lesen: Journal - Ein Schelm, der Gutes dabei denkt

Juri Rytchëu erzählt ein letztes Mal, wie sein Volk der Tschuktschen dem Fortschritt durch Verweigerung dient

Du schlägst jetzt die letzte Seite dieses Buches auf», heißt es in der Nachbemerkung. «Für mich jedoch ist es die letzte Seite nicht. Ich könnte mein ganzes Leben an diesem Buch fortschreiben und werde es auch tun.» Kurz nach Abschluss dieses Lebensrückblicks in alphabetisch geordneten Kapiteln hat der 78-jährige Juri Rytchëu, der einzige bekannte Intellektuelle aus der russischen Tschukotka, tatsächlich noch ein allerletztes Kapitel geschrieben, das hier in vielerlei Hinsicht schon anklingt: Im Mai 2008 ist er in Petersburg gestorben.

Rytchëus atmosphärisch verdichtetes Abschiedsbuch ist sehr viel mehr als ein ethno-
gra­fisches Kompendium über die Gebräuche eines kleinen Volkes am Polarmeer, nämlich eine erzählerisch brillante Feier des Lebens im Augen­blick der Wahrheit, die Krönung seines breiten Œuvres. Die dreiundsiebzig augenzwinkernden Miniaturen dieses Buches, das der Autor selbst «eine Art Reiselexikon» nennt, reichen von «Automobil» über «Wahlen», «Klima», «Mathematik», «Beerdigung», «Preis» und «Sex» bis zur «Elektrizität». Sie thematisieren Grunderfahrungen des Lebens und der Moderne, wobei die Perspektive im Wortsinne exzen­trisch ist. Auf den ersten Blick scheint das große Staunen über die Segnungen der Zivilisation im Vordergrund zu stehen, wenn etwa ein Auto «wie ein lebendiges Zauberwesen» wirkt. Der polyglotte Rytchëu, in der Welt der indigenen «Luorawetlan» ebenso zu Hause wie in jener der «Tan­gitan» (wie hier alles Fremdländische heißt), bedient gezielt Erwartungshaltungen und präsen­tiert genüsslich, was primitiv anmuten mag: die blutige Robben- oder Eisbärenjagd oder die Sitte, Kadaver roh zu verzehren; ein beson­derer Leckerbissen seien halb verdaute Mollusken im Magen eines erlegten Walrosses. Wie das Kulina­rische, so die Hygiene: Bevor die Russen die Banja brachten, habe man sich allenfalls «Gesicht und die Hände mit frischem Urin abgerieben».


Lieblingsspeise: kaltes Robbenauge

Andererseits könnten die Hinweise darauf, welche Worte im Tschuktschischen für überflüssig erachtet werden, an ein paradiesisches Urvolk denken lassen. Vor der Sowjetzeit waren hier weder Hausmeister noch Präsidenten bekannt, weder Korruption noch Miliz. Auch sei es nicht als ehrlos empfunden worden, fremden Seeleuten die Töchter und Ehefrauen zu vermieten. Die so entstandenen Kinder wurden behandelt wie die eigenen. Doch man täusche sich nicht. Was wir hier vor uns haben, ist nicht einfach Exotismus oder Verklärung, sondern ein waschechter Schelmenroman. Rytchëu errichtet einen Vorposten der bauernschlauen Intelligenz am Polarkreis, ein Basiscamp, von dem aus wir unsere Expedition beginnen – und die führt schnurstracks in unsere Welt zurück. Nur sieht die plötzlich sehr anders aus. Nur einmal ist der Erzähler beispielsweise einem «echten, lebenden Imperator» begegnet. Gemeint ist nicht etwa François Mitterand, den er auch früh traf, sondern Haile Selassie, der ehemalige Kaiser Äthiopiens. Die Herrschergeste, rohes Rind zu servieren, kann unseren Helden, dessen Leibspeise «das kalte Robbenauge» ist, natürlich nicht beeindrucken. Und so registriert er lediglich, dass der Nachfahre der Königin von Saba von extrem kleinem Wuchs ist, was er durch «eine riesige Militärschirmmütze» zu kaschieren versucht. Erkennt man in diesem kläglichen Gestus nicht die Mehrzahl der Weltenlenker wieder?


Bei den Galliern Sibiriens

In der Naivität verbirgt sich stets eine pikarische Infragestellung der vermeintlich so zivilisierten Welt. So erreicht die moderne Nachrichten­industrie Rytchëus Heimatort Uëlen in Form einer lokalen sowjetischen Zeitung mit kleinem Makel: «Alle Neuigkeiten, die die Zeitung mitteilte, waren längst bekannt! Welchen Sinn hatte das Nachrichtenblatt bloß?» Daneben sind es immer wieder die Absurditäten der russischen Bürokratie, die von den Tschuktschen, diesen Galliern Sibiriens, fröhlich unterwandert werden: Weil die freundlich-überheblichen Russen Kolchosen so gern mochten, gründete man eben eine solche bei den Verwandten auf der Nachbarinsel. Dass diese inzwischen zu den USA gehörte und ein internationaler Skandal drohte, das ließ man die Sorge der kalten Krieger sein.

Am listigsten aber ist dieses Universal-Alphabet da, wo es die selbstverliebte Wissenschaft auflaufen lässt. So beharrt ein Archäologe darauf, ein «Relikt der typischen alten Architektur der Beringstraße» entdeckt zu haben, obwohl ihm der Erzähler schwört, es handele sich bloß um die Behausung des ehemaligen Heizers der Schule. Gegen Ende des Buches lesen wir, wie der berühmte Schamanismusforscher Kenin Lopsan einst Schauspieler des Nationaltheaters Tuwa angeheuert habe, um – gegen hohes Honorar – einer europäischen Wissenschaftlerin das echte Schamanentum vorzuführen, welche darauf «einen ganzen Zyklus wissenschaftlicher Artikel veröffentlichte». Über alldem schwebt versöhnlich das weise Gelächter des weit gereisten Erzählers, dem auch die Komik in der eigenen Tradition nicht entgeht, wenn etwa tschuktschische Namen Bedeutungen wie «Gesalzener Hund» oder schlicht «Kot» haben. Eine der größten Liebeserklärungen ans gedruckte Wort besteht wohl in jener Anekdote, in der Zeitungslektüre und Erektionskollaps zusammengebracht werden: Die Geliebte bemerkt, dass der Liebhaber die ärmliche Hütte mit Zeitungen ausgekleidet hat und schließt beim Akt nicht die Augen, sondern beginnt zu lesen und entschwindet allmählich  in jene andere Welt, in der es keine letzte Seite gibt. 


Juri Rytchëu
Alphabet meines Lebens
Aus dem Russischen von Antje Leetz.
Unionsverlag, Zürich 2010. 380 S., 22,90 €

 

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