- Ein kaum erträgliches Kunstwerk
Seelenschau und Intellektuellen-Tratsch: Fritz J. Raddatz’ skandalumwittertes Diarium ist ein einzigartiges Dokument für die Mit- und Nachlebenden. Autobiografie
Nach dem Empfang beim Bundespräsidenten entbrennt der Kampf ums Taxi. «Ich bin eine Berliner Institution!»: So will sich der Schauspieler Otto Sander den Wagen sichern – doch Fritz J. Raddatz schlägt ihn mit «Und ich bin eine internationale Institution!» aus dem Feld und rast als Erster in die Nacht. Auf fast tausend Seiten hat diese internationale Institution nun vorgelegt, was sie zwischen 1982 und 2001 an Positionskämpfen im Kulturbetrieb erlebt hat – und was sie im tiefsten Inneren bewegte. Legenden rankten sich um diese Notizen; im Tagebuch beschreibt Raddatz lustigerweise, wie er früh mit Verlagen über eine Veröffentlichung verhandelt und wie er seine Aufzeichnungen Frank Schirrmacher («ein hungriger Wolf») zu lesen gibt, der begeistert ist: «Nennen Sie mich bitte Ihren Freund, Sie waren und sind mein Vorbild.»
Jeden Tag eine Zurückweisung
Die nun mögliche Lektüre einer aus Persönlichkeitsschutzgründen
gekürzten Fassung übertrifft alle Erwartungen. Wer sich auf dieses
hemmungslos offenbarte Leben einlässt, begibt sich unweigerlich
selbst in einen Rauschzustand, bei dem auf Enthusiasmus und
Verzückung Erschöpfung, Ekel und schwerer Kater folgen. Champagner
scheint denn auch das in diesem Tagebuch am häufigsten verwendete
Wort zu sein. Kein Zweifel: Der 1931 geborene Raddatz, 1958 aus der
DDR in den Westen geflohen, alsbald langjähriger Cheflektor bei
Rowohlt, von 1977 bis 1985 dann Feuilletonchef der «Zeit», hat als
Kritiker und Autor die deutsche Kulturgeschichte nach 1945
mitgeprägt wie wenige andere sonst. So wie Raddatz im Porsche,
später Jaguar ständig auf der Überholspur durch die Lande heizt, so
atemlos liest sich das auch. In New York bei Susan Sontag, in Paris
bei Cioran, nach London zu Verleger George Lord Weidenfeld –
heimatlos bleibt der Unstete gleichwohl überall, auch in Hamburg,
Nizza oder auf Sylt. Umso mehr freut er sich, wenn Umberto Eco ihm
«Raddatz, Raddatz!» entgegenruft, was ihn überrascht: «Wüßte nicht
zu sagen, woher wir uns überhaupt kennen.» In Venedig lernt er 1994
den todgeweihten Harold Brodkey «zu spät im Leben» kennen: «Liebe
auf den ersten Blick». Erinnerungen an Nächte mit Rudolf Nurejew
und James Baldwin tauchen auf, und man wird durch zahlreiche
Rückblenden erst recht gespannt auf eine Fortsetzung mit seinen
noch in Marbacher Archivkellern lagernden Tagebüchern aus der Zeit
vor 1982.
Doch dieses so glanzvolle, austerngesättigte Erfolgsleben mit
Kunstsammlung ist als Protokoll ein einziger Klagegesang.
«Eigentlich bin ich schon tot, leergeliebt?», weiß der Diarist, der
1987 arg verfrüht das Abtreten seiner Generation diagnostiziert:
«Fühle mich wie ein gestrandeter Wal.» Stets sieht sich Raddatz
als nicht gewollter Außenseiter, registriert höchst empfindlich
jede scheinbare Zurückweisung – und davon gibt es in seinen Augen
täglich eine. Niemand erkundigt sich nach ihm oder bedankt sich für
seine üppigen Geschenke, Freund Günter Grass nicht mal für die
Ausrichtung des Geburtstagsfestes. Er beklagt den «kindlichen
Nuckelflaschen-Egozentrismus meiner Umgebung» und saugt selbst
äußerst kräftig. Man kann es Raddatz nie recht machen – aber gut,
so sieht es bekanntlich auch in den bedeutendsten Tagebüchern
aus.
Sein größtes Trauma in diesem Zeitraum ist die Ablösung als Feuilletonchef im Jahr 1985: ein unerschöpflicher Quell für enthemmte Tiraden, die man so heftig noch wohl kaum je gelesen hat. Vor allem zielen sie auf Helmut Schmidt, den «kulturlosen Spießer» und dessen «grausliches Oberlehrergequatsche», der zudem als «zahnraffend-bissiger Mann» über die NS-Zeit «lügen» würde; sowie auf die «ganz verlogene» Marion Gräfin Dönhoff: wahlweise eine «dumme Herrenreiterin», «Inge Meysel des Journalismus» oder ein «nicht-nazistisches BDM-Mädchen». Sein Verhältnis zur «Zeit» ist ein Psychodrama, das der hochbezahlte, dennoch immerfort stöhnende Raddatz in zahllosen Szenen ausmalt.
Eine lächerliche Figur
Natürlich ist eine solch verstörend-faszinierende Suada oft
abstoßend. Der präzis böse Blick des Autors trifft alle: Walter
Jens «schamlos, ein Charakter wie ein Bürstenhändler»; Hans-Georg
Gadamer ein «Schwafler mit peinlich-banalen Läppischkeiten»;
Siegfried Unseld «heringshändlerhaft schlawinernd», stets aufs
Neue die Buchmesse: «nur alte Gespenster, Mumien aus Madame
Tussauds». Allerlei Intimitäten plaudert er aus, die Tränen von
Grass am Telefon, als dieser von einem Verriss Marcel
Reich-Ranickis erzählt, die offene Ehe der Kempowskis sowie die
Affäre zwischen Ulla Hahn, Dichterin West, mit Stephan Hermlin,
Dichter Ost. Doch bei alledem entsteht reichlich Komik, zumal
Raddatz auch sich selbst nicht schont: «Ich bin eine lächerliche
Figur.» «Kann man nach Tschernobyl noch Schubert spielen?», fragt
er sich also am Klavierabend und notiert ein «gutes Gespräch über
Heidegger», den er nie gelesen hat, und zwar mit, man glaubt es
kaum – Freund Grass! Sechs Monate später trifft er einen Pariser
Redakteur: «Werde nächste Woche in seiner Heidegger-Sendung
auftreten.» Fritzeflink kennt eben keine Scheu. Raddatz weiß, dass
er selbst zu jenem lästernden Intrigantenstadl voller Hochstapler
gehört, als den er unsere kulturellen Deutungseliten
inszeniert.
Hellsichtige Charakterisierungen und großartige Szenen finden sich
zuhauf: ein Besuch beim alten Paul Bowles in Tanger beispielsweise,
ein «Ledertreffen» in einer scheußlichen schwulen Kellerbar, was
ihn auch nicht glücklich macht, oder ein bizarres «arte»-Interview,
das er, Claude Lanzmann, Bernard-Henri Lévy und Pierre Nora mit dem
bedrohten Salman Rushdie führen – vier nervöse Diven und ein Star.
Sein bundesrepublikanisches Panoptikum füllt er mit genauen
Porträts: durch Höhen und Tiefen sein Freund Günter Grass, der
stets scheiternde, verkokste Dichter Thomas Brasch, die grotesken
Anrufe Rolf Hochhuths, der eitel-redliche Gelehrte Peter Wapnewski,
der selbstgefällige Enzensberger. Immer wieder erschüttert ist
Raddatz vom greisen Rudolf Augstein, «im Alkohol und Puff
versunken, abgesunken zur Bedeutungslosigkeit, eine Witzfigur jeder
Party»: «Was bliebe von Augstein, zöge man seine Millionen ab?» Und
vielleicht seine finsterste Diagnose: «Er hat es versäumt, sich
rechtzeitig umzubringen.»
Alles Zickzack
Politik kommt erstaunlich wenig vor, für Reflexionen bleibt kaum Zeit. Die Wiedervereinigung und deren Nachwehen in der Debatte um Christa Wolf und die DDR-Intellektuellen aber treiben Raddatz heftig um. Sofort stürzt er sich in die Schlacht, beobachtet sehr genau den Osten. Immerhin erscheint ihm im Traum Willy Brandt, der ihn in die SPD-Führung holen will: «Ohne Leute wie Sie geht es nicht.» So betroffen man viele Seiten über seine Gefühlswelt und viel privates Unglück liest, das man auch mitempfindet: Der allzu häufig angestimmte Klagegesang über Nichtigkeiten verhindert, dass dieses Tagebuch fortan mit Harry Graf Kessler, Thomas Mann e tutti quanti in einem Atemzug genannt werden kann. Das überdimensionale Leiden an der Gegenwart und an sich selbst («bei mir alles Zickzack, durcheinander und unlogische Diskontinuität: ein neuer Nutria-gefütterter Mantel, aber innen zitternd») findet bei Raddatz nicht die wahre Form.
Aber ist
dieses wilde Wuchern nicht womöglich doch die einzig passende Form
für Raddatz? Uns verschafft es jedenfalls einen tiefen Einblick in
eine zerklüftete Seele, die ihre Wunden zeigt, um sich auf diese
Weise zu schützen: «Warum geht in meinem Leben alles nur per Kampf,
per Druck?» Natürlich ist er mit seinem 70. Geburtstag nicht
zufrieden: «Ich war SICHER, etwas vom Bundespräsidenten zu hören»,
was nicht passierte und dem Autor wiederum seine
«Selbstüberschätzung» vor Augen führt. Raddatz’ bizarres
Außenseitergefühl («ich sitze nun zwischen allen Stühlen»)
irritiert auf Dauer ebenso, wie es herleitbar ist aus frühen
Prägungen, den Verletzungen eines vorwiegend Männer liebenden
Mannes.
Für die Mit- und Nachlebenden ist dieses Tagebuch trotz allem
ein einzigartiges Dokument und wie die Tagebücher von Peter
Rühmkorf, Walter Kempowski, Martin Walser und zuletzt auch Grass
ein Beleg dafür, dass eine Epoche allmählich zur Historie wird.
Momentan noch mögen viele Seiten überraschend trivial wirken: die
geistige Bundesrepublik als munterer Reigen ohne Tiefgang. Doch
diese Lesart wird sich mit zunehmendem Abstand ändern. Wie sehr
heute bereits eine anarchische Gestalt wie Raddatz fehlt, wird
einem bei der Lektüre schmerzlich bewusst. Die prominenten
Tagebuchschreiber jedenfalls schreiben zwar viel übereinander, was
Raddatz kurioserweise häufig beklagt und gleichwohl permanent
betreibt – aber manchmal sorgen sie auch vor, wenn es zu weit geht:
Nach einem gemeinsamen Abend lässt Kempowski Raddatz am Morgen
wissen, dass dieser doch bitte nichts über die mitgeteilten
Eheprobleme in seinem Tagebuch notieren solle – was dieser auch
weitgehend brav befolgt. Der Feuerwerker unter Deutschlands
Intellektuellen konnte manchmal auf Knalleffekte verzichten.
1990 entdeckt er in Hubert Fichtes Tagebuch-Manuskript «ein
einzigartiges Sammelsurium von Gemeinheiten, Lügen oder auch
bösartigst-voyeuristisch notierten wahren Begebenheiten», bis hin
zur Größe von Raddatz’ Geschlechtsteil («die er übertreibt – mit
der Sucht aller Schwulen gibt es bei ihm NUR Riesenschwänze»).
Mancher wird bei der Raddatz-Lektüre ganz ähnlich empfinden – und
ihn sich hoffentlich zum Vorbild nehmen: «Aber ich verbiete keine
Bücher.» Denn das Tagebuch dieses abenteuerlichen Herzens ist nicht
nur exhibitionistische Seelenschau. Vielmehr ist es ein kaum
erträgliches Kunstwerk, das einer vergangenen Epoche ihren Spiegel
vorhält. Wer es aushält, kann darin zudem einiges über sich
entdecken.
Fritz J. Raddatz Tagebücher. Jahre 1982–2001
Rowohlt, Reinbek 2010. 944 S., 34,95 €
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