten waren begrenzt und ließen eine Haushaltsführung oben beschriebener Art nicht zu. Hoppes Unterschlagung überprüfbarer Fakten dient einzig der literarischen Ausformung ausufernder Phantasien, wie sie ihr gesamtes Werk prägen. Während der wirkliche Vater schrumpft, wächst der Erbauer des ersten Kaspertheaters und neben ihm die Gastgeberkönigin, die Sahne über Fruchtschalen und Quarkspeisen schlägt: „Was immer sie auftischte, alles machte sie schmackhaft.“

Über Hoppes leibliche Mutter wissen wir wenig, aber genug, um mit Sicherheit sagen zu können, dass sie, eine erzkatholische und hochtalentierte Klavierlehrerin aus Breslau, weder Sahne schlug, noch jemals auf Tournee durch Niedersachsen gegangen sein dürfte, sondern sich nach der Trennung von Hoppes Vater in umgekehrter Richtung auf den Weg durch die Welt machte und bald aufhörte, Briefe zu schreiben. Die niedersächsische Welt der Felicitas Hoppe, ihre Kindheit in der katholischen Diaspora als drittes von fünf Kindern kleinbürgerlicher, aus Schlesien vertriebener Eltern, die sie immer wieder beharrlich gegen jene andere, unberechenbare Welt ihrer wirklichen Kindheit aufruft, entpuppt sich als Kulisse unaufhörlich neu organisierter Fluchten nach innen: „Sobald es dunkel wurde, versammelten wir uns vor dem Vorhang des ersten und einzigen Kaspertheaters, in der Erwartung, dass er sich auftun würde, um uns endlich das Krokodil zu zeigen. Und um die warme Stimme unseres Vaters zu hören, die uns jeden Sonntag von vorne fragt, ob wir alle noch da sind, und die uns jeden Sonntag aufs Neue verrät, dass es das Krokodil gar nicht gibt.“

Hoppes kanadische Kinderjahre dagegen sind verbrieft, das Haus in Brantford (Ontario) „mein erster Iglu“, der Eispalast des einzigen Kindes eines „Erfindervaters“, der morgens gegen sieben das Haus verlässt und selten vor sieben zurückkommt, während Felicitas vormittags in die Schule und nachmittags, ohne Wissen des Vaters, aufs Eis geht: „Es war Wayne (gemeint ist vermutlich der kanadische Eishockeyspieler Wayne Gretzky/fh), der mich überredete mitzukommen. Er war klein, dünn wie Docht (nur eine von zahlreichen Anspielungen Hoppes auf ihr Lieblingsbuch, Carlo Collodis Pinocchio/fh), konnte ukrainische Lieder und war ein Genie, auf dem Eis auf Siege von hinten fixiert, hinter dem Tor unberechenbar.“

Vor allem hatte er echte Geschwister und eine Mutter, die kochen konnte. Hoppe ist knapp sechs und verliebt. Ihre Ausrüstung bettelt sie sich Stück für Stück zusammen, erst die Handschuhe (second hand), dann den Schläger (Leihgabe gegen Taschengeld), nach dem ersten Sturz (eine Narbe unter dem rechten Auge) bastelt ihr Vater, der bis dahin von ihren Umtrieben nichts gewusst haben will, „zähneknirschend das erste Gitter, damit sie nicht endet wie Sawchuk (gemeint ist vermutlich Terry Sawchuk/fh).“ Der Rest interessierte ihn wenig: „Während er Patente für Bell Telephone Canada prüfte, erfand ich den Leuchtpuck. Denn mein Vater bestand darauf, alles selbst zu erfinden: „Nimm nie in die Hand, was du nicht selbst erfunden hast.“

Ein Text mit dem Titel Meine Sonntagserfindungen legt ehrgeizig Zeugnis davon ab, dass Hoppe die Anweisungen ihres Vaters todernst nahm. Sie notiert in alphabetischer Reihenfolge alles, was ihr persönlich unentbehrlich scheint und führt damit gleichzeitig Buch über private Beschwerden und Sehnsüchte. Unter A (wie Asthma) ein Gerät für „notfallbedingte Frischluftzufuhr“, ohne das sie in späteren Jahren kein Flugzeug besteigt (die Angst vor dem Fliegen ist ein Erbe ihres Vaters, der, nach einem Flugzeugabsturz in den fünfziger Jahren, für den Rest seines Lebens ausschließlich per Schiff reiste), unter B (wie Bett) die „kanadische Wärmflasche“, unter C (wie Canada) eine „Landkarte für Erstbesucher“ mit dem Vermerk: „Für den Fall, dass sie doch noch kommen.“ Unter D einen Dirigentenstab, der bei Lichtausfall im Orchestergraben im Dunkeln leuchtet. Und unter H Hoppes legendäre Hockeyhandschuhe, die, verfeinert und weiterentwickelt, in späteren Jahren eine Schweizer Damenmannschaft zum Erfolg führen werden. Unerreichbar in der Reihe Hoppe’scher Sonntagserfindungen bleibt bis heute der legendäre Leuchtpuck, dessen offizielle Erfindung Eberhard von der Mark wegen Hoppes unterlassener Anmeldung des Patents fünfzehn Jahre später (1983) für sich in Anspruch nehmen darf. (Eine einfache Hartgummischeibe, die, mit Leuchtdioden versehen, beim Schlag mehrere Sekunden lang ein blinkendes rotes Lichtsignal abgibt und in Europa unter der Nummer 0273944 patentiert ist.)

Hoppe selbst hat sich, soweit bekannt, niemals öffentlich zu diesem Fall von Patentdiebstahl geäußert, was darauf schließen lässt, dass sie sich mit ihrem Vater über Angelegenheiten solcher Art nicht besprach. Einzig ein später Brief (abgelegt unter der Rubrik Briefe an vier deutsche Geschwister), beweist, dass ihr die Angelegenheit nachging: „Ich komme einfach nicht drüber weg, dass man mich, wenn nicht um eine Erfindung, so doch um eine Idee gebracht hat, was weit schlimmer ist. Es missfällt mir, den Leuchtpuck in Umlauf zu sehen, ohne dass jemand weiß, wer tatsächlich Licht in dieses unmögliche Spiel gebracht hat. Lange Nächte auf Eis, ein dunkles Hin und Her von Bewegungen und Finten. Zeit meines Lebens habe ich davon geträumt, Goaly zu werden, König im Tor: Abwehren, Halten, Gewinnen. Stattdessen bin ich ein mittelmäßiger Stürmer geblieben, liege nachts im Bett und träume vom Hamelner Marktplatz, auf dem wir noch eine Zukunft hatten. Oder immerhin eine Gegenwart. Vergangenheiten ertrage ich schlecht.“

So unklar bleibt, von welchen Vergangenheiten Hoppe hier spricht, so deutlich ihr Missmut über das, was sie in ihrem Werk immer wieder als „die lästige Verwaltung der Zeiten“ bezeichnet. Dass es hier um mehr als ein Lernproblem geht, beweist wiederum eine Stelle aus Fünf zur See: „Die Erde ist rund, die Zeit wird nicht lang. Also könnten wir endlos so weitermachen, weiterreisen, weiterleben und weiterschlafen. Trotzdem stehen wir auf, nicht weil die Sonne es will, sondern weil die Zeit es verlangt. Alle sprechen davon, dass die Zeit es verlangt, mein Vater, der Schulbusfahrer, der Lehrer. Du liebe Zeit. Allein die Tatsache, dass meine vier Geschwister noch schlafen, während ich sie erfinde, dass sie träumen, während ich ihnen Briefe schreibe, dass sie aufwachen, während ich mich ins Bett lege, dass ich im Bett liegen muss, wenn sie aufstehen, sagt mir, dass etwas nicht stimmt mit der lieben Zeit, dass es eine geographische Ordnung gibt, mit der ich mich niemals anfreunden werde. Ich bin und bleibe ein Gegner der Zeitverschiebung.“ Dazu in den Sonntagserfindungen unter U der Hinweis auf ein „Gerät zum Zweck zeitgleicher Verständigung: Uhr die auch bei Tageslicht leuchtet“, und unter Z wie Zeit der Entwurf eines „globalen Kalenders“, denn „wohin immer man die Inseln auf der Karte verschiebt, es gibt trotzdem nur ein Silvesterfest“.

Hoppes Kinderalltag bleibt von melancholischen Spekulationen solcher Art allerdings unberührt. Sie ist weit weniger unglücklich, als sie vorgibt zu sein. Der Ehrgeiz ihrer frühen Texte steht, das gilt auch für ihr späteres Werk, kaum im Verhältnis zu ihrem wirklichen Leben. Die frühen Jahre in Kanada sind faktisch beherrscht von ihrer Freundschaft zu Wayne, in dessen Familie sie, wie zahlreiche Fotos beweisen, ein- und ausging und ein so gern gesehener wie gut bewirteter Gast war. Ms Gretzky war großzügig in Sachen Sahne, und Hoppes Vater dürfte das Fehlen seiner Tochter am Mittags- oder Abendbrottisch kaum aufgefallen sein, waren sie doch seit ihrer Ankunft in Brantford schnell übereingekommen, einander weitgehend in Ruhe zu lassen, wie eine nachgelassene Sammlung von Zetteln beweist. Man verständigte sich über unaufwendige schriftliche Zeichen: „Komme um sieben.“, „Bleibe bis sechs.“, „Bin auf dem Eis.“, „Essen im Kühlschrank.“, „Nicht ins Labor gehen – Dämpfe!“. Oder: „Elternsprechtag fällt aus.“, „Umso besser.“. Und: „Mütze aufsetzen.“, „Briefkasten leeren!“, „Versuche nachher, ins Stadion zu kommen, weiß aber noch nicht, ob ich’s einrichten kann: Patentkonferenz.“

Selten genug, dass der Vater es einrichten kann, meistens bleibt er abends zu Hause, in seinem privaten Labor, und macht erst kurz nach Mitternacht „zwei bis drei Schritte, bleibt lauschend an meiner Zimmertür stehen und bildet sich ein, mich atmen zu hören. Ich halte die Luft an, krieche, die Uhr auf dem Herzen, unter die Decke, es tickt und klopft und leuchtet im Dunkeln. Im Licht der Uhr schreibe ich Briefe aus Übersee, in denen ich meine Geschwister frage, wie es ihnen und unseren Eltern geht, was die Sahne macht und das Miramare, und wann sie mich endlich besuchen kommen.“ Morgens auf dem Tisch die Notiz: „Brauche Briefmarken (die mit dem Schiffsmotiv!)“
Die Tage dagegen sind sportlich gefüllt. Wayne, ganz Praktiker, schreibt weder Briefe noch Zettel, springt stattdessen im Garten hinter dem Haus seiner Eltern, den sein Vater zu Trainingszwecken jeden Winter mithilfe des Rasensprengers gleichmäßig flutet und zum häuslichen Eisring einfrieren lässt („Warum im Park frieren, wenn es im eigenen Garten kalt genug ist!“), zusammen mit seinen Geschwistern („Die furchtlosen Vier“) über leere Waschmittelbehälter, Bierdosen und umgestürzte Picknicktische, um den Puck im Flug zu nehmen und dahin zu bringen, wohin er gehört: ins Tor.

Die kaum sechsjährige Hoppe, fasziniert vom kanadischen Zirkus eiskalter Ritterspiele, ist regelmäßig mit von der Partie, um immer wieder von vorn zu verlieren. Trotzdem gibt sie nicht auf. Noch Jahrzehnte später sind es nicht die Parolen ihres Erfindervaters, sondern die ihres „ersten Trainers“, Walter Gretzky, die sie auf ihre Fahnen schreibt und mit denen sie noch Jahre später in einer Kompositionsklasse in Adelaide Eindruck zu schinden versucht, als sie in einem Vortrag zum Thema Schuberts Wanderjahre ein musikalisches Verfahren mit einem sportlichen Leitmotiv Walters veranschaulicht: „Try to skate where the puck is going, not to where it is coming from!“ („Aufs Ende hin, nicht vom Anfang her spielen!“) Denn: „Die Steine, selbst so schwer sie sind, sie wandern mit dem Mond herein und wollen immer schneller sein.“ (Die schöne Müllerin/fh)

Musik ist in Gretzkys überflutetem Garten allerdings kein Thema, der Mond bestenfalls eine „Naturlampe“, die das Familienstadion winters spärlich ausleuchtet. In „Wally’s Coliseum“, so der Ring im Familienjargon, trainiert Walter nach Feierabend und an Wochenenden so unermüdlich wie gnadenlos nicht nur die eigenen, sondern sämtliche Kinder der Nachbarschaft, die „wenigstens einen Ansatz von Eignung und Leidenschaft“ zeigen. Mit Erfolg, zumindest was Wayne betrifft, „alles geht vor ihm ins Knie, sogar der Picknicktisch“, wie Felicitas feststellt, deren Bewunderung für „meinen Zwilling“ (Wayne ist, fast auf den Tag genau, einen Monat jünger als sie) keine Grenzen kennt.
Weniger Ehrgeiz als Eifersucht ist im Spiel, wenn sich die „Sonntagsverliererin“ nach Feierabend auf ein anderes Feld verlegt, von dem sie genau weiß, dass Wayne, „ein schweigsamer Esser“, hier nicht mithalten kann. Sie schneidet auf und erfindet nach dem Training an Gretzkys Familientisch phantastische Geschichten: von einer fernen Familie in der deutschen Provinz, von Geschwistern, die aus dem Stegreif vierstimmig singen, achthändig Klavier spielen, („schneller als Wayne übers Eis läuft“) und denen sie angeblich täglich Briefe schreibt. Von einer Mutter, die leichthändig Pucks (vermutlich Buletten) in Pfannen wirft, von einem Vater, der Kaspertheater baut und von einem zweiten („Entführervater“), der angeblich nicht der eigene ist, sondern sie vor Jahren «mit einem Schmetterlingsnetz vom Schulweg wegfing» und „auf ein Schiff nach Ontario verschleppte, um nicht länger einsam zu sein“.

Bereits hier wird Hoppes früher Hang zum Drama überdeutlich. Waynes Mutter Phyllis, mit Kindernöten und Ungereimtheiten von Grund auf vertraut, verzichtet auf faktische Korrekturen und pariert Felicitas’ Geschichten so instinktsicher wie tröstlich mit einer folgenreichen Neuschöpfung der Geschichte vom Rattenfänger: „Dann kommst du also aus Hameln und bist tatsächlich ein Glückskind“, sagte sie (und füllte die Teller), „aus der Stadt des berühmten Rattenfängers, der alle Ratten der Welt im Schlaf erlegt, jede ein Treffer, und den keiner für seine Patente bezahlt, weshalb er beschließt, die Stadt zu verlassen. Klar, dass er nur die Besten mitnimmt, und das sind, natürlich, die Kinder. Ein großer Tag, das könnt ihr mir glauben (an dieser Stelle hebt Phyllis enthusiastisch die Stimme), kein Kind steht beiseite, alles steht Schlange vor dem großen Berg, in dem sie wenig später für immer verschwinden. Aber (Phyllis füllt nach) sie sind natürlich gar nicht verschwunden, sondern unterirdisch weitergewandert, bis sie am anderen Ende des Berges ein großes und strahlendes Licht sehen. Und, Kinder!, was soll ich euch sagen: Da stehen sie plötzlich in Kanada, auf frisch poliertem Eis, lauter glänzende Gesichter, gleich um die Ecke hinter unserem Haus. Damit hatte natürlich keiner gerechnet. Wie groß die Freude war, könnt ihr euch denken. Und das alles haben sie dem Rattenfänger zu verdanken. Denn hätte der sie nicht mitgenommen, säßen sie bis heute in Hameln und wüssten nichts mit sich anzufangen.“

Es ist also Phyllis Gretzky gewesen, die den Rattenfänger von Hameln erfand und Hoppe, die die Geschichte nicht kannte, damit das passende Stichwort gab, um zum Vorbild für jene über alles geliebte Hamelner Gastgeberkönigin zu werden, von der Hoppe nur träumt, und die sie, im Gegensatz zu Walter, der unaufhörlich Sieg und Erfolge predigte, wohlwollend darauf aufmerksam machte, „dass das kanadische Eis dicker ist als das deutsche, auch für Anfänger leicht befahrbar“ und dass „Ausrutschen nicht gleich Einbrechen ist“, während Walters unbarmherzige Devise lautete: „Let them always feel the uncertain ground they are skating“ („Wir spielen alle auf dünnem Eis!“). Aber weil Phyllis mehr Mutter als Erzieherin war, „krönte sie selbst die schrecklichsten Niederlagen ausdrücklich mit Sahne, und dafür liebte ich sie“, schreibt Hoppe Jahrzehnte später in einem Entwurf zu einer ersten Autobiografie, den sie später entschieden und mit einem für sie typischen Kommentar verwirft: „Als Leben einfach zu kurz.“

Welche Karrieren, Länder und Kontinente die fiktive Felicitas Hoppe noch durchschreiten muss, bis sie endlich zur deutschen Schriftstellerin geworden ist und die bekannten Legenden über ihre Herkunft, Kindheit und Jugend verbreiten kann, ist vom 8. März 2012 an zu erfahren: Dann erscheint der „Hoppe“-Roman im S. Fischer Verlag
 

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