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Familienromane zum Fest - Die Bücher-Kolumne Von Robin Detje

Welche Bücher soll man zu Weihnachen verschenken? Cicero-Kolumnist Robin Detje hat sich der schwierigen Frage angenommen und stellt vier Bücher über Menschen vor, die sich niemand aussuchen kann.


Melinda Nadj Abonji: „Tauben fliegen auf“; Jung und Jung, Salzburg und Wien 2010; 314 Seiten, 22 Euro – Weihnachten ist angeblich das Fest der Liebe, bestimmt aber das Fest der Familie. Das Wort bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die man sich nicht aussuchen kann und mit denen man viel zu viel Zeit verbringt. Fluchtversuche werden sanktioniert. Das erzeugt Spannungen, mit denen man als Autorin auf viele verschiedene Arten umgehen kann. Melinda Nadj Abonji löst sie mit Schwung, Grazie und Gefühl. In ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ erklingt auf jeder Seite ein verklärendes „Hach!“ Wer dieses Buch wirklich genießen will, muss ganz fest an den „Kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry glauben: „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“ Für Spielverderber, die glauben, dass man mit dem Herzen genauso geschickt lügen kann wie mit dem Kopf, eignet sich dieses Buch viel weniger. Es erzählt von den Schwestern Ildiko und Nomi, Angehörige der ungarischen Minderheit in der nordserbischen Vojvodina, Kriegsflüchtlinge in der Schweiz. Ildiko ist die Ich-Erzählerin. Sie erlebt ihr Leben erst durch das, was sie empfindet, und dieser Engführung bleibt die Erzählung verhaftet, in langen schönen Sätzen. Das abendliche Monopoly-Spiel, die Not der Verwandten in der alten Heimat, das Glück des gemeinsamen Bierchens mit der Schwester im Zug – all das wird gleich tief empfunden und ist sich auf ganz kindliche Weise selbst genug. Jenseits des Erlebten gibt es einfach keine Welt. Weil Melinda Nadj Abonji für ihren hundertprozentig liebenswerten Roman den Deutschen Buchpreis bekommen hat, ist nun unweigerlich auch ihr „Hach!“ im großen Stil preisgekrönt worden. Selbst wenn sie uns nicht klüger macht: Die Emotionalisierungswelle rollt.

Steven Uhly: „Mein Leben in Aspik“; Secession, Zürich 2010; 264 Seiten, 22,95 Euro – Dem Familienroman „Mein Leben in Aspik“ von Steven Uhly fehlt ein wenig Gefühl, ein wenig Herz. Er sucht sein Heil in brutalstmöglicher Drastik. Er türmt Enthüllung auf Enthüllung: Hat Oma Opa umgebracht? Bestimmt hatte Oma was mit Papa. Papa gehört ein Bordell. Die ganze Familie hat Pornos produziert. Flotte Dreier zwischen Mama, Papa und Oma sind nicht auszuschließen. Das Schwesterchen ist auch ganz schön scharf. Dem Ich-Erzähler ist die Fähigkeit gegeben, solche Schocker ohne weitere Gefühlsregung wegzustecken – und weiter geht’s zum nächsten Schocker. Nach zehn Minuten ist das Buch auf Tempo 250 und nimmt den Fuß nicht mehr vom Gas. Möglicherweise soll hier in hypersexualisierter Form auch etwas über die wirtschaftliche Lage von Gastarbeitern in der Bundesrepublik nach dem Krieg erzählt werden. Aber in diesem Panoptikum aus geilen Stechern und willigen Miezen mag man solchen Spuren nur schwer nachgehen. Wo Melinda Nadj Abonjis „Tauben fliegen auf“ das klassische Frauenklischee von der Gefühligkeit bedient, trumpft Uhlys „Leben in Aspik“ mit klassischen Männerklischees auf. Das pausenlose Muskelspiel hat etwas Angeberisches, Sportliches, ja, Pornografisches: Schaut her, ruft uns da einer zu, ich kann immer! Ein Roman auf Koks.


Maile Meloy: „Tochter einer Familie“; aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner; Kein und Aber, Zürich 2010; 383 Seiten, 22,90 Euro – USA, Westküste: Die kleine Abby liegt krank bei der Großmutter. Abbys Lieblingsonkel Jamie wird einbestellt, um sie gesund zu pflegen. Und wie man so sagt: Das Schicksal nimmt seinen Lauf! Abby wird älter, und aus dem Lieblingsonkel wird ihr Liebhaber. Kleine, in familienüblicher Erschöpfung und Überreizung getroffene Entscheidungen zeitigen romanhafte Folgen. Das Buch der Autorin Maile Meloy aus Montana ist der zweite Teil einer Art Familiensaga – Stränge der Geschichte wurden in einem früheren Buch, das noch nicht auf Deutsch vorliegt, teils anders erzählt und finden sich hier gebrochen widergespiegelt. Aber nimmt man „Tochter einer Familie“ für sich, liegt der kleine formale Geniestreich des Romans in der Gleichmütigkeit, mit der Episode auf Episode folgt, ohne Bewertung, ohne Gewichtung. Stumpf und undramatisch vergeht die Zeit. Wir werden berührt, aber nie überwältigt. Es ist fast wie im wirklichen Leben: Unser Drama entfaltet sich in unseren Versuchen, diese Stumpfheit zu bewältigen. Und nie steht Meloys Familienmenschen mehr Macht zu, als auf die nächste Wendung der Geschichte wieder in bester Absicht mit erschöpften, überreizten Entscheidungen zu reagieren. Der Fluch dieses Buches liegt in seiner Artigkeit. Diese Autorin ist viel zu höflich, um wirkliche Abgründe aufzureißen. Ihre Figuren erbeben vor Verlangen und erröten, aber sie verzweifeln nie ganz. Sie beschließen diesen Roman fast zwangsläufig mit einem gemeinsamen Kirchgang.


Tanguy Viel: „Paris-Brest“; aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel; Wagenbach, Berlin 2010; 144 Seiten, 16,90 Euro – Scham und Schuld, daraus lässt sich am meisten machen. In unserer kleinen Galerie neuester Familienromane setzt Tanguy Viel dieses Wissen am schlauesten um. Sein Trick: Er arbeitet mit einem Erzähler, der sich zunächst ganz unschuldig gibt – ein von der Verlogenheit seiner Familie geplagter Junge, der ein Buch schreiben muss, um seine Traumata zu verarbeiten. Ist der Künstler nicht immer ein jesusgleiches Opfer? Erst nach einer Weile erfahren wir, dass sein eigenes schuldhaftes Tun dem seiner Eltern in nichts nachsteht und von der Mutter so geschickt zum Vorwand für weitere Übeltaten verwendet worden ist wie der 11. September von George W. Bush als Vorwand für den Einmarsch in Bagdad. Tanguy Viels hinterhältiger Roman – fast mehr eine Novelle – dreht allen Opfermythen den Saft ab. Viel schreibt mit dem Geschick und der Kaltblütigkeit des Krimiautors. Die Familie ist ein Hort des normalen kleinbürgerlichen Bösen: Wie hat Papa von seinem Fußballverein ein paar Millionen Francs unterschlagen? Wie hat Oma sich das Erbe eines greisen Millionärs erschlichen? Wie hat Mama die Erbschleicherin unter Kontrolle bekommen und ihr ein schönes Haus abgetrotzt? Und wie schafft man es aus diesen Schrecken, denen man seine eigenen hinzugefügt hat, nach Paris, um sich als Romanschriftsteller zu exkulpieren? Der Trick: Man braucht einen Außenstehenden aus der Unterschicht, den man als wahren Schuldigen aufbauen kann. Einen bösen Schurkenstaat, um die weltpolitischen Parallelen weiterzutreiben, der einen leider zwingt zu tun, was man zum eigenen Vorteil sowieso tun wollte. Bei Tanguy Viel agiert der Familienverband, von Schuld und Scham aneinandergefesselt, mit einem diplomatischen Geschick, der Uno und Mafia vor Neid erblassen lassen muss. Unter dem deutschen Weihnachtsbaum kann man sich in diesem Jahr kein schöneres, kein gemeineres Buch wünschen.

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