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Entscheidungen zum Jahreswechsel - Das Grauen, das sich Silvester nennt

Kolumne: Grauzone. Kaum ist der Weihnachtsbraten verdaut, folgt das nächste Magengeschwür: die Silvesterpanik. Irgendwo zwischen Fondue und bürgerkriegsähnlichen Zuständen nimmt das Leid seinen Lauf. Und eigentlich ist und bleibt die Party jedes Jahr aufs Neue ein freudloses, überflüssiges Ritual 

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Nun ist es also wieder so weit. Weihnachten ist vorbei. Das Jahr neigt sich dem Ende. Noch ein paar Tage. Das war es dann. Tschüss, auf Nimmerwiedersehen!

Doch statt sich leise, still und heimlich vom Acker zu machen, hält das alte Jahr stets noch eine seiner schwersten Prüfung bereit: Silvester.

In der ewigen Liste der überflüssigen und bescheuerten Feste nimmt Silvester locker Platz 2 ein – gleich hinter dem Spitzenreiter Halloween. Das strotzedoofe Kürbisfest hat allerdings den kaum zu überschätzenden Vorteil, dass man ihm relativ leicht aus dem Weg gehen kann.

Anders die penetrante Jahresendparty. Schon Tage vorher rummst und kracht es an jeder Ecke. Dabei beginnt der Verkauf der Kracher erst am 29 Dezember. Woher stammen diese Unmengen an Böllern? Aus osteuropäischen Beständen eingeschmuggelt? Im Vorjahr gehortet? Eigentlich kaum vorstellbar.

So richtig startet die nervige Knallerei jedoch zwei Tage vor Silvester. Dann legen auch all jene los, die im Vorjahr ihre Vorräte verballert haben oder berechtigte Vorbehalte gegen zwielichtige Importware hegen.

Seinem ekstatischen Höhepunkt strebt der Irrsinn naturgemäß ab dem Silvesternachmittag entgegen. Und wenn es dann wirklich 0.00 Uhr ist, erreicht er in einigen Straßenzügen dieses Landes bürgerkriegsähnliche Zustände – nicht nur was die Geräuschkulisse angeht.

Schwere Entscheidungen im Silvesterstress
 

Das eigentliche Problem an Silvester ist allerdings nicht die enervierende Knallerei, sondern das Fest selbst. Spätestens wenn die Menschen aus den Sommerferien zurück sind und sich der Blick nach vorne richtet, also ungefähr ab Mitte August, kann man darauf warten, wann man das erste Mal gefragt wird: Und was planst Du so an Silvester?

Dann geht er los: der Silvesterstress. Was machen wir dieses Jahr? Eine Hütte in den Alpen buchen? Oder doch ein Apartment an der Ostsee? Wäre es nicht einfach netter zuhause, so mit Fondue oder Raclette? Aber was macht man dann am späteren Abend? Wo stößt man an? Geht man auf eine der berüchtigten Silvesterpartys? Oder pilgert man, aus einem seltsamen, von der Anthropologie noch unerforschten Trieb heraus, mit den anderen Horden zu irgendeiner Anhöhe, um frierend, mit klammen Fingern und immer auf der Hut vor Schüssen aus Signalpistolen auf das neue Jahr anzustoßen?

Schwere Entscheidung. Vor allem weil das alles im Grunde unendlich doof und lächerlich ist. Da aber alle anderen Silvester feiern und es keine Alternative gibt, kommt sie dann: die Silvesterpanik. Die Hütten in den Bergen sind natürlich schon lange ausgebucht, dito die Apartments an der See. Hilfe! Ist man wirklich der einzige Mensch weit und breit, der sich nicht schon im Spätsommer Gedanken gemacht hat, wie er den Silvesterabend verbringen will? Sind die alle irre?

Das Grauen nimmt seinen Lauf
 

Also rauft man sich mit den paar Freunden zusammen, die genauso planlos und unorganisiert waren wie man selbst und verabredet sich zum Abendessen. Doch jede Wette: Spätestens am 30. klingelt das Telefon: Man habe gehört, der Soundso würde eine Party machen, da könne man doch hingehen. Und natürlich gibt es zumeist auch noch zwei oder drei andere Soundsos, die ebenfalls eine Party geben und wo man selbstverständlich auch noch aufkreuzen könnte. So kurz vor Mitternacht, zum Anstoßen. Sei doch ganz lustig.

Außer Kontrolle gerät die Situation dann ziemlich sicher gegen 22.00 Uhr. Handys werden gezückt, es wird hektisch telefoniert, SMS jagen durch den Äther, und schließlich findet man sich auf einer dieser superöden Silvesterfeten wieder. Die gibt der Bekannte des Bekannten eines Freundes. Die allermeisten Personen dort hat man noch nie gesehen, und das Erfreulichste ist, dass man sie auch nie wieder sehen wird – selbst bei einer späteren Silvesterfeier nicht.

Um 0.00 Uhr liegt man sich mit Wildfremden in den Armen, wünscht sich ein gutes neues Jahr, was ja noch ganz anrührend ist, und spürt ziemlich genau, dass man nun vor einem Dilemma steht: Entweder man trinkt zu wenig, dann ist die ganze Veranstaltung so trist und langweilig, dass man mit einer Depression in das neue Jahr startet. Oder man trinkt zu viel. Dann wird der Neujahrsmorgen grausam sein. Beides ist höchst unerfreulich. Aber weil die Situation nüchtern kaum zu ertragen ist, nimmt die Sache ihren Lauf.

In den Bergen lässt sich Silvester verschlafen
 

Im Grunde ist man selbst schuld. Seien wir ehrlich: Es ist nichts anderes als Unsouveränität und Opportunismus, das einem jedes Jahr wieder in dieselben freudlosen Rituale treibt, auf langweilige Partys, in irgendwelche Clubs oder auf debile Silvestermeilen, wo der örtliche Dudelsender einem den letzten Glauben an die Menschheit raubt.

Aber es geht auch anders: Zum Beispiel im letzten Jahr. Da waren wir den ganzen Tag über mit den Kindern in den Bergen. Der Himmel war strahlendblau. Hunderte Kilometer Fernsicht. Es war überwältigend. Und weil Berge und frische Luft nicht nur Kindern eine wohlige Schwere verleihen, lag die ganze Familie um 23 Uhr im Bett. Nur als die Knallerei so richtig losging, bin ich noch einmal kurz aufgewacht. Was ein herrliches Silvester. Und was für ein entspannter, ausgeruhter Neujahrstag. Es war großartig.

Ihnen, liebe Leser, einen guten Rutsch und ein schönes neues Jahr!

 

 

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