75 Jahre HM Enzensberger - Ein Superstar von gestern

«Von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose» – Hommage an Alexander von Humboldt, einen Bohemien des Wissens, der die Natur noch einmal als Ganzes fassen wollte

Es ist eine Inszenierung der Superlative, gefeiert als große Wiederentdeckung. Die größte Kooperation öffentlicher und öffentlich geförderter Institutionen zu einem einzigen Thema: Alexander von Humboldt. Noch nie gab es in Deutschland so viele Ausstellungen, Künstlerprogramme, Symposien, Theater-, Film- und Fernsehprojekte konzentriert auf einen Anlass. Das Auswärtige Amt ist im Boot, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Berliner Festspiel GmbH, der Deutsche Akademische Austauschdienst, InterNationes, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Deutsche Welle, das Institut für Auslands-beziehungen und das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Ein Humboldt-Lehrstuhl für Mexiko wird gestiftet, ein lateinamerikaweiter Malwettbewerb ausgeschrieben, eine Segelschiffreise auf Humboldts Spuren durchgeführt. Das Alexander-von-Humboldt- Jahr 1999 ist ein voller Erfolg.

Und doch alles nichts gewesen? Völlig unerschrocken feierte der «Spiegel» vor einigen Wochen die «Wiederentdeckung» des vergessenen Naturforschers Alexander von Humboldt; genauer die Erstbesteigung des Humboldt-Gipfels durch Matthias Matussek, Stefan Aust und Johannes Saltzwedel. Der Anlass dafür erscheint eher gering: die Neuausgabe von drei Humboldt-Werken in der Anderen Bibliothek bei Eichborn. Die «Ansichten der Natur», schon vor Jahren in der gleichen Reihe erschienen, erhalten eine neue Ausstattung. Der «Kosmos», antiquarisch (bis auf den fünften Band) weder selten noch teuer, erscheint nun aufwändig im großen Folio-Format und das erste Mal im Zusammenhang mit dem ursprünglich dazu geplanten Atlas von Heinrich Berghaus – eine bibliophile Edition.

Und: Humboldts «Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas». Sie sind zwar nicht, wie angekündigt, das «reichste Werk von Humboldts Amerika-Reise» – das ist das 34-bändige monumentale Reisewerk «Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent» –, liegen aber nun reichhaltig ausgestattet zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt vor; eine verdienstvolle Arbeit, vor allem für die Ethnologie.

Die neuen Ausgaben sind schön, sehr schön sogar. Doch was erklärt den Medienaufwand, die Plakate und den Werbefeldzug, der Goethe, Alexander Kluge, Charles Darwin, Joschka Fischer und Günther Jauch als Kronzeugen für die Bedeutung dieser Bücher aufruft und selbst intellektuell eher unverdächtige Zeitgenossinnen wie Nina Ruge im Ruch der Kennerschaft feine Weisheiten verkünden lässt: «Ein bisschen mehr Humboldt in uns – und Deutschland hätte weniger Probleme.»

Wie sähe das aus, das «bisschen mehr Humboldt in uns»? Ein Humboldt für jedermann, wie einst die Mao-Bibel oder die Mundorgel, mit sich zu tragen im Jackett für die wissenschaftlich-weltbürgerliche Fünf-Minuten-Andacht? Mal eben im «Kosmos» blättern und was Kluges über Moose und Aërolithen lesen? Und das mit diesen großen schweren Kaffeetischbüchern, in denen man ganz besinnlich über die erlesenen Drucke streicht, dem leisen Klacken der Seiten beim Umblättern lauschend, mit diesen Büchern, die man gerne vorsichtig aus dem Schuber zieht und sanft wieder zurückstellt?
 

Größer als Humboldt prangt Enzensberger

Es fällt nicht leicht, die unbestreitbaren Verdienste dieser Edition zu loben, so laut werden sie von einem Marketing übertönt, das maßlose Übertreibungen in die Welt setzt und unbedarfte Vergleiche. Zwei Fotos, Hans Magnus Enzensberger und Alexander von Humboldt, beide in gleicher Größe, zieren den Folder des Verlags. Enzensberger schaut liebevoll zu Humboldt hinüber, darunter steht groß in Rot: «… con amore». Auf beiden Bildern prangt anteilig die Vignette: «Zwanzig Jahre. Die Andere Bibliothek», so als hätten Enzensberger und Humboldt sie zu gleichen Teilen zu verantworten. Der Schriftzug der Anderen Bibliothek auf dem Umschlag der «Ansichten der Kordilleren» ist größer als der Buchtitel. Noch größer freilich prangt der Name Enzensberger auf dem Cover – erbaulich ist das nicht.

Wer ist die Person, die neben Enzensberger Platz findet und der der Verlagsprospekt nichts weniger als den «Gegenentwurf zur Heiligen Schrift» unterstellt? Die große Kampagne für Alexander von Humboldt gilt einem bedeutenden Mann, einem vergessenen Mann gilt sie nicht. Geboren am 14. September 1769 in Berlin-Tegel als Sohn eines Offiziers und Kammerherrn am preußischen Hof, verlieren Alexander und sein zwei Jahre älterer Bruder Wilhelm früh den Vater. Die Mutter spielt in Alexanders Erinnerungen kaum eine Rolle, umso mehr dagegen der Oberhofmeister Gottlob Johann Christian Kunth, der die Erziehung der Söhne übernimmt; eine eher schlechte Erinnerung, denn Alexander fühlt sich «gemißhandelt».

Er studiert an der Bergakademie Freiberg, in Frankfurt an der Oder, in Göttingen und Hamburg das Fach Kameralistik und erfährt eine naturwissenschaftlich-praktische Grundausbildung. Aus «Schloß Langweil» in Tegel entflieht er mit seinen Träumen von einer großen wissenschaftlichen Reise in die Tropen der Neuen Welt, auf die er sich seit 1793 vorbereitet. Humboldt vertieft sich in das Studium der Botanik und Mineralogie, macht eigene physiologische Experimente, wie seine Selbstversuche «über die gereizte Muskel- und Nervenfaser», seziert Tiere und übt sich im Umgang mit modernen MessInstrumenten.


Eine Reise der Rekorde quer durch Amerika

Seit dem Tod seiner Mutter im Jahr 1796 verfügt er über ein ansehnliches Vermögen. Sofort beendet er seine viel versprechende Karriere im preußischen Staatsdienst. Als der junge Mann zwei Jahre später in Paris eintrifft, hat er bereits Deutschland, Polen, Frankreich, die Schweiz, einen Teil Englands, Italiens, Ungarns und Spaniens in naturkundlicher Absicht bereist. Ungeduldig wartet er auf seine große Weltreise an Bord des Schiffes von Kapitän Thomas Nicolas Baudin. Doch zahlreiche Widrigkeiten stellen sich Humboldts Tatendrang entgegen, politische Querelen und Kriege. Sie verhindern auch den Plan, nach Ägypten zu reisen, nach Arabien und über den Persischen Golf zu den englischen Kolonialbesitzungen in Indien.

In Spanien erhält Humboldt überraschend die Erlaubnis des Königshofes für die Einreise in die spanischen Kolonien in beiden Teilen Amerikas. Der Beginn einer fünfjährigen Expedition, die Humboldt an der Seite des Botanikers Aimé Bonpland kreuz und quer durch Südamerika führen wird, durch Länder, die heute die Namen Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru und Mexiko tragen. Eine Reise der Rekorde: kein Privatmann hatte zuvor auf eigene Rechnung und allein zum Nutzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eine solche Expedition unternommen. Sechs Jahre Vorbereitung, fünf Jahre Reise und nahezu dreißig Jahre Auswertung der Forschungsergebnisse setzen ein einmaliges Zeichen.

Humboldt und Bonpland durchwandern Wüsten und Regenwälder und befahren im Kanu den Rio Apure und den Orinoko bis zum Delta in San Tomé de Guayana. Überall sammeln sie Pflanzen und Tiere, kartografieren in sengend heißem Klima und feuchten Nächten mit
Hilfe von Chronometern, Jupiter-Trabanten und Mondabständen. Eine über alles geliebte umfangreiche Sammlung physikalischer, chemischer und astronomischer Instrumente findet ihren regelmäßigen Einsatz. Drei Monate bleibt Humboldt auf Kuba, bestimmt den Längengrad Havannas, erforscht die Südküste und errichtet Öfen auf den Zuckerplantagen, die später allgemeine Verbreitung finden. Ein Plan, über Mexiko-Stadt und Acapulco zu den Philippinen und von dort aus über Bombay und Aleppo nach Konstantinopel zu reisen, scheitert an widrigen Umständen.


Nie ohne Elektro-, Baro- und Hygrometer

Stattdessen reisen Humboldt und Bonpland nach Santa Fé de Bogotá, dann nach Quito, überqueren die Quindío-Anden und bleiben ein knappes Jahr in der von Vulkanen und schneebedeckten Gipfeln geprägten Quito-Provinz – für Humboldt «die interessanteste Gegend der Welt». Die Naturforscher besteigen zahlreiche Andengipfel, darunter den Chimborazo, den damals vermeintlich höchsten Berg der Erde. Immer dabei sind Elektrometer, Barometer und Hygrometer. Die klimatologischen und geologischen Aspekte der Anden werden eingehend erforscht.

Mit dabei ist eine Crew indianischer Helfer, als Bergführer und Tiertreiber wie als Dolmetscher unersetzlich. Humboldts Verhältnis zur Urbevölkerung ist respektvoll, aber ambivalent. Während er nur sehr wenige seiner einheimischen Helfer in seinem Reisetagebuch erwähnt, weiß er doch zugleich um die ethnozentrische Fragwürdigkeit, die vielen seiner «Entdeckungen» zukommt. Die Benennung des «Humboldt-Stroms» durch den Kartografen Heinrich Berghaus wird er später entschieden zurückweisen: «Die Strömung war schon 300 Jahre vor mir allen Fischerjungen von Chili bis Payta bekannt: ich habe bloß das Verdienst, die Strömung des strömenden Wassers zuerst gemessen zu haben.»

Die Unterdrückung der indianischen Bevölkerung durch die spanischen Kolonialherren missfällt Humboldt zutiefst. Wenige Europäer zuvor haben sich so entschieden für die kulturelle und die politische Autonomie der Indio-Bevölkerung ausgesprochen wie er. Doch Humboldt ist vorsichtig genug, es sich während seiner Reise mit den spanischen Kolonialherren nicht zu verscherzen, ein Spagat zwischen der Poesie des Herzens und der Prosa der Verhältnisse. Ob Vertreter der Kolonialmacht oder der Kirche, Sklavenhalter oder Freiheitskämpfer – Humboldt versteht sich mit allen, solange die Situation es erfordert. Erst später im nachrevolutionären Paris wird er sich Luft machen, die Sklaverei öffentlich verdammen, das Selbstbestimmungsrecht der lateinamerikanischen Bevölkerung einfordern und damit die Grundlage schaffen für die Ausarbeitung der neuen liberalen mexikanischen Verfassung von 1824.

 

Sieben Argumente für die Aktualität

Die Reise, die über Mexiko und Philadelphia im August 1804 unter großem Jubel der Fachwelt in Paris endet, hat Humboldt weltberühmt gemacht. Hat sie ein wissenschaftliches Fazit, eine Moral? Sieben Argumente für die Aktualität Alexander von Humboldts führt Hans Magnus Enzensberger heute ins Feld. Ein Pionier und Vorbild modernen wissenschaftlichen Denkens ist Humboldt in mancherlei Hinsicht. Ein Vorreiter der Ökologie ist er vielleicht, auch wenn der Begriff nicht, wie Enzensberger meint, «1886 von Haeckel eingeführt worden» ist, sondern bereits 1866. Und das zweckfreie oder gar einfühlende Verhältnis zur Natur, das heute gerne mit Ökologie assoziiert wird, ist natürlich keine Humboldt-Idee, sondern reicht in der abendländischen Tradition mindestens bis Pythagoras zurück.

Auch als vermeintlich «unübertroffener wissenschaftlicher Schriftsteller» ist Humboldt zweifellos überschätzt, die neuen Leser der «Ansichten der Natur» oder des «Kosmos» werden es schnell merken. Nicht nur der harte Vergleich mit heutigen Wissenschafts-autoren, wie Jared Diamond, Stephen Jay Gould oder E.O. Wilson, lässt ihn blass und umständlich wirken – schon manch zeitgenössischer Reiseschriftsteller, wie etwa der mit Cook segelnde Georg Forster, stellen ihn erzählerisch in den Schatten.

Fragwürdiger noch als diese im Nachhinein ausgesprochenen und von Humboldt niemals in Anspruch genommenen Superlative ist die These seiner Aktualität. Männer vom Schlage Humboldts täten uns Not, proklamiert der Werbefeldzug in jeder Zeile, ein Missstand, der den Verlags-Folder angesichts heutiger Humboldt-ferner Zeiten «Armes Deutschland!» seufzen lässt. Ein «Vorreiter des modernen vernetzten Denkens», wie Roman Herzog 1999 und Enzensberger heute meinen, war Humboldt nur in eingeschränkter Hinsicht: vernetzt durch eine gewaltige Korrespondenz und ungezählte Kontakte.


Reaktionäres Lamento, bildungsbürgerliche Pose

Inhaltlich betrachtet hingegen kann Humboldts Vorstellung von der Einheit des Wissens eher als romantisch denn als fortschrittlich gelten. Schon bald nach seiner Reise hatte er zusehen müssen, wie die verschiedenen von ihm stark inspirierten Wissenschaften, die Geophysik, die Mineralogie, die Meteorologie und die Botanik, immer weniger ein «bewegtes und belebtes Ganzes» ergeben und mehr und mehr in Spezialdisziplinen fortleben; eine Erfolgsgeschichte des Reduktionismus mit enormen Forschungserträgen. Je stärker sich die Disziplinen spezialisierten, umso erfolgreicher wurden sie.

Der Wunsch nach dem Ganzen, nach der Einheit der Wissenschaften ist heute ein reaktionäres Lamento und eine bildungsbürgerliche Pose; leicht erregt sie die Zustimmung von Laien, fast niemals von Experten. In der Geschichte der Menschheit gibt es, mit Robert Musil gesagt, «kein freiwilliges Zurück.» Allenfalls die Hirnforschung erfordert heute die Kunst, den Geist in der Natur und die Natur des Geistes zusammenzudenken. Mit enzyklopädischer Rückbesinnung freilich hat dies wenig zu tun. Und aus Wissenschaft «Poesie» zu machen, bleibt heute eine ambitionierte, ästhetisch aber oft unbefriedigende Idee bildungsbeflissener Lyriker. Der «lahmen und lähmenden Stimmung», die nach Enzensberger «derzeit in Deutschland zu herrschen scheint», kommt man damit wohl eher nicht bei.

Der unermüdliche exakte Naturforscher und enzyklopädisch gebildete Polyhistor, der nach der Rückkehr in Paris seine Sammlungen und Messdaten präsentiert, ist ein Superstar seiner Zeit, nicht der heutigen. In der französischen Gelehrtenwelt im Umkreis des Musée d’Histoire Naturelle, des Hofes und der Salons war Humboldt eine feste Größe, zumindest für zwei Jahrzehnte. Unter dem Argwohn Napoleons gewinnt er viele einflussreiche Freunde und beginnt sein Reisewerk, die «Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent».

Die Vorbehalte des Kaisers gegen den Preußen sind vielfältig. Als politische Verdachtsperson lässt er ihn überwachen und bespitzeln. Stärker noch aber wiegt die Eifersucht auf das begonnene Prachtwerk, eine Konkurrenz zur «Description de l’Égypte», der wissenschaft-lichen Auswertung des Ägypten-Feldzuges und Bonapartes ganzer Stolz – die eigentümliche Rivalität zwischen einem Kaiser und einem Privatmann mit einer bezeichnenden Parallele: Hatte Napoleon den Bau des Suezkanals angeregt, so Humboldt jenen des Panamakanals.


Ein Leben für Wissenschaft und Ruhm

Humboldts Reisebeschreibung, zwischen 1805 und 1838 in 34 Bänden erschienen, bleibt ein Torso der Superlative. Das größte private Reisewerk der Geschichte, dazu das größte zeitgenössische Atlaswerk eines Kontinents. Allein 1200 Kupfertafeln zur Botanik machen es enorm kostspielig. Mehrere Pariser Verleger wird Humboldt damit ruinieren und mit der Zeit auch sich selbst. Ungerührt von seinen schwindenden Finanzen, lebt der Privatier sein Leben für Wissenschaft und Ruhm.

Noch später, als er längst wieder in Berlin wohnt und nur noch als Besucher in Paris weilt, wird er daran anknüpfen; ein Bohemien der Wissenschaft mit ungebrochenem Furor, wie in den Aufzeichnungen des jungen Naturforschers und Politikers Carl Vogt überliefert: «Morgens von Acht bis Elf sind seine Dachstuben-Stunden. Da kriecht er in allen Winkeln von Paris herum, klettert in alle Dachstuben des Quartier latin, wo etwa ein junger Forscher oder einer jener verkommenen Gelehrten haust, die sich mit einer Spezialität beschäftigen, und zieht diesem die Würmer aus der Nase. Was er so ergattert, weiß er trefflich zu benutzen – entweder in seinen Schriften, oder in seinen Gesprächen.» Ein Mann der Wissenschaft, ein Mäzen und ein Salonlöwe, der fein beobachtet und zynisch kommentiert, obgleich er die meiste Zeit selber redet: «Jeden Abend besucht er wenigstens fünf Salons und erzählt in jedem dieselbe Geschichte in Varianten.»

Nur eine einzige große Reise wird der rastlose Naturforscher noch machen, im Alter von sechzig Jahren; eine komfortable Russland-Expedition, großzügig finanziert und staatsoffiziell glänzend organisiert. Das Ziel: die Erforschung der Bodenschätze des Ural, des Altai und der Kaspi-Senke. Humboldt wird es in gewohnter Manier weit über die Maßen erfüllen. Ein wagemutiges Abenteuer, der Südamerika-Reise vergleichbar, ist diese mit insgesamt 12.000 Pferden ausgeführte Großexpedition nicht.

Ein Anachronismus im 19. Jahrhundert

Obwohl Humboldt die Auswertung der Reise anderen überlässt, finden sich zahlreiche Erkenntnisse der Expedition im «Kosmos», seinem Alterswerk, wieder. Das Werk, unvollendet wie die große Reisebeschreibung, beginnt er im Alter von 75 Jahren in Berlin. Das Projekt ist ehrgeiziger als alle wissenschaftliche Anstrengung zuvor: «Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufglimmt, muß neben den Thatsachen hier verzeichnet werden.»

Wissenschaftlich betrachtet ist dieser Totalitätsanspruch, der Versuch, ein Ganzes zu schaffen, das in der exakten Forschung längst verschwunden ist, in der Mitte des 19. Jahrhunderts anachronistisch. Positiv gesagt besitzt die Idee der romantischen Naturphilosophie – eine einheitliche Naturauffassung – in Humboldts Kosmos ihr ehrenvollstes Denkmal. Kritisch betrachtet konnte man das Werk mit solchem Erfolg wohl nur im provinziellen Berlin schreiben mit seinem gewaltigen Nachholbedarf in Sachen progressive methodische Naturforschung. In Paris, wo Humboldt zuvor gelebt hatte, gab es mit dem Musée d’Histoire Naturelle und der Académie des Sciences das modernste Forschungszentrum der Welt mit Dutzenden auf ihrem Gebiet führenden Spezialisten. Obwohl Humboldt mit diesen Leuten in regem Briefwechsel stand und sie gerne besuchte, war er gleichwohl nur Zuschauer.


Das Leben in Berlin: eine Niederlage

Was ihm blieb, war das Fördern von Talenten in Berlin. Tatsächlich machten die von Humboldt protegierten Christian Gottfried Ehrenberg und Gustav Rose, vor allem aber der Physiologe Johannes Müller die Berliner Akademie der Wissenschaften der Pariser Akademie mindestens ebenbürtig, die seit dem Tod Georges Cuviers verflachte.

Humboldt trug alles zusammen, was er erlebt und gemessen hatte, was er hörte und was er las – und das war überaus viel. Wie jeder andere hat er sich dabei manchmal geirrt, keineswegs «nie», wie Enzensberger jüngst im ZDF sagte. Manche wichtige Entwicklung hat er nicht wahrgenommen: in der Physiologie vor allem, was ihn Zeit seines Lebens die romantische Vorstellung einer «Lebenskraft» bewahren ließ. Für einen Menschen verständlich, und nur dem «weltbesten Deutschen», wie der ZDF-Moderator im Enzensberger-Gespräch meint, unverzeihlich.

Doch wer trägt schon die Verantwortung für den Spuk, den sich die Nachwelt ausdenkt? So gesehen ist die illustre Kampagne mit Polit-Profis, Popstars, Poeten, Propheten und Professoren, die Berlin in Humboldts Namen und zum Nutzen manch Anderer veranstaltet, nur ein weiteres Kapitel im schillernden Verhältnis zwischen der Stadt und ihrem zu weit vom Stamm gefallenen Apfel. Das letzte Drittel seines Lebens, immerhin zweiunddreißig Jahre, verbringt Humboldt notgedrungen in seiner Vaterstadt. Den Alltag als eine erfüllte Gelehrtenexistenz zu sehen, ist späteren Generationen vorbehalten.

Im Vergleich zum Salon- und Akademieleben in Paris ist die Berliner Existenz eine Niederlage. Humboldts Lieblingswort in seinen Berliner Tagen ist «öde». Die Umgebung, «geziert durch Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder», ist «öde und staubbedeckt», die «kleine, unliterarische und dazu überhämische Stadt» «intellektuell verödet». «Hier ist alles grau und dunkel und ungenießbar für mich», schreibt er 1836 nach dem Tod seines Bruders. «Sandig, öde, gemütlos, stets von einer nüchternen Gegenwart bedrängt», so sieht er seine Tage.

Humboldts Spott und seine Abneigung gegen die Vaterstadt sind verständlich. Auf einen Weltbürger wie ihn hat Berlin nicht gewartet; eine zu groß gewordene Kleinstadt, autoritär regiert in der Blütezeit der Restauration, illiberal und intolerant, kulturell zweitrangig gegenüber den Metropolen der Zeit wie Paris oder London, wo «Männer von Talent» bald und dauernd Anerkennung finden. «In Berlins nebuloser Atmosphäre, die den Gesichtskreis ringsum verschleiert, … kann davon nicht die Rede sein.»


10.000 Briefe, geschrieben auf dem linken Knie

Humboldts Crux ist seine finanzielle Abhängigkeit, die ihn an den preußischen Hof bindet. Hofzeremonien sind für den Kammerherrn Pflichttermine, ebenso die gesellige Runde als Vorleser des Königs. Mit kalter Lust hat Otto von Bismarck, einer der gewichtigsten unter seinen Verächtern, Humboldts Auftritte am Hofe geschildert. Der Naturforscher habe gewöhnlich vorgelesen, «oft stundenlang – eine Lebensbeschreibung von einem französischen Gelehrten oder einem Baumeister, die keinen Menschen als ihn interessierte. Dabei stand er und hielt das Blatt dicht vor die Lampe. Mitunter ließ er es fallen, um sich mit einer gelehrten Bemerkung darüber zu verbreiten. Niemand hörte ihm zu … Die Königin nähte in einem fort an einer Tapisserie und verstand gewiß nichts von seinem Vortrage. Der König besah sich Bilder – Kupferstiche und Holzschnitte – und blätterte möglichst geräuschvoll darin, in der stillen Absicht augenscheinlich, nichts davon hören zu müssen.»

Bismarcks sarkastische Szenerie mag stimmen. Dennoch war Humboldt keine verschrobene Figur, wie der spätere Reichskanzler nahe legt. Nicht nur seine «Kosmos»-Vorlesungen in der Sing-Akademie sind große Erfolge. Gleich zu Anfang seiner Berliner Zeit probiert er eine Wasserleitung zur Säuberung der Rinnsteine aus. Er schafft geomagnetische Mess-Stellen, plädiert erfolgreich für den Neubau der Sternwarte und für ein meteorologisches Institut in Berlin. Er fördert den noch jungen Berliner Zoo und den Botanischen Garten und reformiert die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Ölgemälde und Federzeichnungen, vor allem Darstellungen der Tropenwelt, verdanken ihre Gegenwart in Berliner Museen dem Einfluss Humboldts. In seiner letzten Wohnung in der zweiten Etage in der Oranienburger Straße 67 empfängt und verfasst er zehntausende Briefe in alle Welt, auf dem linken Knie geschrieben, wie einst im Regenwald, und mit entsprechend schiefen Zeilen.

1859, im Jahr seines Todes, lässt er sich so noch einmal malen, weißhaarig, in feinem Tuch, ein Notizbuch auf dem Knie, hockend vor schneebedeckten Andengipfeln: das anrührende Bild eines alten Mannes vor der Kulisse seiner Jugend. Die Trauerfeier, ein pompöser Staatsakt an der Spree, wird überschattet durch die Ausschreitungen unbekannter Störenfriede. Ein Tumult bricht los, bevor die Beisetzung am nächsten Morgen «still und ländlich» vonstatten geht. Eine letzte bittere Bestätigung des greisen Kosmopoliten. In Berlin, hatte er geschrieben, habe man vor nichts Achtung und verneige sich nur, um sich die Langeweile zu vertreiben.

Nun also verneigt man sich in Berlin, Hans Magnus Enzensberger ist es geschuldet, ein weiteres Mal vor Alexander von Humboldt, unter einem Spruch von Günther Jauch, überlebensgroß gemalt auf den seltsamen Plakaten der Frau Greno am Kronprinzenpalais Unter den Linden. Man schaut auf, küsst und trennt sich unter seinem Bild, wartet auf ein Taxi, isst ein Würstchen, oder lässt den Hund das Bein heben.


Richard David Precht, freier Publizist und Autor, lebt in Köln. Zuletzt erschien sein Roman «Die Kosmonauten».

 

Alexander von Humboldt
Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung
Ediert von Ottmar Ette und Oliver Lubrich.
Die Andere Bibiliothek bei Eichborn, Frankfurt a. M. 2004. 944 S., 99 €

Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Ediert und mit einem Nachwort von Oliver Lubrich und Ottmar Ette.
Die Andere Bibliothek bei Eichborn, Frankfurt a. M. 2004. 450 S., 69 €

Ansichten der Natur
Mit wissenschaftlichen Erläuterungen und sechs Farbtafeln nach Skizzen des Autors. Die Andere Bibliothek bei Eichborn, Frankfurt a. M. 2004 (Neuausgabe). 512 S., 33 €

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