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(picture alliance) Autorin Angelika Klüssendorf schreibt über Kindheiten am sozialen Rand

Literatur - Expertin für harte Kindheiten

Die Schriftsstellerin Angelika Klüssendorf kennt sich aus mit harten Kindheiten und erfolgreichen Fluchtversuchen. Wie William Faulkner und Alice Munro will sie schreiben und hat doch zu einer ganz eigenen lakonisch-kunstvollen Sprache gefunden. Jutta Person hat sie in der Mark Brandenburg besucht.

Es ist die Nachtigall, die nervt – und nicht die Partymeile von nebenan. Schon toll: Die einzig ernst zu nehmende Lärmquelle ist ein Singvogel? Angelika Klüssendorf sitzt entspannt in ihrem Garten. 70 Kilometer südöstlich von Berlin könnte man sich zu hemmungsloser, romantischer Naturverherrlichung hinreißen lassen. Aber das würde nicht zur Tonlage dieser Schriftstellerin passen, die das Landleben auf eine zurückgelehnte, unpathetische Weise genießt. Morgens um halb acht spaziert sie mit ihren Hunden an Feldern und Schafen vorbei durch ein klassisch märkisches Kiefernwäldchen, danach geht es an den Schreibtisch: Jeden Tag eine halbe Seite, das ist Pflicht.

Man ahnt, wie viel eine halbe Seite sein kann, denn Angelika Klüssendorfs Romane und Erzählungen sind ebenso schmal wie sorgsam durchkomponiert. Jedes Wort sitzt, eine kunstvolle Kargheit durchzieht die Sätze. Das Lakonische dieser Literatur erzeugt einen Rhythmus, der die Hauptfiguren über sich selbst hinauskatapultieren lässt. Oft sind das verwahrloste, magere und irgendwie knabenhafte Mädchen, die in finsteren sozialen Randlagen der DDR aufwachsen. Kaputte Familien, Alkohol, Armut und Gewalt machen hier die sozialistische Norm.

Das mag zunächst nach Tristesse und Sozialpathos klingen, aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Mit fantasievoller Zähigkeit ziehen sich Klüssendorfs Protagonistinnen am eigenen Zopf aus dem Sumpf. Im soeben erschienenen Roman „Das Mädchen“ etwa ist die Mutter ein wild herumschreiendes Prügelmonster, der Vater ein Alkoholiker, dessen Biernachschub die Zwölfjährige in Netzen heranschleppt. Das namenlose Mädchen klaut, streunt durch die Hinterhöfe und kommt ins Kinderheim, reißt aber auch dort immer wieder aus. Gerade weil sie sich nie auf die Erwachsenen verlassen kann, hat sie Träume, die nur ihr selbst gehören.

Als Literatur über die DDR will die Autorin ihren Roman nicht verstanden wissen, eher als eine Art existenzialistische Fabel. „Ich könnte mir dieselbe Geschichte auch in einem Kaff in der BRD vorstellen“, sagt sie. „Für manche Mechanismen der Diktatur gab es eine Entsprechung im Westen.“ Inzwischen spazieren wir durch den gesamtdeutschen Kiefernwald und reden darüber, wie Angelika Klüssendorf zum Schreiben kam; über die DDR der sechziger und siebziger Jahre also, in der sie aufgewachsen ist. Geboren wurde sie zwar 1958 in Ahrensburg bei Hamburg, aber 1961 zogen ihre Eltern in den Osten, nach Leipzig.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über Angelika Klüssendorfs Werdegang und ihre Anfänge als Autorin.

Als Jugendliche lässt sie sich erst mal zum „Zootechniker/Mechanisator“ ausbilden: Dahinter verbirgt sich schnöde landwirtschaftliche Arbeit – Kühe melken und auf die Weide treiben zum Beispiel –, die man mit einem technoiden Wortungetüm aufwerten wollte. Auch das Mädchen im Roman lernt diesen Beruf, aber wie fast immer helfen Direktübertragungen zwischen Literatur und Leben auch hier nicht weiter. „Das Leben ist nichts als ein großer Fundus“, erklärt die ehemalige Zootechnikerin, die später auch im „VEB Starkstromanlagenbau Leipzig/Halle“ arbeitet. Und schließlich im Museum für Völkerkunde eine Stelle als Archivarin bekommt. Ein Arbeitsleben Ost, so weit.

Dann kommt der „Anschlag“: eine selbst verlegte Zeitschrift, die Angelika Klüssendorf Anfang der Achtziger mit einer Freundin gründet. Gert Neumann und andere aus der Leipziger Literatenszene sind dabei, in der zweiten Ausgabe erklärt Wolfgang Hilbig in einem offenen Brief, warum er nicht mitmacht – aber das hat ihre Bewunderung für den dichtenden Heizer nicht erschüttert. Stilistisch gesehen bewegt sich die Schriftstellerin weniger in Hilbig-Bahnen, sondern eher auf der Spur amerikanischer und kanadischer Erzähler. Schreiben „wie eine Mischung aus Alice Munro und William Faulkner“, das wäre wunderbar. „Diese Gleichzeitigkeit von Vergeblichkeit und Hoffnung, da stockt einem der Atem“, sagt sie über die Kurzgeschichten der Kanadierin Munro.
Ihr erstes West-Gedicht erscheint 1982 in der Zeitschrift Litfaß. Vom Honorar kauft sie sich – sie muss selber lachen, weil es so nach Klischee klingt – eine Levis im Intershop. Drei Jahre später siedelt sie mit ihrer kleinen Tochter in die Bundesrepublik über. Ihr Sohn wird 1991 geboren; in den neunziger Jahren lebt sie in Frankfurt mit ihrem damaligen Ehemann Frank Schirrmacher – ein Kapitel, das nicht weiter zur Sprache kommt. Davor aber liegen die mythischen Achtziger in Westberlin, und Angelika Klüssendorf redet sich in Fahrt: In der legendären Berlin Bar tanzt die Chefin Hula-Hoop auf dem Tresen, und David Bowie kann man dort auch besichtigen. Mit der Literaturszene im Westen aber sei sie nie besonders eng gewesen. Andererseits hätten sich auch die Leipziger Kollegen am „Johannes R. Becher“-Institut, der Schreibschule der DDR, in einem Code verständigt, der ihr fremd war.

Ihr eigener Code ist so verblüffend, weil er das Dunkle ins Helle treibt, ohne Optimismus auszustellen und ohne die Härte der Umgebung zu verklären. „Als die Mutter kurz die Augen aufschlägt, murmelt sie nur: Verschwinde, lass mich in Ruhe. Das sagt sie fast immer, doch diesmal beschließt ihre Tochter, dass in diesen Worten eine gewisse Freiheit liegt.“ Sehr viel später liegt das Mädchen im Gras und sieht einen Vogelschwarm nach Süden ziehen. Unten auf der Weide träumt sie sich weg: „Sie fliegt höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.“ Die Sätze schwingen nach vorne wie Lassos, und das ist vielleicht die beste Zootechnik, die man mit Literatur erfinden kann.

„Das Mädchen“ ist im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen und kostet 18,99 Euro

 

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