Bücher des Monats - Einstürzende Sandburgen

Warum der Schöpfer der «Sphärologie» ein begnadeter Sprachkünstler und Kritiker, aber kein großer Philosoph ist

Für Hegel ging die Geschichte am 19. September 1830 zu Ende, indem er sie zu Ende schrieb. Die letzte Umarbeitung der «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften» brachte den Weltenlauf zum Abschluss. Der vom aufgeklärten Monarchen geführte preußische Beamtenstaat, in dem Hegel lebte, erschien nun als die beste aller möglichen Staatsformen. Und das Ganze der Welt war nicht länger unübersichtlich oder widersprüchlich; das Ganze war das Wahre.
 
174 Jahre sollten vergehen, bis sich dieser Coup vom Ende der Geschichte wiederholte. Diesmal ist es Peter Sloterdijk, der mit einer Denk- und Lebenshilfe, seinem dreibändigen Monumentalwerk «Sphären», der Geschichte ein ideales Ende verheißt. «Demokratie und Schwerelosigkeit» lautet Sloterdijks Endzustand, und der ist, allen Kritikern, sprich «Miserabilisten» zum Trotz, in der westlichen Welt weitgehend erreicht. Hier bildet sich der «Schaum» nach allen Regeln der Kunst; aus einzelnen Individuen, den Blasen, sind «symbiotische» Räume entstanden, «konkomfortabel», «konfrivol», «kondelirant», «konhumoristisch», «konhypokritisch» und «konhysterisch». Die Realität ist bestens «verschäumt». Was will der Mensch mehr?
 
«Schäume» heißt der dritte und abschließende Teil von Sloterdijks «Pluraler Sphärologie», in dem man dergleichen fröhliche Geschichtsphilosophie und Zeitdiagnostik liest. Was zuvor in «Blasen» und «Globen» noch mühsam in Form gehalten wurde, darf hier in alle Richtungen stieben: 
 
Gaskrieg und Surrealismus, Inseln als Lebe-Welten, Wohndesign und Architektur, Vertragstheorie, kulturelle Langeweile, eine «Theorie der Kongresse», Gehlens «Mängelwesen-Fiktion», Heideggers Metaphysik und vieles mehr werden nebeneinander gestellt und geistreich kommentiert.
 
Eine qualizierte «Schaumdeutung»? Mitnichten. Tonnage, nicht Kapazität kennzeichnet das Projekt. Alle Kapitel, so scheint es, kommen auch sehr gut ohne eine überbordende «Sphärologie» aus, von einer «Schaum-Theorie» ganz zu schweigen, zu welcher der weitaus größte Teil des Buches in einem kryptischen, um nicht zu sagen gar keinem Verhältnis steht. Gewiss, gelegentlich werden Momente – Bausteine wäre schon zu viel gesagt – einer Schaumlehre oder «Aphrologie» assoziativ eingestreut und stören dann meist ein bisschen den Lesefluss. Man muss sich aber nicht lange bei ihnen aufhalten, für die «Explikation» der Atmosphären sind diese Einsprengsel des Numinosen nicht nötig.
 
Alles kann -ismus werden Vielfältig und beliebig sind die Sinnangebote, die Sloterdijk selbst für die Beurteilung seines Werkes macht. Mal ist die «plurale Sphärologie» ein «philosophischer Roman», dann nur eine «große Erzählung». Mal ist sie nichts weniger als eine «Theorie des gegenwärtigen Zeitalters», mal gerät sie zur «erweiterten Treibhäuser-Kunde». Ein anderes Mal verspricht Sloterdijk eine «Klimaethik» und eine «Betriebswirtschaftslehre für Zivilisationstreibhäuser», die dann aber nicht kommen.
Die schillernde Vielzahl der Selbstexegesen hat den Vorteil, dass sich der Autor im Notfall immer auf eine andere Interpretation zurückziehen und seinen Kritikern Fehldeutungen vorwerfen kann – eine etwas billige Form der Immunisierung, weit weniger professionell als die selbstbezügliche Architektur der Monumentalsysteme Hegels und Luhmanns, mit denen Sloterdijk sich messen will, aber nicht kann.
 
Entsprechend ndet sich bei Sloterdijk auch keine eigene Begrifflichkeit. So zahlreich die Wortprägungen und Neologismen sind – es gibt wohl nichts, was Sloterdijk, witzig oder nervtötend, nicht zu einem -ismus, einer -kratie oder einem -top taugt –, so wenig erklären sich die Begriffe. Schuld daran ist ihr meist nur kurzlebiger Gebrauch; die Worte werden ebenso rasch eingeführt wie abgelegt. Auf diese Weise mit Begriffen geschmückt statt gebaut, kommt die «Sphärologie» über die insgesamt 2400 Seiten kaum voran, auch nicht im dritten Band, der das ganze stolze Projekt im Rückblick damit umso fragwürdiger erscheinen lässt: eine Sandburg, deren Fundamente in der Sonne bröckeln, während ihr detailverliebter Baumeister gerade ein paar neue Zier-Zinnen formt.
 
Das ist umso bedauerlicher, als alle Einleitungen und Überleitungen mit großem Elan geschrieben sind, der den etablierten Architekten wie Kant und Hegel, Habermas, Luhmann und Rawls mit kluger Kritik zu Leibe rückt. Doch was hat Sloterdijk ihnen entgegenzusetzen? In der Erkenntnistheorie ist es ein rein assoziativer Konstruktivismus, in der Ethik eine «Raum-Vielheitentheorie», «die an das Rätsel der sozialen Synthesis mit einem situationistischen, pluralistischen, assoziationistischen, morphologischen und vor allem pseudotopologischen Arsenal von Beschreibungsmitteln herangeht». Man möge sich das in der Praxis einmal vorstellen, etwa das Problem der Stammzellenforschung an menschlichen Embryonen assoziationistisch, morphologisch und pseudo-topologisch zu lösen, und man bekommt eine Ahnung vom Wert dieses Vorschlags.
 
In der Hauptsache ein Kritiker Dass Sloterdijk neben allem anderen auch eine Ethik formulieren will, ist seinem megalomanen Anspruch geschuldet, alle Philosophie in allen Teilen zu überbieten. Aufs Ganze gerechnet verliert sich das Überbieten im Detail in einem unermüdlichen «Ich sehe was, was du nicht siehst»-Spiel. Man kann Zuschnitt und Wert einer Theorie daran messen, wie viele vorgeblich trübe Funzeln sie ausmachen muss, um selbst zu leuchten. Bei Sloterdijk sind es sehr viele, man kann getrost sagen: die ganze Philosophiegeschichte bis auf Heidegger, Nietzsche und etwas zeitgenössische Kunsttheorie. Unentwegt duelliert sich der Karlsruher Ästhetik-Professor in rhetorischen Scharmützeln mit alten Geistern und Meistern. Darin besteht Sloterdijks eigentliches Hauptwerk, nicht aber in der ominösen «Sphärologie».
 
In der Kritik an den Vorgängern ist Sloterdijk allerdings selbst vor allem eins: traditionell. Ebenso wie Nietzsche schreibt er sich stolz als letztes Glied in eine philosophische Tradition ein, die gleichzeitig der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll – das Paradox nahezu aller Revolutionäre, die eitel in den Karossen einer Klasse sitzen, deren Überwindung sie feiern. Der Reiz der «Sphären» ist damit weitgehend der gleiche wie vor zwanzig Jahren jener der «Kritik der zynischen Vernunft», die Sloterdijk bekannt machte.
Inhaltlich eine etwas späte Logik- und Konsenskritik im Fahrwasser des französischen Poststrukturalismus, bestach das Werk durch höchst eigene Sprachkunst, so humorvoll und brillant, dass man die vermeintlich hauptsächliche, in Wirklichkeit eher wahllos private Gegenüberstellung von miesen Zynikern und fröhlichen Kynikern beiläug in Kauf nahm. Philosophische «Gallenbildung» könnte man das in Anlehnung an Arno Schmidts späte Stil-Metapher aus der Botanik nennen.
 
Mal wucherte Sloterdijk als dicke Misteltraube in den Verzweigungen Freudscher Gedanken, mal saugte er als Fichtenspargel den Saft aus Heideggers knorrigen Wurzeln. Das Ergebnis waren kunstvolle Gewächsbildungen, nicht selten schöner als die Wirtspflanzen. Sloterdijks Denken hatte Flair, provozierte. Doch seit den eloquent-selbstmitleidigen Jeremiaden beim Eklat um seine «Regeln für den Menschenpark», als Sloterdijk in den Ruch faschistoiden Gedankenguts geriet, weiß auch ein Jürgen Habermas: Der tut nichts, der will nur spielen!
 
Umso erstaunlicher, dass Sloterdijk aus seinem Fehler von damals so wenig gelernt hat. Der krude Biologismus, die Quelle seiner eher naiven denn gefährlichen Überlegungen zur beschriebenen «Anthropotechnik», ndet sich auch in den «Sphären». So argwöhnisch er gegen die Philosophie und ihren Logos zu Felde zieht, so gutgläubig ist Sloterdijk gegenüber den Naturwissenschaften und ihrer Metaphorik. Anstelle des genauen Studiums, so scheint es, steht die kalte Lust des Geisteswissenschaftlers, den Geist ins Säurebad der Chemie und Biologie zu werfen. Das hat wenig Zukunftweisendes, eher etwas Rückwärtiges im Geist der materialistischen Aufklärung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
 
Verrühren, Backen, Ausdeuten So verführerisch es ist, den Blick in Sloterdijks exquisite Sprach- und Gedankenküche zu werfen – auf das sorgfältig Ausgesuchte, säuberlich Gehackte und messerscharf Filetierte –, am Ende werden die feinen soziologischen, physikalischen, phytologischen, ökologischen und klimatologischen Zutaten zu einem ungenießbaren Klumpatsch zusammengebacken. Und den will Sloterdijk auch noch ausdeuten.

In einer Melange aus Hegelscher Geschichtsphilosophie und vitalistischer Naturgesetzlichkeit behauptet er einen notwendigen Fortschritt. Die allmählich erreichte Endstufe, Hegels «Geist im Zustand des bei sich seins», sind eben Sloterdijks zunehmend virtuelle Luxusgesellschaften des Westens – eine Naturteleologie übrigens, die nur Industriegesellschaften zu segnen scheint, die Dritte Welt kommt in Sloterdijks aphro-vitalistischer Geschichtsphilosophie erst gar nicht vor.

Sloterdijks Monismus der «sprechenden Schäume» als «über sich hinaus träumende Immunsysteme» mit Blickrichtung auf eine reiche, schwebende «Heiterkeit der Fülle» setzt weder der Subjektphilosophie noch dem Biologismus etwas entgegen. Die «Blasen – Globen – Schäume» ergeben keine Triade oder Trilogie, sondern lediglich eine wilde Metaphernfolge. Doch selbst auf der Bildebene gibt es nur Beziehungen zwischen Blasen und Globen sowie zwischen Blasen und Schäumen. Ein sinnvolles Bild, das Globen und Schäume vereint, fehlt. Peter Sloterdijk ist ein großer Kritiker, aber ein lausiger Architekt.

Peter Sloterdijk
Sphären. Plurale Sphärologie.  Band III. Schäume Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2004. 916 S., 29,90 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.