Bücher des Monats - Einen hab' ich noch!

Wie der engagierte Fatalist und bekennende Idylliker Peter Rühmkorf auf sein großes Werk nun noch einen lyrischen «Paradiesvogelschiß» setzt – oder was ein Fuchs im Hasenhimmel zu tun hat

Schuld war der Gaukler. Ein Puppenspieler, um genau zu sein. Der kam im Jahr 1929 durch Warstade-Hemmoor nahe der Elbe und hinterließ bei einer Pastoren­tochter nicht nur Rilkes «Stundenbuch» und Ibsens «Peer Gynt», sondern auch etwas von jenem Stoff, aus dem dann Peter Rühmkorf werden sollte. Auch dieser, so zeigte sich später, wurde ein Gaukler, wie er im Wörterbuch steht (etwa in dem der Brüder Grimm): ein Taschenspieler, Kunstspringer und Seiltänzer; ein Bauchredner, Gebärdenspieler, Bären- und Affenführer; ein Quacksalber und Marktschreier; ein Künstler.

Fast wäre er auch noch Bombenleger geworden. Doch die Gnade der frühen Geburt, eine an der Erfahrung des NS-Terrors geschulte, so scharfsinnige wie scharfzüngige Skepsis gegenüber allem Einseitigen, allem Totalitären, schließlich ein Hang zum Frei­en, Luftigen, Leichten, die poetische Neigung eben – dies alles zusammen verhinderte, dass Rühmkorf, immerhin ein Frontman der Hamburger Linken, tatsächlich zum Täter wurde. Täter wurde er trotzdem: mit Worten.

Als in der BRD gerade die US-Militär­basen explodierten, als die erste RAF-Generation in den Bau wanderte, 1972 also: da veröffentlichte Rühmkorf unter dem Titel «Die Jahre die Ihr kennt» seine «Anfälle und Erinnerungen» – ein aus Essays, autobiografischen Skizzen, Polemiken und Gedichten zusammengestelltes Manifest des engagierten Fatalismus, in dem der Linksausleger dem konservativen Zeitgeist eine Serie präziser Körpertreffer verpasste – «Schreiben als Wutanfall». Immer geistgemäß allerdings, bitte sehr.


Schreiben mit gespaltener Feder

Diese «Anfälle», unwiderstehlich noch heute, führen in ihrem forcierten Mix der Textgattungen und Schreibhaltungen jenes Verfahren vor, für das Rühmkorfs früher Wegbegleiter Werner Riegel die Bezeichnung «Schizografie» erfand. Schrift aus «gespaltener Feder», der politischen Agitation ebenso verschrieben wie dem subjektiv-lässigen Ausdruck. Für Rühmkorfs Poesie hieß das: schmähende Zeitgedichte auf der einen Seite, stilisierte Selbstbedichtung auf der anderen; und am besten beides schön dialektisch, also in einem.

In das «lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen» – so der Titel eines Essays von 1962 – passte das nicht. Nein, das sei nichts, urteilte in den frühen Fünfzigern der Rowohlt-Lektor Kurt Kusenberg: «nicht begabt», der Mann, und vor allem «nicht dicht genug, um wirklich zu dichten». Ein anderer wetterte: «Pornographie. Blasphemie. Kommunismus» – und lag damit so falsch auch wieder nicht. Nur: das lyrische Weltbild hatte angefangen sich zu wandeln. Und Peter Rühmkorf beschleunigte.


Im Marktgenuschel

1993 erhält er schließlich den Büchner-Preis; und seit dem Jahr 1999 erscheint, mittlerweile im vierten Band, die Werkausgabe. Der Weg des Peter Rühmkorf hat, auch wenn so manche Durststrecke zu überstehen war, nach oben geführt, nach ganz oben sogar. Seine Gedichtbände – allen voran «Irdisches Vergnügen in g» (1959), «Haltbar bis Ende 1999» (1979) und «wenn – aber dann» (1999) – gehören selbstverständlich zum lyrischen Kanon des 20. Jahrhunderts. In den von ihm so gern bedichteten Schoß hat Rühmkorf die Hände danach allerdings nicht gelegt. Jetzt ist erneut ein Gedichtband erschienen, unter dem Titel «Paradiesvogelschiß».

Und wieder erklingt hier der eigenartige Rühmkorf-Ton, den wir kennen und lieben, nicht zuletzt deshalb, weil dessen Eigenart paradoxerweise darin besteht, dass in ihm all diejenigen Größen der deutschen Literatur mitsingen, an denen der Dichter über die Jahre hinweg seinen Zungenschlag parodistisch verfeinert hat. Hinzu kommt das Marktgeschrei und -genuschel, das Stim­mengewirr aus Werbung und Sentenz, Schla­ger und Schlagzeile, aus poetisiertem Platt, Kalauer, Kinderreim. Das ganze «Volks­vermögen» eben, das Rühmkorf, den Romantikern folgend, subversiv aus den Zeichensystemen seiner Zeit destilliert. Dies alles verpackt in durchrhythmisierte freie Verse oder dahertrippelnde Volksliedstrophen – man könnte fast glauben, Rühmkorf sei ganz der Alte, und irgendwie ist er das auch. Doch ist er alt geworden und auch krank.

Nun gehört der gebrechliche Dichter, den es hier zwackt und dort zwickt, schon seit den Achtzigern zu Rühmkorfs Figuren-Repertoire. Aber diesmal scheint die Sache ernst, todernst: «Husten – Husten – / Das Ende kann doch nicht Husten sein, / oder Scheißen oder Schmerz / oder all so ernied­­­rigende Dinge.» Das Ende. Es ist eines der Leitmotive des neuen Bandes: mal unter der Bedrohung, das Augenlicht zu verlieren, berührend intoniert («Bilder – ehe du erblindest, / es zählt noch / was du angesichts emp­findest»), mal mit distanzierendem Witz instrumentiert: «Dies kann die Welt noch nicht gewesen / und bumms zu Ende sein. / All diese Bücher wolln ja noch gelesen / und diese Hosen aufgetragen sein.»

Doch ist das Ende auch der Riss, der die Form durchzieht – über die Hälfte der Texte dieses Gedichtbandes sind unvollendet. Auf achtzig Seiten verteilen sich mitunter nur einzelne Wörter oder Verse, meist aber knappe Strophen, sie liegen einfach nur da, schlingernd verstreut: glückliche, zuweilen auch weniger glückliche Einfälle, nicht selten ausgelöst von einem prägnanten Reimpaar. Darunter finden sich kostbare Steine, doch auch Ungeschliffenes, sperrige, lückenhafte Verse, in denen noch die Leerstellen markiert sind, die von metrisierten Silben aufzufüllen wären. Manches davon kehrt im Laufe des Gedichtbandes vollendet wieder. Vieles aber bleibt einfach nur liegen.


Weil du Lust zum Tanzen verspürtest

Dass am Ende des Buches ein langes Kapitel fertiger, im Einzelfall auch vollendeter Gedichte folgt, kann die Erschütterung, die diese unfreiwillig verlassene «Schallwerkstatt» hinterlässt, ebenso wenig vergessen machen wie die Rahmenkonstruktion, die für die Skizzen gefunden wurde. Aus dem titelgebenden «Paradiesvogelschiß» erwuchs nämlich – so erzählt es die den Band eröffnende «Ballade von den geschenkten Blättern» – ein Baum. Als dieser, in einer Angstblüte der anderen Art, sein Laubwerk verliert, steht «auf jedem Blatt ein goldener Spruch / in privater Geheimschrift geschrie­ben». Dem Erzähler geschenkt, bilden diese die dann folgenden Skizzen.

Dies ist noch einmal das Modell romantischer Inspiration: der plötzliche Einfall, der aufgelesene Witz, der die Poesie macht. Doch scheint die Konstruktion durch, mit der sich das Leiden einen Sinn, und sei es ein Hintersinn, zu geben versucht. Das Buch legt man dennoch dankbar aus der Hand. Denn immer wieder ereignet sich, wie es 1999 hieß, «eine große Geste, die du aber nicht durchhieltest, / weil du Lust zum Tanzen verspürtest». Den «Weltendreck vom Rock gestreift», schwingt der Idylliker Rühm­korf noch einmal den Versfuß: «Entschuldigen Sie, die Welt ist schön, / und muß gefeiert werden». Das Standbein im erfüllten Augenblick, das Spielbein im Poetischen, wagt er sich hinauf zu einem seiner berühm­ten Hochseilakte. Dann entstehen «Gedich­te, / atemzarter Art, / von sehr geringer Gegenwart (erhauchten Wesens)», kleine, liebeslichte Gedichte von atemberaubender Präsenz.


Letzte Ordnungen

Auch gelingt es Rühmkorf immer wieder, der Sprache eine Wendung abzutrotzen, die einem das Hirn verknoten kann: «Schrauben und Gewinde: wie ich mittels Drehung / zu mir selber finde». Für den Moment eines Verses kann er so «noch einmal völlig neu / auf die schiefe Bahn geraten». Und schließlich war dies zeitlebens sein Programm: «der scharfe schiefe Blick», das Verquere ausschielen, und ran an den Speck – «Alter, kleb die Zähne fest, / und dann wird losgebissen».

Doch ist das Klappern hier nicht zu über­hören. Vanitas hin, vanitas her, letzte Ord­­nungen stehen an: «Was hat der Rühmkorf leergeräumt / an vollgestopften Kisten – / Am Ende steht er goldgesäumt / am Himmels­tor, / und was er sich als Glück erträumt: / Dort erst mal auszumisten.» Wir aber wünschen uns, und zwar bitte hier auf Erden, noch etliche Räumarbeiten dieses Dichters. Es gibt noch einiges zu tun, bevor sich jenes Märchen erfüllen darf, das Rühmkorf einst in nur einem Satz erdachte: das Märchen «vom Fuchs im Hasenhimmel».

 

Peer Trilcke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie an der Göttinger
Georg-August-Universität.

 

Peter Rühmkorf
Paradiesvogelschiß. Gedichte
Rowohlt, Reinbek 2008. 143 S., 19,90 €

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