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Eurovision: Tränen lügen nicht

Der dieses Jahr in Düsseldorf stattfindende Eurovision Song Contest ist ein politisches Weltwunder. Ein Autor, der an der Universität in Toronto Seminare darüber gibt, weiß warum. Über den befreienden Umgang mit historischen Traumata und das universelle Recht auf etwas „Boom Boom“.

Nach „Ein bisschen Frieden“ ist es im Hörsaal meist totenstill. Es mag nicht zuletzt an meinen Tränen liegen. Ich kann einfach nicht anders. Jedes Mal, wenn Nicole mit zitternder Stimme darum fleht, gemeinsam mit ihr „ein kleines Lied zu singen“, auf dass „die Welt in Frieden lebt“, schießen sie meine Wangen hinab. Mittlerweile warne ich meine nordamerikanischen Studenten sogar im Voraus: Bei zwei Minuten zwanzig Sekunden ins Video hinein, sage ich, muss euer deutscher Dozent wahrscheinlich weinen. Und dann erzähle ich von dem riesigen schwarz-weißen Poster, das jahrelang über dem Bett meines Kinderzimmers hing: Ein jugendliches Pärchen starrte Händchen haltend auf einen am Horizont aufsteigenden Atompilz, in dessen rauchendem Zentrum sich der Schriftzug „No Future“ abzeichnete. So war das, 1982, in den Reihenhäusern der Bundesrepublik. Genau so hat es sich angefühlt. Nein, ich schäme mich nicht.

Zeit für das studentische Referat. Ein exzellent vorbereiteter Inder erläutert per Power Point die Kernelemente von Ralf Siegels „magischer Gewinnformel“. Präsentationen wie diese werden in zehnseitige Hausarbeiten münden, mit Titeln wie „Dschingis Khan in der europäischen Vorstellungswelt“, „Sürpriz und die türkische Diaspora in Berlin“ oder „Nicole und der Nato-Doppelbeschluss – Eine Rekonstruktion“. Abhandlungen, für die ich fast ausnahmslos Bestnoten vergebe, und sei es nur, um das gezeigte Interesse an meinem zunehmend unbedeutenden Heimatland zu würdigen.

Bereits im dritten Jahr unterrichte ich diesen Eurovision-Kursus – unter wechselndem Namen – als Einführung in das zeitgenössische Europa. Denn dieser Wettbewerb ist wie ein Spiegel, der die Traditionen, Hoffnungen und Probleme des besten aller existierenden Kontinente jedes Jahr aufs Neue reflektiert. Es gibt einfach kein Ereignis, das die ungeheure Komplexität seiner Nachkriegsgeschichte dichter, eindrücklicher und zugänglicher verkörperte als der Eurovision Song Contest (ESC): 55 Jahre im Zeichen einer friedlichen Vision, das mit Abstand größte Musikfestival des Planeten, mehrere Hundert Millionen Livezuschauer, 43 teilnehmende Nationen, darunter sämtliche EU-Staaten.

In keinem anderen Erdteil wäre ein vergleichbares Event derzeit denkbar oder auch nur sinnvoll. Sollten etwa die verschiedenen Bundesstaaten der USA gegeneinander antreten? Dafür fehlt es schlicht an glaubwürdiger innerer Pluralität und Sprachenvielfalt. Ein panamerikanisches Format aber scheiterte – von politischen Spannungen einmal abgesehen – an dem tiefen Desinteresse, das amerikanische Fernsehzuschauer aufstrebenden guatemaltekischen Popsternchen entgegenbrächten. Oder wie wäre es in Asien? Zu tief die politischen Abgründe, zu zerfurcht der kulturelle Raum. Bereits Chinesen und Japaner tun sich schwer mit dem Gedanken an den Gesang des jeweils anderen, ganz zu schweigen von Indien und Pakistan, Iran und Saudi-Arabien, Nord- und Südkorea. Ein Festival wie der ESC ist nur denkbar auf einem Kontinent, der sich über alle relevanten kulturellen und sprachlichen Differenzen hinweg als ein friedensfähiger Kulturraum imaginieren will. Es ist, mit anderen Worten, nicht weniger als ein zivilisatorisches wie politisches Weltwunder!

Was für ein nationales Selbstverständnis Letten im Sinn haben, wenn sie zwei jamaikanische Reggaesänger entsenden, die weder lettisch singen, lettisch sprechen noch jemals in Lettland gewohnt haben, will ein kritischer Kanadier aus der letzten Reihe wissen? Gute Frage. Gerade osteuropäische und baltische Staaten verleihen auf diese Weise ihrem Traum nach westlicher Zugehörigkeit Ausdruck, ihrer Hoffnung auf Teilhabe am popkulturellen Mainstream. So fallen Mauern! Das erwähnte Lied hat 2003 übrigens gewonnen. Überhaupt widersetzt sich der Wettbewerb auf wundersamste Weise jeder Prognose, Expertise und Verschwörungstheorie: Adipöse Serbinnen besitzen ebenso Gewinnchancen wie satanisch verwirrte Hardrocker aus den Permafrostzonen des nördlichen Lappland. Es gilt, die Legionen moldawischer und portugiesischer Großmütter zu vergegenwärtigen, die damals per Handy Lordis „Hardrock Hallelujah“ zum Sieg verhalfen, erst dann tritt das wahre Fundament des heutigen Europa konkret vor Augen, sein einzigartiges kulturelles Kapital. Oder denken wir nur an jenen polyglotten ukrainischen Transvestiten, der den gesamten Kontinent auf Deutsch zum „Tanzen“ ermunterte. Ein befreienderer kultureller Umgang mit historischen Traumata lässt sich kaum denken. Es führt hier ohne Zweifel eine ungebrochene Linie von der subversiven Ironie des Sokrates über das weltöffnende Lachen des Erasmus, über Rabelais und Shakespeare zu den Possen von Verka Serduchka und Guildo Horn! Dieser Wettbewerb verkörpert nichts anderes als die Utopie gelebter Individualität, denn er öffnet Jahr um Jahr einen medialen Raum, in dem die Talentiertesten und Größten genauso wie die Geringfügisten und Törichsten darum wetteifern, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Weshalb – mit heißen Wangen hole ich kurz Luft – es auch kein Wunder ist, dass dieses Festival schon immer im besten Sinne „gay“ war, ist und gewiss auch bleiben wird! Heitere Toleranz, meine Lieben, europäische Toleranz!

So weit gekommen, muss ich nicht mehr verschweigen, dass auch dieses Jahr wieder zahlreiche Lieder allein schon aufgrund ihrer Titelzeile unter konkretem Idiotieverdacht stehen, wie etwa „Boom Boom“ (Armenien), „Haba Haba“ (Norwegen), „Da Da Dam“ (Finnland) oder „Ding Dong“ (Israel). Doch wer der Skepsis trotzt, entdeckt dahinter die tiefsinnige Nachhaltigkeitshymne eines finnischen Wundergymnasiasten oder den reifen Partykracher der unsterblichen Diva Dana International – zweifellos die diesjährigen Topfavoriten. Nicht zu vergessen natürlich unsere lovely Lena. Authentisch, ungeschminkt, stilsicher, garantiert drogenfrei – und trotzdem voll neben der Spur. Deutschlands Antwort auf Lady Gaga. Ach, wenn ich nur an jenen schwülen Samstagnachmittag des vergangenen Jahres denke, als wir in Toronto gebannt vor dem Laptop saßen, um ihr live die Daumen zu drücken, unsere Freudentänze … Selige Momente, an die sich meine Töchter gewiss noch in 20 Jahren erinnern werden. Also im Jahr 2030. Ob es Europa dann noch geben wird? Unser Europa, das vielstimmige, friedliebende und feierfreudige Europa des Eurovision Song Contest? Wer wollte, bei all den düsteren Wolken am Horizont, heute noch darauf wetten?

Eine letzte Meldung. Ob ich das alles denn wirklich ernst meine, mit dem Contest und dessen kultureller Bedeutung, will eine nachdenkliche Chinesin aus der vordersten Reihe wissen. Nun, sage ich, genau so ernst, wie ein Mitteleuropäer meiner Generation etwas ernst zu meinen vermag. Genau darum, um die fortwährende Auslotung der Frage, wie ernst wir uns als Europäer eigentlich nehmen wollen, gehe es ja in diesem Wettbewerb. Wieder ist es seltsam still im Saal. Und dann natürlich, füge ich eilig hinzu, auch um ein bisschen Frieden, um kleine Lieder und knappe Röcke, kurz, das universelle Menschenrecht auf ein bisschen „Boom Boom“ und etwas „Haba Haba“, um das gewisse „Ding Dong“ am Grunde unser aller Existenz.

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