- «Er war ein unmoralischer Held»
Der allergrößte Teil des Neuen Testaments, sagt der Theologe Gerd Lüdemann, ist gefälscht. Der historische Jesus passt nicht ins Bild der Kirche – dazu war er viel zu ambivalent. Ein Literaturen-Gespräch.
Literaturen Wann haben Sie das letzte Mal gebetet?
Gerd Lüdemann Gestern Nacht.
Ich kam gerade aus Amerika zurück, wo ich an der Universität von
Nashville eine Sammlung talmudischer Schriften studiert hatte.
Wegen des Jetlags lag ich wach. In solchen Momenten spreche ich ein
Kindergebet, fünfzigmal hintereinander, das beruhigt mich. Ich habe
nun einmal diese religiöse Seite. Es ist eine Art Restfrömmigkeit,
die ich nur mit großem seelischen Schaden abstreifen könnte.
Literaturen Abgestreift haben Sie aber den Glauben an das Neue
Testament, das Sie als Theologe nun seit über vierzig Jahren
erforschen. Sie sprechen von einem großen Betrug.
Lüdemann So ist es. Der
überwiegende Teil – etwa 95 Prozent – der im Neuen Testament
überlieferten Jesusworte gehen auf glatte Fälschungen zurück. Sätze
wie «Ich bin die Wahrheit und das Leben» oder «Dies ist mein Leib,
für Euch gegeben» hat Jesus nie gesagt. Und so zerfiel mir
irgendwann die Vorstellung des Herrn Jesus, die ich aus meiner
lutherischen Tradition heraus hatte. Dieses Bild eines gütigen
Mannes mit langen Haaren und im Kreise seiner Jünger. Der souveräne
Herr über Himmel und Erde, das Leben und den Tod. So ist er ja
überall präsent, in den Kirchen, auf Friedhöfen und in Wohnungen.
Vor allem aber in der Phantasie der Gläubigen.
Literaturen Aber sind denn die historischen Fakten
entscheidend? Oder lässt sich – da doch Religion per se etwas
Irrationales einschließt – nicht auch an eine Fiktion
glauben?
Lüdemann Ich
zumindest kann das nicht. Zumal die Erfindungen, die den
Glaubensinhalt des Neuen Testaments weitgehend ausmachen, ja nicht
auf gute Absichten zurückgehen. So heißt es, die Juden hätten Jesus
umgebracht, wovon beim Tod durch Kreuzigung unter römischer
Herrschaft überhaupt keine Rede sein konnte. Es heißt in den
Evangelien auch, die Juden seien die Söhne des Teufels und allen
Menschen zuwider. Das ist antike Judenfeindlichkeit. Christliche
Juden klagen ihre eigenen Volksgenossen an. Und dieses Motiv zieht
sich durch alle neutestamentarischen Evangelien und die
Briefliteratur: Aus einer politischen Absicht heraus wurden Jesus
Worte in den Mund gelegt, die er nicht gesagt hat, und Dinge
angedichtet, die er nicht getan hat. Das nenne ich Perfidie. Und,
wie gesagt: Es handelt sich hier nicht um Manipulationen, die erst
in späterer Zeit, etwa durch die Kirche, angestellt wurden. Dies
alles geht auf die Verfasser der ersten kanonischen Texte selbst
zurück.
Literaturen Woher kam diese Judenfeindlichkeit?
Lüdemann Sie hängt mit der
aggressiven Mission der ersten christlichen Gemeinden zusammen. Wer
sich dem Bekenntnis zum neuen Messias nicht anschließen wollte,
wurde als ungläubig verteufelt. Und weil die biblischen Texte erst
allmählich und über einen längeren Zeitraum entstanden sind, tragen
sie die Spuren dieses Missionsprozesses. Zum Beispiel das Gleichnis
des Sämanns: Darin sagt Jesus angeblich, nur den Jüngern sei das
Geheimnis der Gottesherrschaft gegeben; denen da draußen sei es
hingegen nur gegeben, damit sie es sähen, aber nicht verstünden.
Der ausdrückliche Sinn dieser Gleichnisrede besteht also darin,
Menschen ins Nicht-Verstehen zu führen. Aber warum? Offenbar ging
es einer bestimmten Gemeinde hier darum, ihren Misserfolg in der
Judenmission zu erklären. Diejenigen, die sich nicht hatten
missionieren lassen, werden als Unverständige und unverbesserliche
Ungläubige hingestellt. Indem solche Passagen Jesus zugeschrieben
wurden, hat es den Anschein, als hätte bereits er die Juden
verteufelt. Das ist strategisch clever, hat aber mit der
historischen Wahrheit nichts zu tun.
Literaturen Was aber bleibt angesichts dieser Fälschungen
überhaupt noch übrig? Wie sehen Sie den historischen
Jesus?
Lüdemann Alles spricht dafür,
dass Jesus in erster Linie ein Heiler und Exorzist gewesen ist. Und
das hängt miteinander zusammen, weil Krankheiten im Verständnis der
Zeit nichts anderes waren als die Besessenheit von Dämonen. Beim
ältesten in den Evangelien überlieferten Wunder handelt es sich um
eine Dämonenaustreibung, und die allermeisten Theologen halten
diese Exorzismen für historisch verbürgt. Dabei muss man nicht an
Zauberei glauben. Ich gehe davon aus, dass Jesus ein
psychosomatisches Einfühlungsvermögen gehabt hat, eine besondere
heilerische Fähigkeit, die ihm und seinen Zeitgenossen als magische
Eigenschaft erschienen ist. «Ich sah den Satan wie einen Blitz vom
Himmel fallen» – dies ist ein Jesuswort, das ich für echt halte.
Jesus ging davon aus, dass er mit dem Teufel, den er von Dämonen
umschwirrt im Himmel sitzen sah, in Kontakt treten und den
Teufelskreis durchbrechen konnte. Durch seine heilerischen
Fähigkeiten hat sich Jesus überhaupt von seinem Lehrer, Johannes
dem Täufer, unterschieden. Obwohl es über diesen viele Zeugnisse
gibt, wird kein einziger Fall einer Heilung erzählt. Als Exorzist
hatte Jesus gewissermaßen sein eigenes Spezialgebiet entwickelt.
Ich gehe davon aus, dass sich die beiden auch deshalb getrennt
haben und Jesus eine eigenständige Mission begründete.
Die Adventszeit erinnert daran, dass die Christenheit noch immer die Wiederkunft ihres Religionsstifters erwartet. Wer aber war dieser Jesus Christus?
Ein «Literaturen»-Schwerpunkt zu Weihnachten.
BiographieGerd Lüdemann, geboren 1946, ist Professor für Neues Testament und unterrichtet an der Universität Göttingen «Geschichte und Literatur des frühen Christentums». Diesen nicht konfessionell gebundenen Lehrstuhl bekleidet er seit 1999, nachdem ihn seine kritische Forschung in Konflikt mit der evangelischen Kirche gebracht hatte.
Literaturen Exorzismen und Magie, der Kontakt mit dem Teufel –
Sie betonen eher die dunklen Aspekte dieser Figur.
Lüdemann Deshalb war Jesus ja
auch zu Lebzeiten eine suspekte Gestalt. Exorzismen und Magie waren
politisch verdächtig, weshalb etwa im jüngsten, dem
Johannes-Evangelium, auch von Heilungen nicht mehr die Rede ist. Es
konnte gefährlich sein, überhaupt davon zu erzählen. Aber das war
noch längst nicht alles. Jesus zelebrierte das Kommen des
Gottesreiches, von dem er predigte, mit äußerst zwielichtigen
Leuten. Zu seinen Jüngern und Jüngerinnen gesellten sich Zöllner
und Prostituierte. Und überhaupt, man muss es sich wirklich vor
Augen führen: Das Reich Gottes wurde als Gastmahl vorgestellt –
also zelebrierte man das Kommen des Reiches durch Essen, Trinken
und Brot brechen. Zeitgenossen bezeichneten Jesus als Säufer.
Literaturen Auch hier: eher ambivalente Eigenschaften, die
nicht umstandslos einem Religionsstifter zugesprochen werden
können.
Lüdemann Jesus war eine
unstete Figur, ein Wander-Radikaler. Und natürlich missfällt das
den Kirchen, die ihr Fundament auf seiner Lehre errichten wollen.
Wenn Jesus lehrt, dass der Mensch keinen Ort hat, an dem er sein
Haupt betten kann; wenn er seine Familie verstößt, nachdem ihn
diese für verrückt erklärt hat; wenn er die Toten ihre Toten
begraben lassen will – dann sind das höchst unstete Facetten eines
widersprüchlichen Charismatikers. Jesus war ein unmoralischer Held.
Seine Perspektive auf das Leben entbehrt jeder Stabilität und
stellt alles infrage. Nicht umsonst haben sich auch die Hippies auf
ihn bezogen.
Literaturen Heute lässt sich eine große Faszination für alles
beobachten, was in der kirchlichen Lehre womöglich verdrängt oder
unterdrückt worden ist. Die Romane Dan Browns sind Weltbestseller,
das Interesse an den Geheimarchiven des Vatikans, an apokryphen
Evangelien oder der 1946 im ägyptischen Nag Hammadi gefundenen
gnostischen Textsammlung ist riesig. Ist hier ein anderer Jesus zu
entdecken?
Lüdemann Sicherlich spielt
dabei das Misstrauen gegenüber der Kirche eine Rolle, aber auch ein
echtes religiöses Interesse. Und insbesondere, wenn ich die Texte
von Nag Hammadi lese, wundere ich mich nicht über deren Erfolg.
Das ist unzensierte gnostisch-christliche Literatur – und voller
Kraft. Lesen Sie nur den Beginn des Thomas-Evangeliums: «Dies sind
die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte. Wer die
Bedeutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.»
Literaturen Was ist das für eine Figur – der lebendige
Jesus?
Lüdemann Eine Figur, die
sofort verstanden werden kann. Viel besser als der gestorbene und
auferstandene und für uns geopferte Jesus. Diese Texte, die 1600
Jahre lang unberührt im Wüstensand lagen, erzählen eine ganz andere
Geschichte. Insbesondere in Amerika gibt es inzwischen eine
Theologie, die sich nur noch mit dieser gnostischen Überlieferung
beschäftigt. Und überhaupt nicht mehr mit Paulus, nicht mehr mit
dem Opfer und dem Blut. Der Vater, der seinen Sohn opfert: Das ist
ja nach modernen Begriffen auch eine widerliche und anachronistisch
wirkende Erzählung. Deshalb wundert mich die Öffnung für andere
Formen des christlichen Glaubens nicht. Aber auch, wenn es immer
weitergeht: Jesus bleibt. Es ist immer wieder Jesus.
Gerd Lüdemann
Die gröbste Fälschung des Neuen Testaments.
Der zweite Thessalonicherbrief zu Klampen, Springe 2010.
96 S., 12,80 €
Jesus nach 2000 Jahren. Was er wirklich sagte und
Tat
zu Klampen, Springe 2004. 889 S., 44 €
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