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Fall Böhmermann - Nischenstrafrecht gegen einen Nischensatiriker

Die Bundesregierung muss entscheiden, ob sie die Staatsanwaltschaft zu einem Strafverfahren gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann ermächtigt. Den zugrundeliegenden Paragrafen 103 des Strafgesetzbuches kennt sie bisher allerdings selbst nicht so genau

Autoreninfo

Daniel Martienssen studierte Jura in Frankfurt (Oder) und Berlin. Einen Abschnitt des juristischen Vorbereitungsdiensts verbrachte er in New York. Er schreibt für Cicero Online und lebt in Berlin.

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Aus Ankara werden die Töne schriller. Jan Böhmermanns Schmähgedicht sei ein „schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, heißt es vom Vize-Ministerpräsidenten Numan Kurtulmus am Montag im südosttürkischen Sanliurfa. Eine offizielle Verbalnote erreichte das Auswärtige Amt Anfang dieser Woche, in der Ankara nun doch ein Strafverlangen nach Berlin richtet, wie es der Paragraf 104a des Strafgesetzbuches in Fällen der Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten gemäß Paragraf 103 des Strafgesetzbuches  vorsieht.

Alle Versuche von Bundeskanzlerin Angela Merkel, diesem Verfahren doch noch zu entgehen, sind nun endgültig gescheitert. So versuchte sie noch in der vergangenen Woche den türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu in einem Telefongespräch zu beschwichtigen. Sie ließ gar ihren Pressesprecher Steffen Seibert in der Bundespresskonferenz verlautbaren, das Schmähgedicht von Jan Böhmermann sei „bewusst verletzend“. Ankara signalisierte, das inzwischen berüchtigte Strafverlangen ausfallen zu lassen, darüber hinweg zu sehen. Merkel konnte fast schon aufatmen.

Nicht mal die Regierung kennt diesen Paragrafen richtig


Doch daraus wurde nun nichts. In den vergangenen Tagen tobte die Debatte um dieses absolute Nischenstrafrecht: „Straftaten gegen ausländische Staaten“ – kein Jurastudent wird in seinem normalen Universitätsleben mit diesen Normen je behelligt. Dies wirkt sich anscheinend auch auf die Bundesregierung aus. Es scheint so, als ob weder das Bundesjustizministerium noch das Auswärtige Amt oder das Kanzleramt die Prüfungskriterien für die „Ermächtigung“ aus Paragraf 104a des Strafgesetzbuches derzeit benennen können.

[video:Die Böhmermann-Sendung im Original]

In der Bundespressekonferenz am Montag herrschte allseits Ratlosigkeit. In den kommenden Tagen werden die juristischen Referenten in den jeweilig beteiligten Ressorts Justiz und Außenamt sowie im Bundeskanzleramt tief ins Archiv steigen müssen, um ein Prüfungsprogramm rekonstruieren zu können. Das zeigt, wie anachronistisch diese Strafnormen inzwischen geworden sind. Von ein paar redaktionellen und sprachlichen Veränderungen abgesehen, existiert der Paragraf 103 seit dem 1. Januar 1872 in fast identischer Form im deutschen Strafgesetzbuch. Seitdem gilt er und muss nun rechtsfehlerfrei angewendet werden.

Verflixter Paragraf 104a


Welche Voraussetzungen hat denn nun dieser in kürzester Zeit zu so viel Ruhm gelangte verflixte Paragraf 104a? Neben dem türkischen Strafverlangen, das nun im politischen Berlin vorliegt, müssen zwischen dem ausländischen Staat und Deutschland diplomatische Beziehungen bestehen. Da der deutsche Botschafter Martin Erdmann in der Türkei inzwischen wöchentlich bei türkischen Ministerien einbestellt wird, bestehen hierüber keine ernstlichen Zweifel. Jüngst musste sich Erdmann für das Liedchen über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in der NDR-Satiresendung „extra3“ rechtfertigen. Weiter muss die sogenannte „Gegenseitigkeit“ verbürgt sein, bedeutet, dass der ausländische Staat, der an Deutschland ein Strafverlangen richtet, ein Pendant des Paragrafen 103 des Strafgesetzbuches im eigenen Land festgeschrieben haben muss. Und tatsächlich schützen die Artikel 337ff. des türkischen Strafgesetzbuches Angela Merkel oder Bundespräsident Joachim Gauck potenziell davor, von türkischen Satirikern öffentlich geschmäht zu werden.

Der letzte und wohl heikelste Punkt ist die „Ermächtigung“ der Strafverfolgungsbehörde durch die Bundesregierung. Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Heiko Maas müssen nun darüber befinden, ob die Staatsanwaltschaft in Mainz das Ermittlungsverfahren gemäß Paragraf 103 des Strafgesetzbuches gegebenenfalls zur Anklage gegen Jan Böhmermann führen darf. Hier weiß im Moment keiner im politischen Berlin, nach welchen Kriterien ermächtigt oder nicht ermächtigt werden darf. Die Ermächtigung müsste in jedem Fall versagt werden, wenn für jedermann klar ist, dass sich Böhmermann mit diesem Schmähgedicht nicht strafbar gemacht hat. Das ist aber nicht jedermann klar – im Gegenteil. Das Schmähgedicht erfüllt vielmehr alle Voraussetzungen, eine strafrechtliche relevante Beleidigung zu erfüllen.

Erdogans Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Mainz


Anders ausgedrückt: Hätte Ankara an Berlin bei dem harmlosen Liedchen von „extra3“ über Erdoğan ein paar Tage zuvor ein Strafverlangen gestellt, so hätte die Bundesregierung wegen offensichtlicher Straflosigkeit in dieser Sache eine Ermächtigung zur Strafverfolgung versagen müssen.

Und im Fall Böhmermann? Der ZDF-Satiriker hatte darauf spekuliert, dass es Erdoğan schlicht zu mühselig sei, sich einen deutschen Rechtsanwalt zu nehmen, der zivil- und strafrechtliche Schritte gegen das Schmähgedicht und Böhmermann selbst einleiten würde. Der türkische Präsident belehrt ihn nun eines Besseren. Unabhängig vom Verfahren nach Paragraf 104a des Strafgesetzbuches, hat Erdoğan am Montagabend bei der Staatsanwaltschaft Mainz Strafanzeige und Strafantrag wegen des normalen Beleidigungsdelikts aus Paragraf 185 des Strafgesetzbuches gestellt. Berlin hat in diesem Fall nichts zu ermächtigen, ist aber immer noch nicht aus dem Schneider. Denn der normale Beleidigungsparagraf kann nur mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe geahndet werden.

Ankara wird deshalb weiter insistieren, dass Böhmermann auch hinsichtlich des besonderen Beleidigungsparagrafen 103 des Strafgesetzbuchs angeklagt wird. Wer das „Gedicht“ und die Sequenzen drumherum gesehen hat, weiß, dass es ziemlich sicher zur Anklage kommen wird. Erdoğan als „Ziegenficker“ und Konsument von Kinderpornos darzustellen, wird nicht ohne strafrechtliche Folgen bleiben. Gleichwohl ist dies bei weitem auch kein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie es Ankara nun deutet. Böhmermann wird nur eine sehr geringe Strafe erwarten müssen, wenn das Verfahren nicht sogar unter Auflagen eingestellt wird.

Beleidigungsdelikte oft „Kleinkram“


Jeden Tag werden Beleidigungsdelikte an deutschen Amtsgerichten verhandelt. Die Strafen fallen meist sehr gering aus. Oft werden sie schon im Ermittlungsverfahren eingestellt. Staatsanwälte nennen solche Delikte auch gut und gerne „Kleinkram“. Dem Strafverfahren kann Böhmermann jedenfalls gelassen entgegensehen.

Die jetzt stattfindenden diplomatischen Verwicklungen jedoch sind das viel größere Dilemma. Erdoğan treibt Merkel vor sich her. Und am Ende müssen Merkel und ihre Minister wohl die besagte Ermächtigung aussprechen. Böhmermann konnte dies natürlich nicht in aller epischen Breite erahnen, als er – effekthascherisch und wohl auch neidisch auf seine Kollegen bei „extra3“ – Satire mit der Brechstange servierte.

Der EU-Türkei-Deal zeigt seine hässliche Fratze. „Gedichte“ von Semiprominenten und Semiintellektuellen in Nischensendern werden nun mit Nischenstrafrecht verfolgt und auf einmal zur ganz großen zwischenstaatlichen Affäre. Erdoğan kann sich dieses diplomatische Brimborium mit Merkel leisten, weil sie ihn in der Flüchtlingskrise als Türsteher braucht. Sie muss einen Regenten, der Menschenrechte, Presse- und Meinungsfreit im eigenen Land mit Füßen tritt, bei Laune halten.

Und Böhmermann? Ganz nebenbei ist er nun jenseits seiner eigentlichen Zielgruppe bei den 49- bis 99-Jährigen ein Begriff.

Hinweis: In einer früheren Fassung hieß es, die Artikel 164 bis 167 des türkischen Strafgesetzbuches schützten Merkel oder Gauck vor Schmähung durch türkische Satiriker. 2004 aber erließ die Türkei ein komplett neues Strafgesetzbuch. Seitdem ist der Passus in die Artikel 337 ff. verschoben. Der entsprechende Satz wurde korrigiert.

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