Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Evolutionsbiologie - Krankheiten können politische Strukturen verändern

Krankheiten können Gesellschaften und ihre politischen Strukturen überraschend verändern. Inwiefern vor allem Bakterien dafür verantwortlich sind, erforscht der Evolutionsbiologe Gunther Jansen. Ein Porträt

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Februar-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.

 

 

 

Die Hände, die die Brille zurechtrücken, müssen wir uns vorstellen in einem Eimer voller Ameisen, wie sie hunderttausendfach durch die Finger rinnen, damit die gesuchte, die schlimme Ameise, der eine Parasit, zum Vorschein komme. Die Augen, die in einen nebligen Berliner Nachmittag schauen, müssen wir uns vorstellen, wie sie in Kanada durch ein Mikroskop Garnelenlarven betrachten, deren Münder es zu präparieren gilt. Den Kopf, der voller Musik ist, weil in ihm ein Eckchen reserviert bleibt für Bach und Mahler und Luigi Nono, müssen wir uns vorstellen, wie er im kambodschanischen Kardamomgebirge einen Horizont anzielt, den die Vögel des Regenwalds laut umschwirren.

Gunther Jansen ist weit herumgekommen. Ein Globetrotter ist er nicht. Was der Evolutionsbiologe sein „nomadisches Leben“ nennt, ist Ergebnis einer unbändigen Neugier. Der Schlüsselsatz seiner Weltwahrnehmung lautet: „Die Komplexität des Seins hat mich immer fasziniert.“ Buch um Buch nährte diese Faszination schon in der belgischen Heimat, in der Kleinstadt Lommel. „Mit acht Jahren“, sagt er, „hatte ich die Jugendbibliothek ausgelesen.“ Er borgte sich von der Familie Ausleihkarten. Deren eine berechtigte zur Mitnahme von fünf Büchern pro Woche, und das war dem Vielleser zu wenig Lektüre. „Ich las morgens, ich las abends, dazwischen war ich draußen und baute Hütten oder sammelte Pflanzen.“ Sein Held hieß David Livingstone.

Die Quelle der Krankheiten
 

Der schottische Afrikamissionar suchte die Quellen des Nils. Gunther Jansen sucht die Quellen der Krankheit. Überhaupt, was sei das, Krankheit, wie wolle man Gesundheit definieren? Je länger man darüber nachdenkt, desto schwerer falle die Antwort. Die vollkommene Abwesenheit aller Symptome, die absolute Gesundheit, sei eher ein Trug- als ein Wunschbild. „Vielleicht“, setzt er hinzu, müssten wir uns von diesem Ziel verabschieden und lernen, mit kleineren Symptomen zu leben, damit uns die großen Symptome, die bedrohlichen Krankheiten und Seuchen, nicht dahinraffen. „Druck erzeugt Gegendruck.“ Den totalen Krieg gegen alles, was krank macht, könne der Mensch nicht gewinnen. Der exzessive Gebrauch von Antibiotika mache Bakterien resistent. Klüger wäre es, mit ihnen „eine Art von Dialog“ zu führen, sodass sie nicht pathogen werden.

Darum beschäftigt sich Gunther Jansen nicht mehr mit Ameisen wie zwischen 2005 und 2009 an der Universität Helsinki und auf Forschungsreisen nach Virginia, Colorado, Idaho, Arizona, Warschau, sondern mit Bakterien. Er will herausfinden, ob es in evolutionärer Perspektive Muster gibt, mit denen sich das Aufkommen großer Krankheiten erklären lässt. Am Berliner Wissenschaftskolleg sinnt er darüber nach, an der Kieler Universität forscht und lehrt er seit vier Jahren. Begreifen will er, wie Krankheiten Gesellschaften formen.

Der Peloponnesische Krieg, führt er aus, wäre womöglich nicht zulasten des höher entwickelten Athen und zugunsten von Sparta ausgegangen, hätte in Athen nicht vor 2500 Jahren eine Seuche gewütet. Heerführer Perikles und ein Drittel der Bevölkerung fielen ihr zum Opfer. Vermutlich waren es Pocken oder Milzbrand. Bakterien trugen dazu bei, die Blütezeit der athenischen Demokratie zu beenden. „Krankheiten sind in der Lage, politische Strukturen überraschend zu verändern. Das ist mein Ausgangspunkt.“ Was folgt daraus für die Politik? „Entscheidenden Einfluss“ auf unsere Art zu leben hätten die Krankheiten.

Ganz am Anfang aber waren die Bücher, die Russen und Franzosen und Deutschen, „ich las Dostojewski, Gogol und Puschkin, Flaubert und Céline, Goethe, Thomas Mann und Hermann Broch, den ‚Tod des Vergil‘“. Am Anfang war Lommel. Mit 15 Jahren wusste er, „ich muss hier weg“. Flandern war ihm zu klein geworden, er machte sich auf zu seinem eigenen Nil, um der Wissbegier neue Horizonte zu öffnen. Der 17-Jährige begann zu studieren in Gent. Biologie, Pädagogik, Wissenschaftsphilosophie. Stipendien pflasterten seinen Weg. Er war in vielen Dingen der Erste und oft der Beste. Er bekennt es nebenbei, kaum hörbar an diesem Nebeltag in der Großstadt.

Die Risiken des Forscherlebens
 

Die Garnelen, die er im kanadischen New Brunswick untersuchte, die Sozialparasiten unter den Kleinen Waldameisen, Gattung Myrmica, die er weltweit für seine Dissertation genetisch analysierte, die Reisen nach Kambodscha und Laos, die er fast mit dem Tod im Regenwald bezahlt hätte, weil er verunreinigtes Wasser trank, dazwischen die Abende der Besinnung mit Literatur und Musik, Riesling und Philosophie: Die Wegmarken eines solchen Lebens zeigen einen Menschen, der jede Antwort nur als neue Frage akzeptiert. Und der weiß, dass jeder seiner Sätze jederzeit widerlegt werden kann. „Ich habe kein Problem damit. In diesem Sinne bin ich Relativist.“

David Livingstone fand die Quellen des Nils nicht. Er starb im afrikanischen Urwald. Die Ruhr raffte ihn dahin. Bakterien führten zum Tod. Von Gunther Jansen werden wir noch hören. Er ist ein Mann von 31 Jahren.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.