Bücher des Monats - Ein Kanzler in gelben Gummistiefeln

Warum Michael Kumpfmüllers Versuch, das politische Personal der Berliner Republik zu Romanhelden zu machen, aller Ehren wert ist – und doch leider scheitert: an mangelndem Mut

Im ersten Satz liegt immer eine Botschaft. Der erste Satz legt den Autor bereits fest. Wir wissen also, was uns erwartet, wenn wir lesen: «Selden mixte sich gerade einen Drink, als die Nachricht kam.» Da assoziieren wir mit «Selden» gleich Philip Marlowe. Oder wenigstens Heinz Drache in einer frühen deutschen Edgar-Wallace-Verfilmung. Harte Männer in Schwarzweiß. Etwas Filmisches liegt in diesem Beginn, etwas Drehbuchhaftes, und gleichzeitig wird der Ton der Reportage angeschlagen: Direktheit, Nähe zum Gegenstand.

Mit der Zeit wird jedoch klar: Wir sind hier nicht einfach in einem Krimi. Mi­chael Kumpfmüller will mehr. Selden – seinen Vornamen werden wir nicht erfahren – ist nämlich Innenminister seines Landes, wir befinden uns im Zentrum der Macht. Die konkreten Ortsbestimmungen «Deutsch­land» oder «Berlin» werden zwar nie genannt, es gibt ständig leichte Verschiebungen unseres gewohnten Koordinatensystems, aber es handelt sich offenkundig um einen Roman über die aktuelle politische
Situation. Man kann die Szene sogar etwas genauer einkreisen: Manche Anspielungen und Konstruktionen verweisen entfernt auf die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, ohne dass es sich hier um einen Schlüsselroman handeln würde, ohne dass man einzelne Figuren direkt zuordnen könnte.

An der Regierung ist die Sozialdemokratie. Der Kanzler – hier «Premier» genannt, wohl um die Sache in eine allgemeinere europäische Dimension zu heben – heißt «Nick» und trägt gewisse Züge unseres gewesenen Medienkanzlers; er ist ein Instinkt-Politiker, einer, der unberechenbar und plötzlich die Richtung ändern kann. Innenminister Selden hat, obwohl er erst um die fünfzig ist, eine ähnliche Vergangenheit wie Otto Schily. Ursprünglich Jurist, verteidigte er zunächst linke Revoluzzer und soziale Außenseiter, als «strenger Legalist», wie es einmal heißt. Die Affäre Seldens mit der Magazin-Journalistin Hannah lässt ein bisschen an die Sache mit Doris Schröder-Köpf denken; die gelben Stiefel, die der Regierungschef bei einer Hochwasserkatastro­phe trägt, erinnern an effektvolle Auftritte bei der Oderflut; und eine Szene ruft  das Atten­tat einer Psychopathin auf Oskar Lafontaine wieder ins Gedächtnis («die Halsschlagader nur um wenige Zentimeter verfehlt»). Kumpfmüller schöpft direkt aus der Reali­tät, also aus den Polit-Bildern in den Köpfen.


Rebellen agieren wie Schablonen

Der Roman erzählt im Wesentlichen von einer Krise Seldens, einer politischen und auch einer privaten. Die allgemeine Lage spitzt sich zu. Es beginnt mit Streiks, die man zunächst nicht sonderlich ernst nimmt, die sich aber zusehends ausweiten. Auch die Studenten werden plötzlich zu einem Faktor. Explosiv wird es, als soziale Randgruppen wahllos Autos, Läden und Bankfilialen in Brand setzen – unkontrollierbare Unruhen in den Vorstädten, ausgehend von vornehmlich türkischen und arabischen Immigranten der dritten Generation. Hier stan­den offensichtlich die französischen Aufstände der letzten Zeit Pate; der Auslöser – Polizisten erschießen zwei Jugendliche in einem illegal gefahrenen Auto – ist der gleiche wie jüngst in Paris.

Erzählt wird dies in kurzen, realistischen Sequenzen, immer aus der Sicht einer der Figuren, mit häufigen Perspektivwechseln. In diesen Perspektivwechseln spielt der Autor mit der Verwirrung des Lesers – man weiß anfangs häufig nicht, wer gerade agiert, und wenn eine am Roman-Beginn namenlose Journalistin hundert Seiten später als «Hannah» spricht, braucht man eine Weile, um den Zusammenhang herstellen zu können.

Solche Unklarheiten und Unschärfen gehören zum Programm, zu den filmischen Einstellungen dieses Textes, zu seiner drehbuchartigen Anlage und Schnitt-Technik. Gelegentlich wirkt es aber wie ein Selbst­­zweck, vor allem vor dem Hintergrund des Erzählten. Denn dieses arbeitet mit den gewohnten Bildern und Typologien. Der In­nen­minister und sein persönlicher Referent. Die Frau dieses Referenten, die schwan­ger ist. Die Figuren von «unten»: drei Studenten mit den Namen Tick, Trick und Track, die tatsächlich nicht viel mehr als Comic-Figuren sind – sie haben die Funktion, die Rebellion darzustellen, wirken aber wie Schablonen. Mania («die slawische Kurzform von ‹Maria›»), die psychisch gefährdete junge Frau in ihrem Umfeld, hebt sich nicht allzusehr davon ab, ebenso wie Tarsa, deren Vater aus dem Iran stammt und die unvermutet, in einer Protest-Performance, das Fanal einer Selbstverbrennung setzt. Am ehesten hat noch «Rubber» individuellere Züge: Er agiert zunächst als Anführer einer Aktionsgruppe und hat später, die Haare sauber geschnitten und im Anzug, als Mitarbeiter eines Abgeordneten das Ohr an der linken Szene. Auch er ist jedoch vor allem eine «typische» Figur.

Die «Politik», wie sie in diesem Roman in Erscheinung tritt, überrascht keineswegs. Man kennt sie bereits aus diversen Seite-drei-Geschichten und Fernsehauftritten. Der Innenminister, der Regierungschef: so haben wir sie uns schon immer vorgestellt. Das inoffizielle Treffen mit den Gewerkschaftsbossen in einem schmuddeligen italienischen Lokal mit hervorragender Küche: als wären wir schon selbst einmal dabei gewesen. Die Regierenden analysieren pragmatisch die Lage, aber es ist von vornherein klar, dass sie Gefangene von Sach­zwängen sind. Es gibt keine Alternative, und an frühere «Ideale» wird zwar ernsthaft, aber vergeblich erinnert.

Vielleicht ist es bezeichnend, dass eher abstrakte Mächte wie die Wirtschaft in diesem Roman gar keine Rolle spielen. Das «Kapital» kommt nicht vor, obwohl Selden und Nick mit derlei Interessenskonflikten am meisten zu kämpfen haben müssten. Wir erleben nur die ohnmächtigen Politiker, die idealtypischen Gewerkschaftsbosse und die suggestiven Aktivisten und Randalierer vom gesellschaftlichen Rand: letztlich ein ziemlich überschaubares Setting.


Das geheime Thema ist der Tod

Die Sprache des Romans versucht allerdings, beileibe nicht so plakativ zu sein wie die Figuren und ihre Darsteller. Die Szenegröße Rubber, die selbst an einem Roman schreibt, drückt es einmal aus: Die Kunst besteht im Weglassen. Kumpfmüller entwickelt seine besten Szenen, wenn er dicht an den Personen bleibt und kammerspielartige Situationen in Großaufnahme zeigt. Als Selden und die junge Journalistin Hannah ein paar Tage am Meer verbringen etwa: eine Zeit des fragilen Glücks, aber ohne falschen Ton, eine Inszenierung des Atmosphärischen, Indirekten. Oder der ungewohnte Moment, als Hannah zum ersten Mal als embedded journalist in einer Regierungsmaschine mitfliegt. Die Absicht Kumpfmüllers, die Politik selbst zu einem Thema zu machen, sie als ernsthaften Gegenstand in einem Gegenwartsroman unterzubringen, ist aller Ehren wert und hebt ihn über etliche Fingerübungen und literarische Konsumartikel hinaus. Aber es fällt auf, dass er dabei zu wenig riskiert.

Dem Autor waren sein Plot und die dafür gefundene Sprache offenkundig selbst zu wenig. Das merkt man an den dreimal eingestreuten, bedeutungsvollen «Chören»: hier sprechen einzelne gesellschaftliche Grup­pen in einem schlagworthaften Unisono, ob Personenschützer, Fernsehleute oder Islamisten. Diese anspruchsvolle Form, die Anrufung des antiken Dramas, wirkt aber klischeehaft und deplatziert und kann nicht verdecken, dass die inhaltliche Aussage des Buches eher dünn und erwartbar ist.

Noch problematischer wird es durch den äußeren Rahmen: Ein Prolog und ein Epilog sollen das Ganze auf eine höhere Stufe heben. Im Prolog erfährt Selden vom Tod seiner Tochter Anisha bei einem Flugzeugabsturz. Die Dramatik, die hier suggeriert wird, löst sich jedoch im Grunde in nichts auf, für das Romangeschehen spielt dieses Unglück so gut wie keine Rolle. Auch wenn die verzweifelte SMS der Tochter während des Absturzes, eine «Nachricht an alle», dann einen pathetisch-politischen Romantitel hergibt.

Im Epilog, Jahrzehnte nach der eigent­lichen Handlung, irgendwo gegen Mitte des 21. Jahrhunderts, wird der greise Selden dann von seinem Sohn und dessen Geliebter besucht, und diese heißt zufällig eben­falls Anisha. Das wirkt ungeheuer ambitioniert – es schlägt den Bogen zurück zum Anfang, und als ein geheimes Thema dieses Buches wird der Tod annonciert –, aber insgesamt wirkt dieser Einfall wie hilflos drangepappt. Er weist wohl darauf hin, dass der Autor dem, was er in diesem Roman erzählt, nicht ganz getraut hat.

 

Helmut Böttiger ist Autor und Kritiker und lebt in Berlin. Zuletzt erschien «Wie man Gedichte und Landschaften liest. Celan am Meer».

 

Michael Kumpfmüller
Nachricht an alle
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 352 S., 19,95 €

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