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ESC - Die ewiggestrigen Wursthasser

Kolumne: Empörung. Wer sich heute ernsthaft über Conchita Wurst aufregt, der stellt in erster Linie eines unter Beweis: ein hoffnungsloses Hinterwäldlertum. Der Kreml macht es vor

Alexander Marguier

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Mit dem europäischen Gesangswettstreit ESC geht es mir wie beim ARD-Tatort: Irgendwann merkt man, dass das Leben auch ohne ganz gut funktioniert. Nichts gegen Tatort-Fans oder gegen die Anhänger der jährlichen Euro-Trash-Festspiele. Aber – und das sage ich jetzt mal so richtig oberlehrerhaft – ein gutes Buch ist auch nicht zu verachten. Beziehungsweise ein Konzert der amerikanischen Soul-Göttin Sharon Jones, die am Samstagabend zeitgleich zum ESC während ihres Auftritts im Berliner Astra ziemlich unmissverständlich klar gemacht hat, wo popkulturell immer noch der größte Hammer hängt. Nämlich in den Vereinigten Staaten. Und eben doch nicht in Armenien, Rumänien, Weißrussland oder anderen Ländern, die sich seit Jahren recht erfolgreich darum bemühen, mit stampfenden Synthie-Rhythmen, grellen Lichtorgeln und grenzdebilen Liedtexten wenigstens auf diesem Gebiet zum Westen aufzuschließen.

Das aktuelle Album von Sharon Jones heißt übrigens „Give the People what they want“ – was natürlich eine wunderbare Koinzidenz war, weil ja zum Zeitpunkt ihres Berliner Live-Acts die Bürger Europas nach dem Vorbild einer gelenkten Demokratie (das Votum stammt bekanntlich zur Hälfte von „Fachjurys“) darüber abstimmen durften, wonach ihnen schlagertechnisch der Sinn steht. Demnach ist also ein vollbärtiger Österreicher in Frauenkleidern namens Conchita Wurst der größte gemeinsame Nenner des europäischen ESC-Publikums. Musikalisch kann ich die Leistung Wursts nicht beurteilen, da ich – wie gesagt – anderweitig beschäftigt war. Aber bei diesem Wettbewerb geht es, wenn ich mich richtig entsinne, ohnehin schon immer nur am Rande um Musik, sondern vielmehr um Aussehen, Herkunft, Performance oder sexuelle Präferenzen der Teilnehmer.

Männer, die vor Mädchen mit Bärten warnen
 

Insofern ist die Kür Conchita Wursts zur Amtsnachfolgerin von Künstlern wie Udo Jürgens, Vicky Leandros oder Nicole natürlich eine hochpolitische Angelegenheit. Wobei ich im Moment noch ein bisschen darüber rätsele, worin genau die politische Aussage bestehen soll. Männer in Frauenkleidern haben ja nun wirklich schon einen ziemlich langen Bart, so dass von einem revolutionären Konzept eher nicht die Rede sein kann. Wenn jetzt also allenthalben davon gefaselt wird, Europa habe mit dieser Wahl seine „Toleranz“ bewiesen, will mir das nicht ganz einleuchten; immerhin wurde Conchita Wurst ja nicht zur Präsidentin des Europäischen Parlaments bestimmt, sondern lediglich zur Gewinnerin einer Show-Veranstaltung, die zumindest in Deutschland auch als „Schwulen-Olympiade“ bekannt ist. Bleibt die Frage, wie weit es mit der vielbeschworenen Toleranz außerhalb dieses länderübergreifenden Varietés wohl her sein mag.

Versuchen wir es also lieber andersherum: Wer sich heutzutage ernsthaft wegen einer Conchita Wurst glaubt aufregen und empören zu müssen, der stellt sein hoffnungsloses Hinterwäldlertum schon deshalb unter Beweis, weil er nicht einmal die grundlegenden Mechanismen dieses vermeintlichen Song-Contests begriffen hat. Insofern sei es dem rechtsnationalistischen russischen Politclown Wladimir Schirinowski von Herzen gegönnt, angesichts des ESC-Votums vom bevorstehenden Ende Europas zu delirieren. Wenn aber sogar der Vizepremier Dimitri Rogosin twittert, der Triumph Wursts zeige „Anhängern einer europäischen Integration, was sie erwartet – ein Mädchen mit Bart“, offenbart dies einen eklatanten Mangel an popkultureller Kompetenz.

Und das ist auch schon das eigentliche Drama Russlands: Dass es von Männern regiert wird, die vor Mädchen mit Bärten warnen.

 

 

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