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Faktenprüfer vs. Journalist - Fingiertes Streitgespräch

Das Buch „Das kurze Leben der Fakten“ von John D'Agata und Jim Fingal will die Ehre des Journalismus retten und täuscht doch seine Leser

Autoreninfo

Bahners, Patrick

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Die Ehre einer solchen Aufmachung wird sonst den heiligsten der heiligen Texte zuteil, der Bibel oder Shakespeare. Im Zentrum der Seite in großer Schrift wenige Sätze. Oben, unten, links und rechts in winziger Schrift Randbemerkungen zu fast jedem Wort. Der Text ist ein Werk von John D’Agata, einem Professor für kreatives Schreiben. Es geht um einen Jugendlichen, der sich im Juli 2002 vom Dach des höchsten Hotels in Las Vegas stürzte. D’Agata bot den Text, der daran Gedanken über Las Vegas als die Selbstmordhauptstadt der Vereinigten Staaten knüpft, im Jahr 2003 der Zeitschrift «The Believer» an.

Den Großteil des Kommentars hat Jim Fingal verfasst, den die Redaktion mit der Prüfung des Manuskripts auf sachliche Richtigkeit beauftragt hatte. In Amerika ist «fact-checker» ein Beruf – auch wenn Fingal nicht bezahlt wurde. Fingals fortlaufende Glossierung von Un- und Halbrichtigkeiten wird gelegentlich unterbrochen durch Einwürfe D’Agatas, der sich verteidigt. Der Kommentar ist in zwei Farben gedruckt. Schwarz sind die Anmerkungen zu Aussagen, die Fingals Test bestanden haben. Der überwiegende Teil der Marginalien steht aber in der Lehrerfarbe Rot.

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Allein im ersten Satz fand Fingal fünf Fehler. «An jenem Tag, an dem der 16 Jahre alte Levi Presley von der Aussichtsplattform des 350 Meter hohen Turmes des Stratosphere Hotels und Casinos in Las Vegas sprang, verbot die Stadtverwaltung vorübergehend in 34 lizensierten Stripteaseclubs der Stadt den Tabledance, gruben Archäologen unter einer Bar namens ‹Buckets of Blood› die Überreste der ältesten Tabasco-Flasche der Welt aus und besiegte eine Frau aus Mississippi in einem 35 Minuten dauernden Tic-Tac-Toe-Spiel ein Huhn namens Ginger.»

Den Lokalzeitungen entnahm Fingal, dass keines der drei anderen Ereignisse auf den Tag des Selbstmords gefallen war. Zur Rechtfertigung dieser Manipulation der Chronologie macht D’Agata geltend, dem Publikum seien die Daten egal. «Die meisten Leser werden sich vielmehr für die Bedeutung interessieren, die sich aus der Zusammenführung dieser Ereignisse ergibt.» Vorausgesetzt ist, dass die Koinzidenz Bedeutung hat. Nietzsche, auf dessen Destruktion des Wahrheitsbegriffs D’Agata sich beruft, hat diese Überzeugung als den Aberglauben der Historiker und Kulturmaler charakterisiert: «Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein?» Dem Essayisten ist nach D’Agata nun erlaubt, die Uhr im Nachhinein umzustellen, das heißt die Koinzidenz überhaupt erst herzustellen.

Unabsehbare Weiterungen ergaben sich also schon aus der Prüfung des ersten Satzes, und so ist aus einem redaktionellen Routinevorgang ein kurioses Buch geworden, dessen Entstehungsgeschichte Harald Staun im Nachwort der deutschen Ausgabe zusammenfasst: «Fingal prüft weiter, Satz für Satz, und als er endlich fertig ist mit D’Agatas Text, sind seine Korrekturen zehnmal so umfangreich wie der Artikel. Und sieben Jahre sind vorbei.» Das liest sich wunderbar, wie ein Märchen, eine wahre Fabel von aberwitziger Gründlichkeit und trotzigem Autorenstolz im Zeitalter der permanenten Beschleunigung des Mediengeschäfts.

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Und als Jim Fingal sein letztes Gutachten zum allerletzten Satz an John D’Agata abschickte und sie nach sieben Jahren die Computer ausknipsten, regierte Barack Obama die Vereinigten Staaten und alle Welt kommunizierte über Mitteilungen mit der Höchstlänge von 140 Anschlägen. Leider stimmen Stauns Fakten aber nicht. Der Bericht, den Fingal beim «Believer» einreichte, war nicht zehnmal, sondern fünfmal länger als der Text. Und er lag nicht erst nach sieben Jahren, sondern nach einem Jahr vor. Das eigentliche Redigat konnte beginnen. Aber «The Believer» schob die Veröffentlichung bis 2010 hinaus. Der amerikanische Verlag, in dem 2012 das Buch erschien, behauptete, es bringe den Schriftverkehr zum Abdruck, der während der Tatsachenprüfung angefallen sei. Diesen Eindruck erweckt auch die deutsche Ausgabe. In Interviews haben Fingal und D’Agata aber zugegeben, dass sie das Kommentarmaterial komplett umgeschrieben haben – in derselben literarischen Freiheit, die der Faktenchecker dem Autor zum Vorwurf macht. Die Schimpfwörter, mit denen der Künstler den Besserwisser abkanzelt: alles nachträglich eingefügt. «Autor» und «Faktenchecker», das sind zwei Rollen, die D’Agata und Fingal mit dem ganzen Ernst von Profi-Wrestlern spielen.

Perfekt wird die Irreführung des Lesers durch ein Versehen des Hanser-Verlags. Am Ende druckt man noch einmal den ganzen Essay – mit der Quellenangabe «Zuerst erschienen in: The Believer, Januar 2010» und Titel und Untertitel dieser Veröffentlichung. Geboten wird dann aber nicht der Text aus dem «Believer», sondern wieder die Urversion. In der Zeitschriftenfassung hat D’Agata die dümmsten Fehler brav korrigiert und aus dem ominösen Julitag einen fatalen Sommer gemacht.

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